Am 13. Mai 1917, einem Sonntag, seit knapp drei Jahren befindet sich die Monarchie in einem (späterhin so nummeriert:) Ersten Weltkrieg, wird Arthur Schnitzler seinen 55. Geburtstag im engsten Familienkreis vorfeiern: »Blumen von O., den Kindern, mäßig gelungene Bilder; auch Lebensmittel.–«, notiert er später in seinem Journal. (Der Tagebuch-Eintrag ist bereits rein formal besehen bemerkenswert, als Schnitzler einen solchen erstmals mit Bleistift und in Lateinschrift – und nicht mehr, wie seit Jahrzehnten, mit Tinte und in Kurrent – setzt.[1])
Bald nach den familiären Quisquilien holt ihn Arthur Kaufmann, ein eng befreundeter Philosoph (Schachspieler und mit der Elo-Zahl 2637 im Jänner 1917 unter den Top-10 der Welt, bevor er noch im selben Jahr die Turnierspiele sein ließ; Dr. iur.), zu einem Spaziergang ab, der die beiden durch den Dornbacher Park Richtung Sophienalpe führen wird und, nach einer Rast auf der Wiese, über ebendiesen Park wieder zurück. Zuhause wird Schnitzler sich Notizen machen, eine Idee festhalten, die sich im Gehen entwickelte:
13/5 S. wurde mein 55. Geburtstag gefeiert. […] Arthur Kfm. holt mich ab, Spaziergang Dornbacher Park, gegen Sophienalpe, auf einer Wiese gelegen, Park zurück. – […] Scherze. Ich erfinde eine Morgenstern-Figur, die zwei Uhren trägt, eine 10 Min. zu früh, eine andre 10 Min. zu spät gehend, um genau zu wissen, wie spät es ist. – Die überflüssige Tafel »Park« bringt mich auf einen Menschen der nach Hause kommend, solche Aufschriften neben Tisch, Sessel, Kasten anbringt, auch auf seine Frau einen Zettel hängt »Gattin« u.s.w. –
Was sich Schnitzler nicht im Tagebuch notierte (der Eintrag zum 13. Mai ist nahezu fehlerlos, in einem Zug geschrieben und beruht mithin wie so oft bei Schnitzler auf zuvor angefertigten Notizen), sondern davon getrennt festhielt, erhellt Reinhard Urbachs Kommentar zur Ausgabe von 1977 im Fischer-Verlag; er zitiert den 1917 niedergeschriebenen Entwurf:
Am Eingang des Schwarzenbergparks eine Tafel mit der Aufschrift: Park. Jemand ist sehr impressioniert davon. Wie er nach Hause kommt, heftet er seinem Mobiliar Zettel mit Bezeichnungen an: Tisch, Divan, Kasten. Dann greift diese Zwangsvorstellung weiter, er versieht auch seine Frau mit einem Zettel, seinen Sohn, die Köchin, endlich pickt er auf sich selbst einen Zettel, auf dem steht: Ich – und spaziert so auf die Straße. [/] Sein Wahnsinn beginnt damit, daß er Annoncen, Plakate etc. ernst und wörtlich nimmt, Streitigkeiten mit ihnen anfängt usw.[2]
Diese Skizze, die im Kontext des ›Notations-Scharniers‹ 13/V/1917 zusätzliche Bedeutung gewinnt, stellt die erste im Tagebuch nachweisbare Notiz für jene Novellette Ichdar, die er scheinbar gut zehn Jahre später, 1927, sich unter dem Arbeitstitel »Park« vornimmt und die doch nur bedingt ausgearbeitet, jedenfalls nicht zu Lebzeiten publiziert wird (der Text verbleibt im Nachlass, erscheint erstmals 1968 als »Novellette«, danach 1977 unter dem Titel »Ich«). Wieder ein Spaziergang, wieder in der zeitlichen Gegend von 1917, Arthur Kaufmann – im Juni 1917 für einige Zeit zur Beobachtung im Sanatorium Purkersdorf – wird im zeitlichen Umfeld erneut eine Rolle spielen (insgesamt sind Koinzidenzen bei Arthur Schnitzler geradezu systematisch angelegt):
14/10 […] Schöner Herbsttag Spazierg. C. P. Sommerhaidenweg, Neuwaldegg. […] Eine kleine Novellette (Park) zufällig begonnen. […] 16/10 […] den »Park« weitergeschrieben (– u. al. f. v.) – […] 17/10 Dictirt »Park«; Briefe etc. […] 22/10 […] Dict. Briefe, »Sekundant«, »Park«, »Wort«. – […] Z. N. Arthur Kaufmann, der wieder auf einige Zeit in Wien. […] Wir waren sofort im dichtesten »philos.« Wald. Dieser Vergleich ist übrigens besonders schlecht. Ich freue mich wieder an seiner Helle und geistigen Unbestechlichkeit. – […]
