Dann war da noch Franz Kafkas zweifach konzipierter (damit sich in einem relativierender) Wunsch an den sodann sich als solcher einsetzenden Nachlassverwalter Max Brod, dass alles möglichst ungelesen zu verbrennen sei: abgesehen von der bereits erfolgten, luziden Aufarbeitung dieses schriftlich vorliegenden, also zunächst zu lesenden Wunsches – durch Roland Reuß [1] – gibt es noch einen Passus im Zusammenhang dieses ersten Satzes, des ersten ho. zu zitierenden, nachgelassenen Zettels in der Schublade: jenen, der sich auf die Arbeiten, das Geschriebene im Büro bezieht. Damit erhöht die Komplexität denn doch: denn es stellt sich die Frage nach der Scheidung von Amtlichen Schriften [2] und privaten, es ergibt sich die Unzulässigkeit einer Vernichtung der erstgenannten.
[Mit Stahlfeder und Tinte geschrieben, mehrfach gefaltet außen die präzise Empfängerangabe tragend, Max Brod zufolge diesem inhaltlich 1921 referiert {3} – da Kafka Brod dabei nur einen gefalteten, Letzterem zufolge mit Tinte beschriebenen Zettel zeigt, ist eine veritable Datumsangabe kaum möglich; Anm. 1]
[Anm. 2: zu beachten, dass nach »Bureau« die Klammer eigentlich geschlossen, durch Streichung wieder ›geöffnet‹ wurde, dass sodann erheblich ungenauere Angaben zu möglichen Fundorten folgen.]
Liebster Max, meine letzte Bitte: alles, was sich in meinem Nachlaß (also im Buchkasten, Wäscheschrank, Schreibtisch zuhause und im Bureau, oder wohin sonst irgendetwas vertragen sein sollte und Dir auffällt) an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eigenen, Gezeichnetem u. s. w. findet, restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschrieben oder Gezeichnete, das Du oder andere, die Du in meinem Namen darum bitten sollst, haben. Briefe, die man Dir nicht übergeben will, soll man wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten.
Dein
Franz Kafka. [4]
[Mit Bleistift geschrieben, die Datumsangabe »29. Nov.« dürfte wegen der Erwähnung des »Hungerkünstlers« auf das Jahr 1922 verweisen; Anm. 1]
[Anm. 2: [|] = Seitenwechsel von rector auf verso; die Kursivierungen verweisen auf Unterstreichungen am Originalzettel; [/]möglichst bald[\] verweist auf eine nachträgliche Einfügung.]
Lieber Max, vielleicht stehe ich diesmal doch nicht mehr auf, das Kommen der Lungenentzündung ist nach dem Monat Lungenfieber genug wahrscheinlich und nicht einmal daß ich es niederschreibe, wird sie abwehren, trotzdem es eine gewisse Macht hat.
Für diesen Fall also mein letzter Wille hinsichtlich alles von mir Geschriebenen:
Von allem, was ich geschrieben habe, gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer, Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler. (Die paar Exemplare der ›Betrachtung‹ mögen bleiben, ich will niemandem die Mühe des Einstampfens machen, aber neu gedruckt darf nichts daraus werden.) Wenn ich sage, daß jene 5 Bücher und die Erzählung gelten, so meine ich damit nicht, daß ich den Wunsch habe, sie mögen neu gedruckt und künftigen Zeiten überliefert werden, im Gegenteil, sollten sie ganz verloren gehn, entspricht dieses meinem eigentlichen Wunsch. [|] Nur hindere ich, da sie schon einmal da sind, niemanden daran, sie zu erhalten, wenn er dazu Lust hat.
