Märchen

Bei sehr vielen Erfindungen, die in den letzten Jahren gemacht wurden, erblickt man die Verwirklichung von Gedanken und Ideen, die oft schon vor langer Zeit dem Menschen vorgeschwebt haben. Im Phonograph sehen wir das Posthorn Münchhausens, aus dem die schönen Melodien und Lieder wieder erklingen, nachdem sie lange zuvor hineingeblasen worden sind. Ebenso sehen wir in dem Fernseher den Zauberspiegel im Märchen, der das Geschenk einer gütigen Fee ist, in welchem man sehen kann, was gerade entfernte Personen tun.

Fritz Lux: Der elektrische Fernseher (Ludwigshafen/Rh., 1903), S. 3

Vieles, was die alten Zaubermärchen versprochen hatten, hat die moderne Technik gehalten: das Radio bringt ferne Stimmen in einen Raum, wo gar niemand spricht; ja ein Fernsehen wird denkbar, das, mitten im nüchternsten Weltbild, das Reich der magisch herbringenden Spiegels schneidet.

Ernst Bloch: Die Angst des Ingenieurs (1929). In: Ders.: Literarische Aufsätze. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 347–357, hier S. 354

Wenn es die Verwirklichung von Urträumen ist, fliegen zu können und mit den Fischen zu reisen, sich unter den Leibern von Bergriesen durchzubohren, mit göttlichen Geschwindigkeiten Botschaften zu senden, das Unsichtbare und Ferne zu sehen und sprechen zu hören, Tote sprechen zu hören, sich in wundertätigen Genesungsschlaf versenken zu lassen, mit lebenden Augen erblicken zu können, wie man zwanzig Jahre nach seinem Tode aussehen wird, in flimmernden Nächten tausend Dinge über und unter dieser Welt zu wissen, die früher niemand gewußt hat, wenn Licht, Wärme, Kraft, Genuß, Bequemlichkeit Urträume der Menschheit sind, – dann ist die heutige Forschung nicht nur Wissenschaft, sondern ein Zauber, eine Zeremonie von höchster Herzens- und Hirnkraft, vor der Gott eine Falte seines Mantels nach der anderen öffnet, eine Religion, deren Dogmatik von der harten, mutigen, beweglichen, messerkühlen und -scharfen Denklehre der Mathematik durchdrungen und getragen wird. 
Allerdings, es ist nicht zu leugnen, daß alle diese Urträume nach Meinung der Nichtmathematiker mit einemmal in einer ganz anderen Weise verwirklicht waren, als man sich das ursprünglich vorgestellt hatte. Münchhausens Posthorn war schöner als die fabriksmäßige Stimmkonserve, der Siebenmeilenstiefel schöner als ein Kraftwagen, Laurins Reich schöner als ein Eisenbahntunnel, die Zauberwurzel schöner als ein Bildtelegramm, vom Herz seiner Mutter zu essen und die Vögel zu verstehn, schöner als eine tierpsychologische Studie über die Ausdrucksbewegungen der Vogelstimme. Man hat Wirklichkeit gewonnen und Traum verloren. 

Musil, Robert: Der wichtigste Versuch. In: Ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (1930). Gesamtausgabe Bd. 1. Hg. v. Walter Fanta. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2016, S. 58f.

… die Erläuterungen, zu denen Einstein ausholte, waren so bezwingend wie die Argumente der Märchenvernunft, und hätten sie sich gleich dieser unversehens von der Wirklichkeit entfernt: der Wirklichkeit wäre nichts anderes übrig geblieben, als ihnen Folge zu leisten.

Siegfried Kracauer: Außerhalb der Universität. In: FZ v. 2.10.1931 [Werke in neun Bänden. Band 5.3: Essays, Feuilletons, Rezensionen. Hg. v. Inka Müller-Bach. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2011]

– Querverweis: Fernschule (1902) –

– Querverweis: Wundersäule Television (~1200) –

– Querverweis zur Fortsetzung des Musil-Zitats: Mathematik


☞ Fingerzeig: Grimmige Märchen

☞ Fingerzeig: Die 1002. Erzählung der Scheherazade


Medium; not well done. (Anzeige in Television, 1934)