In der nun so benennbaren Novellette Ich, einem der brillantesten Kurztexte Schnitzlers, spielen – um es kurz zu machen – wesentliche Verstörungen für die ersten 20 Jahre des 20. Jahrhunderts herein; so etwa Machs Empiriokritizismus, Mauthners Sprachkritik,[3] die Relativitätstheorie Einsteins – cf. dazu Arthur Kaufmanns dahingehend kritische und überdies insgesamt einzige Publikation: Zur Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Erörterungen; Der neue Merkur 1919/20, S., 587–594 – und der (aus heutiger Sicht: Erste) Weltkrieg. Daß die Erzählung formal besehen sich als eine Art Fragment einstufen lässt, erfährt ihre Logik im Zusammenhang mit dem Inhalt. Der erste Satz – »Bis zu diesem Tage war er ein völlig normaler Mensch gewesen.«[4] – verweist wie aus dem Lehrbuch gerissen auf die unerhörte Begebenheit, den zentralen Begriff der Novellentheorie. Zumundest vom Weltkrieg können die Figuren der Erzählung noch nichts wissen, denn Schnitzler versetzt den Handlungszeitraum in die Richtung eines anderen veritablen Erdbebens (hier ließe sich über Metapher und Metonymie nachdenken, Meta-Tropen etc.), gut zehn Jahre früher: er situiert die Erzählzeit relativ genau im April 1906 (mit Verlusten bleibt dennoch zu rechnen): »Erdbeben in San Franzisko. Das steht auch hier in der Zeitung.«[5] Beschleunigungsprozesse und Modernitätsschübe treten auf, nachdem die Hauptfigur, Herr Huber, im Park, noch verwirrt von einer Tafel mit der Aufschrift »Park«, Eintagsfliegen beobachtet hat:
Er machte sich auf den Heimweg, um eins erwartete ihn das Mittagessen. Er fühlt sich sonderbar leicht […]. Er nahm die Straßenbahn. Die flog noch rascher als er; geheimnisvoll diese elektrische Kraft. Es war halb zwei. Nun feierte die Eintagsfliege ihren fünfundfünfzigsten Geburtstag. Die Häuser rasten an ihm vorbei.[6]
Dieses Erlebnis des Funktionierens der Sprachordnung qua offizieller Zuschreibung und der Relativität menschlicher Begriffe zur Erfassung zeitlicher und räumlicher Koordinaten der Welt verleitet die Ich-Figur Huber zum Nachdenken über die Selbstverständlichkeit seines Daseins. Gerade dadurch geht aber eben diese Selbstverständlichkeit zugrunde, indem Herr Huber das »Sprachspiel« des Bezeichnens und Benennens wortwörtlich nachvollzieht, als repräsentierte er avant la lettreein Exemplum für Wittgensteins Überlegungen über die verschiedenen Sprachspiele, die unsere Sprache bzw. unseren Sprachgebrauch ausmachen: »Etwas benennen, das ist etwas Ähnliches, wie einem Ding ein Namenstäfelchen anheften.«[7]
Die notwendige Ordnungsarbeit und Klarheit ist Herrn Huber jedoch nicht gegeben und seine Verwirrung nimmt weiter zu: »Er sah nichts als gedruckte Buchstaben. […] Er atmete auf, wenn er an die hölzerne Tafel dachte. ›Park‹.«[8] – Mit der individuellen Rückkehr zur Reduktion der Sprache auf die Bezeichnung der Dinge[9] kommt es letztlich zum Sprachspiel des Bezeichnens, und dieser Rückgang zu den Ursprüngen der Sprache, der für ihn in ein tatsächlich begründetes Ich-Finden mündet, indem er den Zettel sich selbst anheftet, d.h. sich selbst benennt, wird von der diesen Prozeß nicht nachvollziehenden Umwelt – was durchaus paradox erscheinen muss, da es dies eben genau nicht ist – als Ich-Verlust (Krankheit, Wahnsinn) zu werten gewesen sein.
