Der Alpha-Stier, die Europa und der Schmied

Dass Zeus sich in einen Stier verwandelte, um die Europa zu entführen (Klaus Theweleits CA-Band »Königstöchter« seiner Pocahontas-Tetralogie buchstabiert sehr genau aus, was die mythischen Erzählungen von den liebestollen Olympiern mit Eroberungen, Vergewaltigungen, Land- und Übernahmen tun haben) – wovon es etwa ein interessant komponiertes Veronese-Bild aus 1578 im Dogenpalast (cf. Die Pathosformeln des Dogenpalasts. Eine Fingerübung) zu sehen gibt, bei dem in einem Gemälde drei Etappen des Raubs eingezeichnet sind –, lässt sich auch als eine erläuternde Fußnote zur Entwicklung der Alphabete lesen.

(Paolo Veronese, Ratto di Europa, Palazzo Ducale, ca. 1578; Quelle: it.wikipedia.org; Größe: 240 x 303 cm)

Der erste Buchstabe Alpha – und besonders deutlich dann das A – ist die vollendete 180°-Drehung dessen, was im protosemitischen und dann noch phönizischen Schriftgebrauch ein Rind darstellte, als Aleph ins Hebräische und Alif ins Arabische durchschlug. Abgesehen vom Fruchtbarkeitssymbol und der Botschaft von der systematischen Urbarmachung von Landfläche ist die Bedeutung auch die der Eins, der stierköpfige Gottheit, steht das am Sprung ins Arbiträre schon befindliche Zeichen auch für Atem, Wind und Wunder. Zeus, der sich von seiner olympischen Übermenschengestalt in den Stier verwandelt, was als Erzählung erst in veritablen Alpha-Zeiten kodifiziert werden wird, dreht das altgriechische Zeichen – Nr. 1 imAlphabet – in die Ausgangsstellung zurück, wird (wieder?) der Stier, den die Königstochter Europa dann ebenso gerne wie nichtsahnend besteigt. Im Grunde ein Reset auf die Werkseinstellung und en passant ideale Voraussetzung für einen Neuanfang, eine Gründung und deren zu benennenden Mythos. (Der Kontinent wird sich diesen Namen und Mythos zuschreiben, bevor er die anderen entdeckt, vermisst, erobert und benennt.) Passenderweise nimmt die Gottheit – folgt man etwa Ovid – die Gestalt eines schneeweißen Stiers an (»color nivis« heißt es in denMetamorphosen), so gleißt er unter den anderen Jungtieren der Tochter des phönizischen Königs Agenor ins Auge und ist doch ein unbeschriebenes Blatt, das keine Drohungen verheißen kann (»nullae in fronte minae« – das wird beim Weißen Wal des Herman Melville ganz anders sein). Sozusagen vom Vokal Alpha zum Guttural bzw. Glottisverschluss Alef und mit Beute reich beladen wieder zurück – jetzt wird das Alpha auf die vormals unschuldig-weiße Fläche eingetragen, die Übersetzungsmaschine kommt in Gang und die Körperlichkeit des phönizisch scheinenden Konsonanten-Stiers weicht der des griechischen Vokal-Gottes.

Zeus reitet also ab mit Europa, es geht nach Kreta. Die Verbindungslinie zum nächsten Sprach- und Schriftsprung ist gezogen, es läuft auf Linear A, B [die Verwaltungsschrift] und C hinaus. Europa wird Minos zur Welt bringen, die minoische Kultur sich begründen.

Ihr Königsvater Agenor hat, nachdem er seiner Tochter den Auftrag gegeben hatte, die Rinder zum Meer zu führen, noch eine folgenreiche Idee: er beauftragt seine Söhne, darunter auch Kadmos, Europa zu finden und zurückzuholen. Im Gepäck hat dieser: die phönizische Schrift. Nach einer etwas umfänglichen Odyssee und Alphabetisierung von Griechen und Zyprioten wird er auf einen weißen Stier (Nr. 2 dieser Geschichte) treffen, einen Drachen erschlagen und do. Theben gründen. Europa und seinen eigentlichen Auftrag vergisst er darüber mehr oder weniger, dafür wird er von den OlympierInnen mit Macht und Frau versorgt. Am Schluss wartet das Elysium.

Derweil wächst Minos auf Kreta heran und eines Tages sieht auch er am Strand einen weißen Stier (Nr. 3), den er aber nicht den Göttern opfert, sondern zu hübsch und eigentümlich zum Schlachten findet. Er besteigt ihn zwar nicht, aber die Götter finden die Vorenthaltung des Blutopfers derart unschick, dass sie ihn unfruchtbar machen etc. (er konnte nur noch Schlangen und Skorpione ejakulieren, was den Tod der diversen Geliebten zur unschönen Folge hatte).

Seine Frau Pasiphaë (Tante der Medea) sieht das eher unentspannt, findet nun auch den weißen Stier hübsch und lässt sich von Dädalus – der bis dahin schon eine Vielzahl an nützlichen Dingen erfunden und in die Welt gebracht hatte – eine Art mechané bauen: ein Holzgestell, mit Kuhhaut überspannt, in das sie schlüpft und sich derart dem augenblicklich liebestollen weißen Stier unterwindet. Kein Minos jun. wird ihr geboren, sondern ein Minotaurus.

Minos findet den zoophilen Seitensprung wie auch das nun erwachsene Geschöpf weniger charmant und Dädalus baut ihm das Labyrinth, damit diese schandhafte chimärische Existenz darin verborgen werden kann. Jetzt kommt gleich mehrfach Theseus (Stiefsohn der Medea) – damit fügt sich auch noch Thesaurus ins Wortstammspiel –, Ex-Argonaut und vielfach bewährter Held wie Aufgabenlöser, ins Spiel. Vorher wird Stier Nr. 3 (Zeuger des Minotaurus) von Herakles unter verständlicher Zustimmung des Minos nach Mykene exportiert worden sein, von dort aus halb Griechenland zerlegt haben, nur um bei Marathon auf Theseus zu treffen. Ende von Nr. 3.

