Legestachel

Aus: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung. Erster Teil. Zehnter Sektor. Extrazeilen über die Besuchbräune, die alle Scheerauerinnen befällt bei dem Anblick einer fremden Dame –– 1793

so wurde dem Fürsten das ewige Unterschreiben seiner Kabinettdekrete viel zu sauer und zuletzt unmöglich. – Da er indessen doch noch regieren mußte, als er nicht mehr schreiben konnte: so stach der Hofpetschierstecher seinen dekretierenden Namen so gut in Stein aus, daß er den Stempel bloß einzutunken und naß unters Edikt zu stoßen brauchte: so hatt’ er sein Edikt vor sich. Auf diese Weise regierte er um 15 Prozent leichter; – der Minister aber um 100 Prozent, welcher zuletzt aus Dankbarkeit, um dem geschwächten Fürsten sogar das schwere Handhaben des Stempels abzunehmen, das schöne Petschaft (er zog es Michel-Angelos seinem vor) selber in sein eignes Dintenfaß eintunkte; so daß der alte Herr ein paar Tage nach seinem eignen Tode verschiedene Vokationen und Reskripte unterschrieben hatte – aber dieser Poussiergriffel und Prägstock der Menschen wurde der Legestachel und Vater der besten Regierbeamten und laichte zuletzt den Pestilenziarius.

Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung. In: Ders.: Sämtliche Werke Abt. I, Bd. 1: Die unsichtbare Loge. Hesperus. Hg. v. Norbert Miller. Frankfurt/M. Zweitausendeins 1996, S. 7–469, hier S. 101f.