Zur Frage, wozu sich seit mehr als 15 Jahren Kultur- und Medienwissenschafter:innen, Philolog:innen und Philosoph:innen zumindest einmal jährlich treffen, um Kapitel für Kapitel Hermann Melvilles Roman Moby-Dick durchzuarbeiten, überdies allesamt meinen, dabei dem Programm eines Historisch-spekulativen Kommentars verpflichtet zu sein, haben die mit das alles verursacht haben Markus Krajewski, Harun Maye und Bernhard Siegert in der Neuen Rundschau 02/2012 (123. Jg.), S. 7–13, Auskunft gegeben. Seitdem erscheinen dort Ausgabe für Ausgabe zwei oder mehr derartige Kommentare. In Auszügen lautet das Programm wie folgt:
1. Das Projekt
Seit 2006 trifft sich eine Gruppe von Kulturwissenschaftlern jährlich mit dem Ziel, jedes der 135 Kapitel von Moby-Dick samt der Paratexte, also die Exzerpte zu Beginn des Romans, Epilog, Titel usw., zu kommentieren. Das Projekt eines »historisch-spekulativen« Gesamtkommentars fragt dabei nach den Gründen für die enorme Bedeutung von Moby-Dickfür die Selbstbeschreibungen unserer Kultur und nach den Ambiguitäten und der Zerrissenheit des Symbols in Form eines weißen Wals, den es in allen sieben Weltmeeren zu jagen gilt. Die Herausforderung, die der Roman an seine Leser stellt, lässt sich zweifelsohne als anspruchsvoll einordnen. In der kapitelweise vorgehenden Lektüre, die letztlich den gesamten Text erschließen wird, Geht es denn noch nicht um disziplinär sauber eingerastete Stellungnahmen von Experten, sondern manchmal eben so um die Demonstration einer experimentellen Lesart wie zuweilen um die Präsentation einer wichtigen Quelle zum Verständnis einzelner Stellen oder einer Figur im Zusammenhang des Romans. Der Kommentar adressiert daher ausdrücklich nicht nur die Fachwissenschaft, sondern alle Leser.
Die Komplexität des Textes spiegelt sich dabei auch in der Weise seine Entstehung, die von widrigen Umständen geprägt war. In einem Brief an Nathaniel Hawthorne vom Mai 1851 schreibt Melville: »In etwa eine Woche gehe ich nach New York, werde mich dort in einem Zimmer im dritten Stock vergraben und wie ein Sklave an meinem ›Wal‹ weiter schuften, während er schon durch die Druckerpresse läuft. Das ist für mich der einzige Weg, das Buch jetzt noch fertig zu stellen«. Und dann, rund zwei Monate später, am 29. Juli wieder an Hawthorne: »Der ›Wal‹ ist erst zur Hälfte durch die Presse; denn die enervierende Saumseligkeit der Drucker, die widerwärtige Hitze und der Staub jenes babylonischen Ziegelofens namens New York haben mich zurück aufs Land getrieben, um das Gras zu fühlen – und darin liegend das Buch zu beenden, wenn es mir vergönnt ist.«
Vor dem Horizont einer »Politischen Zoologie« ließe sich der Roman in den Blick nehmen als der Austrag eines Konflikts zwischen erstens dem emblematischen Tier (dem Leviathan), zweitens dem Klassifikations-Tier der Wissenschaften (als Bibliotheksphantasma) und drittens dem Tier als schwimmender Rohstoffquelle der amerikanischen Walfangindustrie. Dass der Roman bis heute seine Leser konsterniert, hängt wohl auch mit der teilweise grotesken Art zusammen, in der Melville immer wieder diese in der Moderne sich ausdifferenzierenden Figuren des Tiers überblendet.
