Informelle Weltrettung

Vorbemerkung: 2023 wird der nächste Band der AdminiStudies (im Druck bei Metzler, mit Open Access bei Springer Nature) erscheinen, diesmal ›Protokollen‹ zugeeignet, was sich in diesem Fall etwa so anschreiben lassen wird: Peter Plener, Niels Werber und Burkhardt Wolf (Hg.): Das Protokoll. Heidelberg: Metzler 2023 (AdminiStudies Bd. 2). Protokolle sind, so werden wir es zu extrapolieren versuchen, ein Kerninstrument unterschiedlichster (personaler, papierener oder auch digitaler) Verwaltungsoperationen: Sie fixieren Abläufe, verknappen Verknüpfungsmöglichkeiten und schematisieren Handlungsoptionen. Sie strukturieren, regulieren und dokumentieren Sprech- und Handlungsabläufe von ministeriellen Zusammenkünften, Gerichtsterminen und anderen komplexen Arbeitsprozessen. Allemal schreiben Protokolle auf und vor, was zu tun und was zu lassen ist, was als notwendig gilt oder als unwichtig und marginal. Sie filtern also aus komplexen Interaktionen das heraus, was jene Vergangenheit gewesen sein wird, auf die man sich künftig bezieht. Dabei arbeiten Protokolle letztlich ein und demselben Zweck zu: dass – auf begründete und regelgeleitete Weise – überhaupt etwas entschieden wird. Kurzum: im Verband mit den Beiträger:innen des Bandes werden wir versuchen, vor allem drei Hauptformen dieses Verwaltungsmediums aufzugreifen und aus je verschiedenen Perspektiven – exemplarisch und/oder theoretisch – zu untersuchen: Gesprächs- wie Verlaufsprotokolle, diplomatische und technische Protokolle. (Ein Protokoll ist stets Ausweis einer Selektion. Was jedoch nicht darin steht oder gestrichen wurde ist nach Abschluss des Prozesses allenfalls informell und auf anderen Kommunikationskanälen und anderen Speichersystem sich ›erhaltendes‹ Wissen.)

Das meint auch: Dass wir amtlich sagen können, wie etwas – und sei es noch so selektiv montiert – gewesen sein wird, ist durch Protokolle belegt; dass und wie wir erfolgreich Daten transferieren und elektronisch kommunizieren, regeln Protokolle; wie gewaltfrei Staatsbesuche ablaufen, geben Protokolle vor. Bei allen Unterschieden in der Begriffsanwendung, dem Zeitpunkt der Zuschreibung (danach–währenddessen–vorab) und der jeweiligen prozeduralen Komplexität bleibt jedoch eine Gemeinsamkeit aller Protokolle mit dem altgriechischen πρωτόκολλον: es geht stets um Regeln und Prozessvorgaben, um approbierte Instrumente des Scheidens und damit Entscheidens. (Dass damit – und keineswegs bisherige Arbeiten zum Thema beiseite lassend – ein paar neue Dinge herausgearbeitet und und im ausformulierten Zusammenhang nebeneinander gestellt erklärbar gemacht werden, liegt (erwartungsgemäß) auf der Hand. 

Ein sehr schöner Beitrag von Tobias Nanz (»Das diplomatische Protokoll«) in oberwähntem Sammelband wird sich u.a. mit Tom Clancys Roman The Sum of All Fears (1991; auf Dt. Das Echo aller Furcht, 1992) beschäftigen und an diesem ein Beispiel statuieren. Durch die Verfilmung aus 2002 (Dt. Der Anschlag) ist, bei allen Unterschieden zwischen den beiden Darstellungsweisen, doch der Plot zum Ende hin bekannt: die Weltrettung durch Mister Jack Ryan.

