Panama

(Ein Bureau wie einer Phantasie Alfred von Schlieffens erwachsen; WK-eins und eine nur sehr bedingte Frontnähe sind hierbei die Begleitumstände. Panama ist dem Verfasser – Robert Musil, wohl 1918 [als er nach Fronterfahrung, Erkrankung, Soldatenzeitungs-Redaktion im Kriegspressequartier {KPQ; weiter Verweise siehe: Register} in Wien Dienst versieht] – der Code für Bestechung, politische Verfilzung, Korruption; die Begrifflichkeit bezieht sich auf die Ereignisse um den Panama-Kanal und was sich in Frankreich diesbezüglich als Finanzskandal erheblichen Ausmaßes begab. Es gibt mehrere [auch: Theater-] Fassungen von Der kleine Napoleon bzw. Panama – wobei Musil einige Zeit beabsichtigte, daraus s/einen Kriegsroman zu entwickeln – die dann in den Komplex der Spion-Entwürfe übergeführt werden; allesamt Vorstufen für den Mann ohne Eigenschaften.)


Panama.

Zimmer des Chefs der Operations-Kanzlei. Aneinandergeschobene, mit Karten bedeckte Tische. An den Wänden eine Karte der Monarchie mit den Etappeneinrichtungen (Grenze zwischen engerem und weiterem Kriegsgebiet, Etappenraum, Hinterland, Kurierverbindungen, Eisenbahnkommanden, Krankenabschub, Verbotszonen usw.). Und eine Karte in größerem Maßstab von der eigenen Kriegsgebietszone und dem zugehörigen Etappengebiet. Neben einer Balkontür mittelgroßer Schreibtisch. Stehkalender. Ein Stoß Akten. Der Chef der Operations-Kanzlei arbeitet an einem Akt, Brief an einen Bischof oder dergleichen. Feilt mit Genuß.
Der Generalstabs-Hauptmann mit der Hiobspost kommt. Das Bataillon 49 am Cauriol abgeschnitten, 60% Verluste. – »Lieber H., ich habe dir ein für allemal gesagt, daß ich das nicht vertrage. Diese Marathonläuferatemlosigkeit. Wer mich erschreckt und deprimiert, das ist kein Mitarbeiter für mich. xte ID und 15. Gebirgsjäger-Bataillon, Landsturm-Infanterie-Bataillon 169 ist von A nach B zu verschieben. 2 Kompanien IV. Infanterie-Regiment 14 treffen morgen abend in B ein. Nach Eintreffen ist Bataillon 49 abzulösen und hat sich in A zu retablieren. Was glaubst du, die braven Burschen, die da gefallen oder in Gefangenschaft geraten sind, sind zu bedauern, aber ist es eine Affäre? Und selbst wenn das ganze Bataillon zum Teufel gegangen wäre.«
Es klopft. Schager tritt ein. Mit Genuß wird der Brief besprochen. Becher zündet sich die weggelegte Zigarre dazu an. Gibt Maximen von sich. Erziehungsgrundsätze anknüpfend an die Behandlung Hubitzkys. »Übrigens wäre ich lieber Theaterdirektor geworden oder Hotelier.« Große Politik wird gestreift. Der Rapport indessen erledigt.
Der Chef der technischen Gruppe kommt mit dem Rapport. Unterschreibt, unterschreibt; hie und da Zwischenfragen. Der Chef der Material-Gruppe kommt etwas nachsehn, ebenso der Chef der Nachrichten-Abteilung. Man plaudert zwischendurch. Familienangelegenheiten. Der Telefon-Chef kommt zwischendurch und der der Detail-Abteilung »nur noch mit einem dringenden Akt« – Becher stöhnt. Ein Frontstabs-Offizier kommt etwas sich richten. Ein General macht Antrittsvisite. Einen Moment allein. Sieht auf der Karte nach. Der Rapportstoß ist riesig angewachsen. Schreibt eilig. Hat einen Generalstabs-Hauptmann rufen lassen, fragt kurz etwas.
Es klopft, Marietta tritt ein. Erstaunen. »Der Feldgendarm hat mich erkannt und durchgelassen.« »Ich werde den Kerl einsperren lassen.« »Nein, Maxl, das wirst du nicht tun.« »Das ist diese verfluchte Nachgiebigkeit bei uns« – reflektiert über Volkscharakter usw. »Aber du mußt wenigstens gleich wieder gehn, was willst du?« »Also der alte Esel der – – hat

