Inwieweit kann man von Zäsuren in der Geschichte des historischen Erzählens bzw. in der Geschichte der Auseinandersetzungen mit dem historischen Erzählen sprechen? Der Zweite Weltkrieg stellte nicht nur in den europäischen Neuordnungen nach 1945 eine für die Formen historischen Erzählens bzw. des Erzählens von Historie wesentliche Zäsur da. Geschichte und hier insbesondere die in den blutigen Vordergrund gerückte Zeitgeschichte aus unmittelbarer Erfahrung galt hinlänglich als nicht erzählbar im Rahmen bis dahin gängig gewesener narrativer Strukturen. Bekanntester Ausweis dafür ist Adornos provokantes Diktum am Ende seines Aufsatzes Kulturkritik und Gesellschaft (1949/51) – mit diesem klinkt er sich in die Frage ein, inwieweit sich Historie, Gegenwart und Literatur verschalten lassen (dürfen):
Je totaler die Gesellschaft, um so verdinglichter auch der Geist und um so paradoxer sein Beginnen, der Verdinglichung aus eigenem sich zu entwinden. Noch das äußerste Bewußtsein von Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich selbst bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation.
Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft. In: Kulturkritik und Gesellschaft, Bd. 1: Prismen. Ohne Leitbild. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, p. 11-30, hier p.30
Es geht weniger um das Ende der Gedichte, sondern vielmehr um das Ende der zu verwertenden Gemütlichkeit. Der Gegenentwurf Adornos war einer, der sich bereits mit der Dialektik der Aufklärung angedeutet hatte. Klar ist: er relativierte späterhin die Unmöglichkeit, nach dem industrialisierten Massenmord lyrisch tätig zu sein (gerade wegen der Kunst und ihrer Notwendigkeit der Aporie); genauer gesagt zielte er weniger auf die Pointe hin sondern suchte den historischen Zusammenhang in einem Nachdenken über Ästhetik und deren Bedingungen hereinzunehmen:
Während die Situation Kunst nicht mehr zuläßt – darauf zielte der Satz über die Unmöglichkeit von Gedichten nach Auschwitz –, bedarf sie doch ihrer. Denn die bilderlose Realität ist das vollendete Widerspiel des bilderlosen Zustands geworden, in dem Kunst verschwände, weil die Utopie sich erfüllt hätte, die in jedem Kunstwerk sich chiffriert.
Adorno, Theodor W.: Die Kunst und die Künste. In: Kulturkritik und Gesellschaft, Bd. 1: Prismen. Ohne Leitbild. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, p.432-453, hier p.452f.
Cf. weiters: »Den Satz, nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben, sei barbarisch, möchte ich nicht mildern; negativ ist darin der Impuls ausgesprochen, der die engagierte Dichtung beseelt.« (Adorno, Theodor W.: Engagement. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt/Main: Suhrkamp 41989, p.409-430, hier p.422)
Kunst, die anders als reflektiert gar nicht mehr möglich ist, muß von sich aus auf Heiterkeit verzichten. Dazu nötigt sie vor allem anderen, was jüngst geschah. Der Satz, nach Auschwitz lasse kein Gedicht mehr sich schreiben, gilt nicht blank, gewiß aber, daß danach, weil es möglich war und bis ins Unabsehbare möglich bleibt, keine heitere Kunst mehr vorgestellt werden kann.
Adorno, Theodor W.: Ist die Kunst heiter? In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt/Main: Suhrkamp 41989, p.599-606, hier p.603
Und Adorno verschärfte seine Forderung nach Theoretisierung und ableitbarer Erkenntnis wie Handlung hinsichtlich der Frage, ob sich überhaupt noch leben lasse:
Das perennierende Leiden hat so viel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse […].
Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Frankfurt/Main: Suhrkamp 61990, p.355
In jedem Fall beschäftigten seine Vorhaltungen für Jahrzehnte die Nachkriegszeit und ihre Literaturgeschichtsschreibungen. (Dies ist weniger eine Behauptung denn vielmehr eine Feststellung.) Hier wäre die Verlaufsgeschichte nachzuweisen, hierher gehörte zwingend eine Darstellung der tatsächlich umfassenden Wirkung des Adornitischen Diktums für Wissenschafter, Schreibende, Geistesritter sonderzahl im deutschsprachigen Raum – und das eben weit über die Frage nach Lyrik hinaus. Imre Kertész hat etwa sehr eigen das nochmals aufgegriffen, wenn der Bruch der Erzählhaltung und der Perspektive in dem Moment gesetzt ist, in dem im »Roman eines Schicksallosen« der Hauptfigur klar wird, was es mit den Schornsteinen in Auschwitz auf sich hat. (Dass der Autor dem Verf. gesprächsweise diese Beobachtung nicht nur bestätigte, sondern ausführte, sollte nicht zwingend gegen deren Richtigkeit gewendet werden müssen.) Selbstverständlich lässt sich erzählen davon, wie die Verwaltung des Massenmords funktioniert.