Aus Sicht der Protokoll-Forschung (und der Arbeiten zum »Roten Telefon«, der Kommunikation und ihrer Störungen zwischen einst der Sowjetunion/nun Russlands und den Vereinigten Staaten von Amerika et cetera) ist das alles interessant. Denn während Protokolle für die diplomatischen Agenden und Agenten – in ihren Ursprüngen hergeleitet vom Zeremoniell und seiner Verschriftlichung; jedenfalls stets ein Ergebnis von Aushandlungen, an das man sich zu halten hat, will man keinen unkontrollierbaren Ablauf sondern Deeskalation – Regel- und Steuerungsinstrumente sind, ein Rahmen an den sich alle halten, um innerhalb desselben oft kontroverse Anliegen ohne unmittelbare Gewaltanwendung abzutauschen, würde deren Einhaltung hier (und das macht den Thriller des Geschehens, der Story, wesentlich aus) binnen kurzem unaufhaltsam in einen letztlich weltweiten Nuklearkrieg münden. Nur die Missachtung des Protokolls durch den CIA-Mann Ryan, seine widerrechtliche Intervention (ein Hack ins System, was ihm bei Clancy ein paar Romane später die Beförderung zum US-Präsidenten einbringen) und ein weiteres Element außerhalb des Protokolls – das eine ist nicht ohne dem anderen zu haben –, können die Deeskalation des Konflikts und die Weltrettung nebst Exekution der Verschwörer bewirken.

Dieses wesentliche und für Ryans Rettungsmission unabdingbare Element ist ein informelles: es gibt einen zweiten direkten Draht zwischen Russland – schon zu Zeiten des Kalten Krieges und der UdSSR – und den USA, einer des Vertrauens; dieses Einverständnis bestand/-steht zwischen Ryans mittlerweile totem Vorgesetzten und einem beratenden Geheimdienstmann im Umfeld des russischen Präsidenten. Eine Verbindung, die an allen Wahrnehmungen Dritter vorbei existierte, außerhalb von Kompetenzbereichen, Weisungszusammenhängen und Protokollen. Die informell erfolgte Verständigung der beiden Herren, errichtet um eine Möglichkeit für die allenfalls notwendige Weltrettung (über Verständigung) zu sichern, trickst nicht nur alle aus, sondern erlaubt letztlich im Gegensatz zu den Abläufen gemäß zuerst diplomatischem und dann militärischem Protokoll, dass kein Nuklearkrieg ausbricht, obwohl doch die eine oder andere US-amerikanische Großstadt in Trümmern liegt, der Body count kein Ende findet und der Plan – eine terroristische Verschwörung – so schlau eingefädelt war. Das (derart eingeführt:) gute Informelle rettet die Welt, der eine heiße Draht reißt nur deshalb nicht, weil ein geheimer zweiter besteht (von hier an ließe sich über redundante Leitungen und Netzwerk-Theorie nach Paul Baran/RAND Corp./ARPA nachdenken), dessen Betriebsmittel Vertrauen, so etwas wie Freundschaft, Verstehen sind … Informelles.


Nachbemerkung 1: Es wäre eine Tagung zur Theorie des Informellen so aufschlussreich wie nützlich. Vor allem deshalb, weil im Zusammenhang mit Protokollen wie Akten – was wird schriftlich vorgelegen haben, was wird selektiert, welche Informationen bleiben außen vor? –, ohne dass man gleich einen Thriller bemühen müsste, das Informelle (Untersuchungsausschüsse lassen grüßen) – These! – durchaus auch so etwas wie ein Funktionieren des Offiziellen (auch: der Protokolle, der Akten…) gewährleistet und manche Amtswege verkürzt. Das Informelle kann hierbei in vielen Formen auftreten: eine mündliche Information oder Vereinbarung, ein dann unter Verschluss gehaltener Sideletter, ein Gerücht, eine bloße Annahme oder auch eine ideologisch-religiöse Überzeugung. Kolportage und Gewissheiten (angenommen) 2. Ordnung.

Nachbemerkung 2: Dass seit Jahrzehnten US-amerikanische Thriller-Autoren (bis hin zu den X-Files) ihre enormen Erfolge (quer durch die angesteuerten Medien, wodurch’s doppeldeutiger wird: the Medium is the Massage) wesentlich Verschwörungs-Plots, Deep-State-Annahmen, der sinister inszenierten Arbeit von Schatten-Organisationen et cetera verdanken, dass das alles heute als Gewissheiten v.a. in rechten bis rechtsextremen Kreisen – es sei Fakt, nicht Fake – gehandelt und entsprechend weitergesponnen wird, wäre noch ein paar Überlegungen von kundiger Seite wert.

Die Theorie der Rakete reitet auf der Praxis der Post- und Telegraphenverwaltung; der Kursbücher. Und Pynchon war Fahrdienstleiter in Wörgl. Aggregat 4 ist keine Bleeding Edge Technologie mehr. Aber ich könnte kurbeln & Thomas Pynchon am anderen Ende der Parabel hören: »Tape my head and mike my brain …«. Psst.