Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. [1951] Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988 (Bibliothek Suhrkamp Bd. 236), S. 283 f.:
Lämmergeier. – Zu diktieren ist nicht bloß bequemer, spornt nicht bloß zur Konzentration an, sondern hat überdies einen sachlichen Vorzug. Das Diktat ermöglicht es dem Schriftsteller, sich in den frühesten Phasen des Produktionsprozesses in die Position des Kritikers hineinzumanövrieren. Was er da hinstellt, ist unverbindlich, vorläufig, bloßer Stoff zur Bearbeitung, tritt ihm jedoch zugleich, einmal transkribiert, als Entfremdetes und in gewissem Maße Objektives gegenüber. Er braucht sich gar nicht erst zu fürchten etwas festzulegen, was doch nicht stehenbliebe, denn er muß es ja nicht schreiben: aus Verantwortung spielt er dieser einen Schabernack. Das Risiko der Formulierung nimmt die harmlose Gestalt erst des ihm leichthin präsentierten Memorials, dann der Arbeit an einem schon Daseienden an, so daß er die eigene Verwegenheit gar nicht recht mehr wahrnimmt. Angesichts der ins Desperate angewachsenen Schwierigkeit einer jeglichen theoretischen Äußerung werden solche Tricks segensreich. Sie sind technische Hilfsmittel des dialektischen Verfahrens, das Aussagen macht, um sie zurückzunehmen und dennoch festzuhalten. Dank aber gebührt dem, der das Diktat aufnimmt, wenn er den Schriftsteller durch Widerspruch, Ironie, Nervosität, Ungeduld und Respektlosigkeit im rechten Augenblick aufscheucht. Er zieht Wut auf sich. Sie wird vom Vorrat des schlechten Gewissens abgezweigt, mit dem der Autor sonst dem eigenen Gebilde mißtraut und das ihn um so sturer in den vermeintlich heiligen Text sich verbeißen läßt. Der Affekt, der gegen den lästigen Helfer undankbar sich kehrt, reinigt wohltätig die Beziehung zur Sache.
Cornelia Vismann: Lämmergeier. [2001] In: Theodor W. Adorno. ›Minima Moralia‹ neu gelesen. Hg. v. Andreas Bernard u. Ulrich Raulff. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003 (edition suhrkamp 2284), S. 110–112, hier S. 111 f.:
[…] Der nachhegelianische Philosoph Adorno schätzt das Diktat genau dafür, daß es einen diskursiven Vorraum vor dem druckreifen Text schafft. Es vermittelt dem Philosophen ein Gegenüber, das ihm bei jedem geäußerten Gedanken ein »So nicht« entgegenhalten kann. Man würde die Dienste des Diktats allerdings unterschätzen, wenn man es bloß als technisches Hilfsmittel der Dialektik nähme. Adorno erweist daher seine ganze Dankbarkeit gegenüber demjenigen, der dieses Mittel beherrscht. Und weil er den Helfer, der das Diktat aufnimmt, derart in Ehren hält, vermeidet er für ihn mit Bedacht den schnöden Ausdruck Sekretärin. Sie ist Mittel oder Medium im dialektischen Sinn: Vermittlungsinstanz zwischen Subjekt und Objekt. Ohne sie kommt weder das eine noch das andere zustande. Sie bringt den Gegenstand des Denkens überhaupt erst zur Sprache, diktiert ihn geradezu (soviel zur Dialektik des Diktats und vice versa). Als Instanz des Dritten zwischen dem einen und dem anderen stiftet sie jene Konstellation, in der die Sache selbst obsiegt. Sekretärinnen, die beim Diktat die Stirn runzeln oder die Mundwinkel verziehen, die lammfromm mitschreiben, während sie den Schwachpunkt des Arguments schon (wie Lämmergeier?) erspäht haben, sind die reale Gegenwart dieses Widerspruchs, der in der dialektischen Bewegung zu verschwinden droht.
Sekretärinnen lassen sich nicht wegdenken wie Begriffe. Sie spalten die beiden Seiten dialektischer Betrachtung und verschalten sie in ihrem Widerspruch, das ist: der Affekt gegen die geliebte lästige Helferin, der sich beim Diktieren in einen objektiven Widerspruch der Sache selbst übersetzt. Darum findet negative Dialektik in der nämlichen Konstellation statt. Eine Frau schreibt mit, was zwei Philosophen ihr diktieren, manchmal als bauchrednerisches Duo in einer Person, manchmal in höchst realem Stereo. Während des Exils in Pacific Palisades diktierten Theodor W Adorno und Max Horkheimer ein und derselben Frau. Nachmittag für Nachmittag nahm Gretel Karplus, verheiratete Adorno, die Diktate der beiden Philosophen auf. So kann allmählich die Dialektik der Aufklärung zustande.
EA 16.8.2001 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, Teil V der einschlägigen Serie.
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Der Lämmergeier ist der Bartgeier des Volksmunds.