Von Adorno und seinen Fragestellungen ließe sich zu – ausgerechnet! – Georg Lukács eine provisorische Brücke schlagen. Auch und gerade für die Literatur. Über die könnten dann beispielhaft hin- und herüberrücken diejenigen, die es allesamt auf je eigene Weise mit der Historie hatten, es wissen und etwas ausprobieren wollten, das in den 50er, 60er und 70er Jahren neu war und neue Möglichkeiten verhieß: Arno Schmidt, Hans Henny Jahn, Ror Wolf, Ludwig Harig und Walter Kempowski, Helmut Heißenbüttel und ein paar andere, wie Wolfgang Koeppen, Uwe Johnson et cetera. In Österreich wären gewiss die Wiener Gruppe und ihr Umfeld, Thomas Bernhard, Gerhard Fritsch oder auch Elfriede Jelinek anzuführen. Und gegen all diese lässt sich wiederum trotz unterschiedlichster Verbindungen und Eingemeindungen dann vielleicht die Gruppe 47 samt ihren Programmen, Tagungen, v.a. auch ProtagonistInnen ansetzen, die es eigentlich noch mal relativ traditionell versucht hat bzw. haben; gewissermaßen als braves Parallelprogramm zum PEN-Klub und Auffangplattform für die gescheiterten Suchen nach neuen Erzählformen, ums jetzt mal entsprechend platt festzustellen. Doch soll diese Brücke hier nicht weiter belastet werden. Arbeiten wir lieber mit Medien und Prothesen, Giftgasgrabenkrämpfen und der V2.
Denn: Sowohl Marshall McLuhan als auch Friedrich Kittler gingen für den Bereich der Kulturkritik einen anderen Weg. Der eine kam über Schreib- und Kunstavancen, die Konvertierung zum Katholizismus und seine kritische Sicht auf die Werbebranche. Der andere hatte überhaupt einen entscheidenden Vorteil auf seiner Seite: Freud/Foucault/Shannon/Turing und eben auch McLuhan (der wie Kittler seinen Nietzsche im Tornister mit sich führte) hatten ausreichend Werkzeuge zur Verfügung gestellt, um den Versuch zu wagen, die Medien und ihre Techniken von allerlei humanistischen Zuschreibungen freizulegen. Die medial bedingten Standardisierungen, Normierungen und insgesamt Zurichtungen unserer Zivilisation erwiesen sich auf dem Wege der Erkenntnisbildungen jedoch als beschreibbar. Darin waren sich McLuhan und Kittler einig. Und sie begannen, kurzum, zu erzählen. Beide gelangten zu ihren je spezifischen Stilistiken, den rhetorisch teils brillanten Zuspitzungen und Vereinfachungen. Und sie erzählten nolens volens auch davon, dass alle Äußerung, mithin auch jedwede Form von »Erzählung«, bereits medial zurechtgeschliffen sei, bedingt durch Material, Kriegstechnologie, Konsumvertrottelung – davon, dass dies eine Realität sei, die auch für die Zukunft sich ansetzen lasse. Die Rückgriffe auf Zeitgenössisches und Vergangenes waren Projektionsmaschinen für ihr historisches Erzählen in das Morgen hinein, dessen Medien sie als Transmissionsriemen begriffen. Gerade indem sie begannen, die Unmöglichkeit eines nicht medial beeinflussten Erzählens darzulegen, bereiteten sie einen medienhistorischen Kanon neuen Zuschnitts vor. Die zunehmenden Möglichkeiten umfassender Verschaltungen bedurften eines neuen Erzählens, abgesehen von der prinzipiellen Unmöglichkeit, erzähltechnisch vor die Weltkriege des 20. Jahrhunderts zurückzugehen. Unsere Gutenberg-Galaxis haben sie mittlerweile beide verlassen und sind uns in die Turing-Galaxis vorausgegangen. Die Frage stellt sich, wer ihnen mit welchem Narrativ welch medialen Zuschnitts dorthin gefolgt sein wird.
[…tbc…]