Dass hier Theseus mit einem Zug von Nord nach Süd (Athen-Kreta) und wieder zurück die Geschichte von Ost nach West (von Phöniziern bis Sizilien) kreuzt, fügt dem allen nicht wenige Ebenen ein und ist dahingehend gesondert zu erzählen. Die beiden Stränge lassen sich mit einem dritten (Vokal-Alphabet-Verwaltung) zu einem ansehnlichen Knoten schürzen.

Athen, das bis dahin alle neun Jahre sieben Jungfrauen und sieben Knaben als Menschenopfer an den minoisch-kretischen Machtapparat (Labyrinth und Minotaurus) zu übersenden hatte – ein menschenhafter Sohn des Minos (eine Frau hatte sich mit Hilfe von Zaubertrank als widerstands- und zeugungsfähig genug erwiesen) war dem Killerstier zum Opfer gefallen, was Minos den Athenern angekreidet und weshalb er besagte Pönale verhängt hatte –, war unversehens ein potentieller Held erwachsen, der dann wie das zu opfernde Jungvolk nach Kreta übersetzte, dort bekanntermaßen Ariadne … auf seine Seite zog und mit ihrem roten Faden und dem Schwert in das Labyrinth hineinging. Die Weisheit der Frau bedeutet das Ende von Nr. 3 jun. Aus diesem von der Chimäre befreiten Raum gelangt Theseus aber nur, indem er seine Spur, der Aufzeichnung (die sich auch alsAlgorithmus verstehen lässt, cf. die Algorithmen von Pledge, Trémaux u.v.a. Tarry), in umgekehrter Richtung folgt. Ariadne wird dieser Held danach ebenso hinter sich lassen wie Kreta, dessen Unterdrückungsapparat er mit ihrer Hilfe noch so erfolgreich zerstören konnte.

Dort auf Kreta sitzt derweil immer noch Minos, mittlerweile reichlich andiniert was die Person des Dädalus betrifft. Zweimal hatte dieser einemechané geschaffen, die nicht ganz im Sinne des Herrschers operiationalisiert wurde. Dädalus wird also zusammen mit seinem Sohn Ikarus ins Labyrinth getrieben, findet ohne Algorithmus natürlich nicht heraus, wird dann auf die bekannte Weise entkommen (während Ikarus ähnlich intelligent wie Phaeton handelt) und lernt, dass er besser untertaucht. Der kunstfertige Schmied, ein Mechaniker, sozusagen dem Trollhaufen der Daktylen zugehörig, geht ins sizilianische Exil.

Alphabete, Labyrinthe, Verwandlungen, Maschinen und Machtapparate, Chimären, Geometrien des Arbiträren und Verschwindens, Algorithmen und Flugapparate, ein patriarchaler Mythos (Zeus und die Stiere) an der Kippe zum Matriarchat (Medea, Europas Familie und die Schriftkultur) sind im Mittelmeerraum angekommen – und Minos immer noch nicht entspannt. Er erfindet einen Trick, wie ihn die britische und die US-Regierung in den 1930er und 40er Jahren auch angewandt haben. Die suchten, um Codes zu knacken, jene Kryptographen im demokratischen Volkskörper zu finden, von denen sie bis dahin noch nichts wussten, die sie aber brauchten, um die Enigma und deren Chiffriercodes zu knacken. Es brauchte damals Unmengen an zweibeinigen Rechnern. (Von hier aus gibt es eine Linie von den Lochkarten und Maschinen her, über Turings »Bomben« zu den Computern; klar.) Es wurden nahezu unlösbare Kreuzwort- und Zahlenrätsel in die Zeitungen gesetzt. Rief jemand mit der richtigen Lösung an, unterbreitete man ihm bzw. ihr ein Angebot, das dann weder er noch sie ablehnen konnten. Minos legte es genau so an: er verbreitete im mediterranen Raum ein Rätsel, denn der Schmied-Mechaniker-Maschinist Dädalus war auch schlau; Minos lockte ihn. ›Wie bekommt man einen Faden durch ein spiralig gedrehtes Schneckenhaus?‹ Die Lösung des Dädalus – ein kleines Loch in die Spitze bohren, eine Ameise an einem dünnen Faden durch dieses bringen und sie mit einem Batzen Honig zum Ausgang zu locken, auf diese Weise den Faden durch das Schneckenhaus zu bekommen und das Deadlock desselben zu überwinden; dem Köder des Rätsels begegnet Dädalus mit einem Köder als Rätsellösung – gelangte unvorsichtigerweise seinem Gastgeber zu Ohren, von diesem an die des Minos, der sogleich anrückte, um sich des so kulturmächtigen Herrn Mechané (dessen Nachfahren von Wieland dem Schmied über die Ingenieure des Robert Musil und die Codeknacker in Bletchley Park bis zu Automatix und weiter so unübersehbar wie unzählbar geworden ist) zu bemächtigen. Die einen sagen nun: die Königstöchter ermordeten ihn im Bad, die anderen sagen: es war Dädalus selbst. Gewiss scheint nur, dass es die letzte dumme Idee des Minos war, erstmal zu baden wie ein Zeus, statt den Kill-Job zu endigen.


Update 10.01.2020 mit dem Hinweis auf einen einschlägigen Beitrag von Andreas L. Hofbauer: Joch des Seins (26.10.2018)