Dass die Erzählung von Schnitzler nicht vollkommen durchgearbeitet wurde, macht durchaus einen (eigenen) Sinn, wie der Schluss zeigt, wenn die Verdichtung des Geschehens im Notathaften, in den kurzen Sätzen und Halbsätzen, Ausdruck findet:
[Herr Huber] kommt nach Hause, ist empört, daß alle Zettel wieder entfernt sind. Die Kinder kommen aus der Schule, er ist beruhigt, da er die Zettel, die aus irgendeinem Grunde nicht entfernt wurden, vorfindet. [/] Indessen hat die Frau den Arzt verständigt. Wie der hereintritt, tritt ihm der Kranke entgegen mit einem Zettel auf der Brust, auf dem mit großen Buchstaben steht: »Ich«.–[10]
[1] Dafür lassen sich zahlreiche Anmerkungen und Querverweise berücksichtigen, die Verf. hier festhielt: Schnitzlers Tagebuch lesen. Ein Versuch in drei TAGen. In: Arthur Schnitzler im zwanzigsten Jahrhundert. Hg. v. Konstanze Fliedl. Wien: Picus 2003, S. 262–287; zum formalen Umbruch der Tagebuchführung mit dem Eintrag zum 13.05.1917 vgl. v.a. S. 270–273.
[2] Cf. Varianten- und Anmerkungsapparat zu Ich. In: Arthur Schnitzler: Entworfenes und Verworfenes. Aus dem Nachlaß. Hg. v. Reinhard Urbach. Frankfurt/Main: Fischer 1977, S. 523.
[3] Cf. »Mein erster Plan war, Sprachkritik zu üben an den Grundbegriffen aller Natur- und Geisteswissenschaften. Das ging über meine Kraft. Andere haben angefangen mich abzulösen. Ich könnte bereits einige Naturwissenschaftler, auch Juristen und Ärzte nennen, sogar Dichter (Christian Morgenstern), die meine Leitgedanken weitergeführt haben. […] Und ich gedenke dankbar des gütigen Wortes, das Ernst Machmir schrieb, als er den zweiten Band meiner ›Kritik der Sprache‹ gelesen hatte (24. Dezember 1902): ›Ihr Werk wird langsam aber sicher seine Wirkung tun. Die Zunftgelehrten sind etwas schwerfällige Gewohnheitsmenschen. Auf 10-20 Jahre Überlegung kommt es ihnen nicht gerade an. […]‹« (Fritz Mauthner. Ausgewählte Texte aus dem philosophischen Werk. Hg. v. Gershon Weiler. Salzburg: Residenz 1986, S. 104; Hervorhebungen gem. Referenztext)
[4] Arthur Schnitzler: Ich. Novelette. In: Ders.: Entworfenes und Verworfenes. Aus dem Nachlaß. Hg. v. Reinhard Urbach. Frankfurt/Main: Fischer 1977, S. 442–448, hier S. 442.
[5] Schnitzler: Ich, S.446.
[6] Ebd., S. 445.
[7] Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe, Bd. 1. Stuttgart: Suhrkamp 1984, S. 225–580, hier S. 244.
[8] Schnitzler: Ich, S. 447.
[9] Wittgenstein selbst betont die Vielfalt der Sprachspiele, die die Sprache ausmachen: »Als ob mit dem Akt des Benennens schon das, was wir weiter tun, gegeben wäre.« (Wittgenstein: Untersuchungen, S. 252).
[10] Ebd., S.448.