Walter Benjamin: [Was ist Aura?], ca. San Remo/1935 [*]
[Transkription:]
Blick im Rücken
Aufblicken, einen Blick erwidern
Begegnung und Blicke
Was ist Aura?
Die Erfahrung der Aura beruht auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich gGlaubende erwidert mit einem Blick [schlägt den Blick auf]. Die Aura einer Erscheinung oder eines Wesens erfahren, heißt, ihres Vermögens inne werden, einen Blick zu erwidern [aufzuschlagen]. Dieses Vermögen ist voller Poesie. Wo ein Mensch, ein Tier oder ein Unbeseeltes unter unserm Blick seinen eignen aufschlägt, zieht es uns zunächst in die Ferne; sein Blick träumt, zieht uns seinem Traume nach. Aura ist Erscheinung einer Ferne so nah sie sein mag. Worte selbst haben ihre Aura; Kraus hat sie besonders genau beschrieben: »Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner blickt es zurück.« [**]
Soviel Aura in der Welt als noch Traum in ihr. Aber das erwachte Auge verliert nicht die Kraft des Blickes, wenn der Traum gänzlich in ihm erloschen ist. Im Gegenteil.; dann erst wird sein Blick wirklich eindringlich. Er hört auf, dem Blick der Geliebten ähnlich zu sehen, die unterm Blick des Geliebten ihr Auge […]
[*] »Acqua di S. Pellegrino«-Rechnungsblock, Format 11,5×18,7 cm, Schrift mit schwarzer Tinte und Tintenflecken am rechten Rand, heute im Walter Benjamin Archiv der Akademie der Künste/Berlin.
[**] Karl Kraus: Pro domo et mundo. In: Die Fackel, Nr. 326/327/328 (XIII. Jahr) v. 8. Juli 1911, S. 38–45, hier S. 44: »Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.« (Hervorhebung PP)