Dagegen ist Alles, was sonst an Geschriebenem von mir vorliegt (in Zeitschriften Gedrucktes, im Manuskript oder in Briefen) ausnahmslos soweit es erreichbar oder durch Bitten von den Adressaten zu erhalten ist (die meisten Adressaten kennst Du ja, in der Hauptsache handelt es sich um Frau Felice M, Frau Julie geb. Wohryzek und Frau Milena Pollak, vergiß besonders nicht paar Hefte, die Frau Pollak hat) – alles dieses ist ausnahmslos am liebsten ungelesen (doch wehre ich Dir nicht hineinzuschauen, am liebsten wäre es mir allerdings wenn Du es nicht tust, jedenfalls aber darf niemand anderer hineinschauen) – alles dieses ist ausnahmslos zu verbrennen und dies [/]möglichst bald[\] zu tun bitte ich Dich
Franz [5]
Beide Schreiben wurden – auch wenn das eine versandfertig adressiert und gefaltet war – nicht abgesandt; sie wurden bei keinem Notar hinterlegt, es gibt keine Bevollmächtigung Brods als ›Nachlassverwalter‹ – beide Schreiben sind Teil eines ›Nachlasses‹. Dieses Wünschen nach einer Vernichtung von u.a. Ungedruckt-Literarischem und autobiografischen Schriften muss zunächst gelesen werden. Der sodann gelesene Wunsch aber lässt sich – vergleichbar dem »in Zeitschriften Gedrucktem« [sic] – nicht mehr ungelesen machen (und allein das Amt – der Schreibtisch im »Bureau«, der AUVA – würde bestimmen dürfen, das weiß der Versicherungsbeamte Kafka sehr genau, was Makulatur gewesen und geworden sein mag; anders gesagt: solche Schriften wären dem Zugriff Brod ohnehin entzogen). Und: Es handelt sich hier nicht um Testamente (schließlich gibt es keine Angaben hinsichtlich Erbschaft/en) – und soweit bekannt, hat Franz Kafka gar keines abgefasst; es sind Kodizillen, d.h. Verfügungen eines letzten Willens. Deren rechtlicher Anspruch auf Vollstreckung ist jedoch sehr bescheiden und hängt von Wille respektive Willkür einer allenfalls bezeichneten Person ab.
[1] Reuß, Roland: Lesen, was gestrichen wurde. Für eine historisch-kritische Kafka-Ausgabe. In: Franz Kafka: Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte: Einleitung. Hg. v. Roland Reuß unter Mitarbeit von Peter Staengle, Michael Leiner u. KD Wolff. Basel, Frankfurt/M.: Stroemfeld/Roter Stern 1995, p.9-21
[2] Vgl. etwa Franz Kafka: »Hochlöblicher Verwaltungsausschuss!« Amtliche Schriften. Hg. v. Klaus Hermsdorf. Frankfurt/M.: Luchterhand 1991
{3} Vgl. Max Brods Darstellung davon:
Als ich 1921 meinen Beruf wechselte, sagte ich meinem Freunde, dass ich mein Testament gemacht hätte, in dem ich ihn bäte, dieses und jenes zu vernichten, andres durchzusehen und sofort. Darauf sagte Kafka und zeigte mir den mit Tinte geschriebenen Zettel, den man dann in seinem Schreibtisch vorgefunden hat, von außen: ›Mein Testament wird ganz einfach sein – die Bitte an Dich, Alles zu verbrennen.‹ Ich entsinne mich auch noch ganz genau der Antwort, die ich damals gab: »falls Du mir im ernste so etwas zumuten solltest, so sage ich Dir schon jetzt, dass ich Deine Bitte nicht erfüllen werde.«
Max Brod: Franz Kafkas Nachlass. In: Die Weltbühne Nr. 29 (1924), S. 106–109, hier S. 107.
Man beachte das den Zettel in Kafkas Schreibtisch vorfindende, unpersönliche »man« in dieser Darstellung. Und man beachte auch den Gebrauch der einfachen und doppelten Anführungszeichen, als wäre das eine sinngemäß paraphrasiert oder gar umeigentliche eigene Rede – und das andere historisch verbürgt. (Zudem nur wenige Wochen nach Kafkas Tod.) Man wie in Diamant, Dora?! Kaum. Die hätte wahrscheinlich verbrannt. Wer wird also man gewesen sein?
[4] Zit. nach Max Brod. Franz Kafka. Eine Freundschaft II. Briefwechsel. Hg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt/M.: Fischer 1989, S. 365 – und entspr. dem Faksimile in Ulrich Fischer: »alles … restlos und ungelesen zu verbrennen«. Kafkas letzter Wille – eine juristische Analyse. Göttingen: Wallstein 2024, S. 12.
[5] Zit. nach Max Brod. Franz Kafka. Eine Freundschaft II. Briefwechsel. Hg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt/M.: Fischer 1989, S. 421f. – und entspr. dem Faksimile in Ulrich Fischer: »alles … restlos und ungelesen zu verbrennen«. Kafkas letzter Wille – eine juristische Analyse. Göttingen: Wallstein 2024, S. 15f.