2. Die Methode
Im Gegensatz zu den bereits vorliegenden philologischen Kommentaren der Werke von Herman Melville (zum Beispiel die Northwestern-Newberry Edition) folgt unser Vorhaben einer komplementären Zielsetzung, was nicht zuletzt mit der Bezeichnung »historisch-spekulativ« markiert ist. Dementsprechend geht es nicht darum, in Frontstellung zu den verdienstvollen Leistungen der Melville-Forschung zu rücken. Vielmehr arbeiten wir darauf hin, neben der Analyse und Weiterführung einzelner Leitgedanken der jeweiligen Kapitel vor allem andere, weniger werkimmanente Lesarten zu dem monströsen Roman beizusteuern, ganz im Geiste eines Unter-Unterbibliothekars, der für die Wünsche eines wissbegierigen Lesers immer neue Bücher und abweichende Deutungen herbeischafft.
Ein historisch-spekulativer Kommentar ist keine philologische Unternehmung im klassischen Sinne, welche die Entstehungs-, Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte eines Text festhält und in einem Stellenkommentar Erläuterungen von Namen, Begriffen, Fremdwörtern, Zitaten und literarischen Einflüssen bietet. Nur im konkreten Zusammenhang eines Kapitels, aber keineswegs systematisch oder mit Verweisen auf alle Parallelstellen im Roman, wird ein bestimmter Begriff oder ein Zitat diskutiert.
Gemäß der methodischen Herkünfte unserer Kommentatoren aus der Philologie, Philosophie und kulturwissenschaftlichen Medienforschung bezeichnet »historisch« zum einen die reflektierende Lektüre der im Roman zu erschließenden Quellen. […]
»Es gibt manche Unternehmungen, bei denen ist eine sorgsame Unordnung die beste Methode«, verlautbart Ishmael zu Beginn des 82. Kapitels »Ruhm und Ehre des Walfangs«, was unschwer auch als Melvilles Metakommentar zu seiner eigenen Methode zu verstehen ist. Und dieser Direktive einer »careful disorderliness« folgt auch die Zusammenstellung unserer Kommentare, die keiner spezifischen Systematik unterliegt, besteht die Vorgabe unserer Treffen doch einzig darin, ein neues, bis dato noch nicht bearbeitetes Kapitel zu kommentieren.
Zum anderen, und darin liegt das »spekulative« Moment unseres Projekts, geht es mehr noch darum, ein anderes, indirektes Quellenkorpus und auch theoretisches Neuland zu erschließen, insofern die Deutungen analytisch wie ihrerseits theoretisierend ein Wagnis eingehen, zum Beispiel durch Hinzuziehung von Materialien und Theoremen, die Melville nicht zur Verfügung stehen konnten, sei es, weil sie ihm nicht bekannt waren, sei es, weil sie erst später entstanden. Zugleich geht es aber auch darum, die einflussreichen Gedankenfiguren im Text selbst zu aktualisieren, etwa durch die Aufnahme und Weiterführung der wichtigsten Rezeptionslinien für eine kulturwissenschaftliche Theoriebildung. Mit anderen Worten, unsere Kommentare atmen einerseits Bibliotheks- statt Seeluft, andererseits erweisen sie sich getrieben von der Lust, diesem anspielungsreichen Text weitere Assoziationen hinzuzufügen.
[…] Unser Kommentar verfolgt keine einheitliche Methode oder Theorie, dennoch greifen die Beiträge bevorzugt auf Wissensarchäologie, Literatur- und Kulturgeschichte sowie Theorien des Politischen zurück. Es wird nicht von zentralen Leitbildern oder Motiven her gelesen, die den Roman angeblich durchziehen und zusammenhalten. Auch engagierte Aktualisierungen sind nichts das Ziel – Moby-Dick und die Finanzkrise, Moby-Dick und die Globalisierung, Moby-Dickund das Integrationsproblem etc. Vielmehr ist den Problemstellungen nachzuspüren, die der Roman selbst aufwirft. Wenn sich daraus aktuelle Bezüge ergeben, so ist das eher der Persistenz der Probleme geschuldet als der Zeitgenossenschaft der Kommentatoren.
(Markus Krajewski, Harun Maye, Bernhard Siegert: Moby-Dick – Ein historisch-spekulativer Kommentar. In: Neue Rundschau, H. 02/2012 (123. Jg.), S. 7–13, hier S. 8–12)