mir nicht den Gärtner geschickt, und den (Burschen) Franz will er einsperren, weil …« »Ja, da hat er recht, da kann ich nichts machen. Aber .. das .. – da hat er auch nicht unrecht.« »Aber den Gärtner hat er mir nicht geschickt, er hat dem Franz gesagt: …« »So? Warum sagst du das nicht zuerst?« – Telefon. Oberst X. – »Das wäre übel, wenn ich vielleicht nicht einmal einen Weg in meine Wohnung haben sollte, wo ich so oft mitten in der Nacht – Ja, Oberst X.? Herr Oberleutnant: wo ist der Herr Oberst – – Aber der Herr Oberst muß doch zu erreichen sein – Also schicken Sie sofort! Der Herr Oberst soll sofort zu mir kommen.« – »Dem werde ich schon den Kopf zurechtsetzen. Aber jetzt geh ich, muß zum Alten.« (Das Telefon läutet.) »Hier Becher. Ja, gut.« »Geh schnell, der alte X. stürmt schon die Treppe herauf zum Gericht. Geh anders herum, da da – damit du ihm nicht begegnest.« (ab.) (Oder. Versteckt sie hinter einer Doppeltür, damit sie zuhört.) – Läutet der Ordonnanz. Gibt den Rapport in die Ledertasche. – Oberst X. tritt ein: »Du hast mich herbefohlen, lieber Becher?« – »Ja, Herr Oberst. Ich wollte mit dir sprechen. Warum bist du gegen mich so grausam?« »Ich grausam? Ah, da scherzt du wohl?« – »Du willst mir meinen Diener einkerkern, damit ich ungeputzte Stiefel habe?« – »Nein nein, ich wollte ihn nur schrecken.« – »Nein nein, bitte, wenn du glaubst, tue es selbstverständlich.« – »Aber nein – nicht der geringste Anlaß. Ja und dann …« »Ja – da – Vorschrift – Hm? Und was meinst du: bezweckt die Vorschrift, daß der Chef der Operations-Abteilung den Fuß brechen soll?« – »Nein, natürlich nicht.« – »Oder hast du ein anderes Quartier für mich vielleicht vorbereitet, in das ich heute abend fix und fertig einziehen kann?« – »Aber gewiß nicht, so war es nicht gemeint, bloß die Vorschrift …« »Gut, ich werde dir etwas sagen, verehrter Herr Oberst. Du kennst mich. Ich bin der erste, dem jedes Packeln mit der Vorschrift zuwider ist und der jedes Panama unterdrückt. Aber ich bin der Meinung, daß Befehle sinngemäß befolgt werden müssen und daß ein Platzkommandant es sich nicht bequem machen darf – verstehst du, ich sage bequem – indem er sich an die Buchstaben des Erlasses wie an einem Geländer hält – sondern daß er ihn in Einklang mit den Bedürfnissen zu bringen hat.« – »Aber ich bitte, selbstverständlich, wenn du befiehlst, Herr Oberstleutnant.« – »Ich befehle gar nicht. Ich bin nicht dazu da, jeden Quark zu befehlen. Ich verlange von Platzkommandanten, daß ich daran gar nicht zu denken brauche. Herr Oberst, mein Kompliment, ich muß zum Generalstabs-Chef.« – 
Oberst verbeugt sich ratlos, in der Türe macht er in seiner Verwirrung einem Landsturm-Oberleutnant Platz – Dieser trägt den Kronenorden. – Oberst ab.
»Herr Oberstleutnant« – »Ah – ah!« – »Ich melde gehorsamst mein Einrücken zum Kommando.« »Ah, Doktorovich! Servus, lieber Alter. Na, es hat etwas Mühe gekostet. Also wir plauschen dann. Ich muß jetzt zum Chef. Nimm Platz. Es wird etwas dauern. Zigarren stehn dort.« (ab.)

Der Front-Oberleutnant stellt sich zum Fenster. Coitkovic als Proviant-Offizier tritt ein. Stellt sich jovial nachlässig vor. Spricht ein paar Worte, ziemlich respektlos über Becher – Es kommen jetzt der Reihe nach: die Ordonnanz-Offiziere Graf A., Baron B., der Jude Rittmeister von Safarovic. Wieder der Chef der Nachrichten-Abteilung, Brigadier S. – Der Chef der Detail-Abteilung. – Es entspinnt sich eine allgemeine Konversation. Panamistisch – Gegensatz gegen die Front. Vorher sieht ein Oberleutnant durch die offene Tür, daß Becher nicht da ist, bittet Coitkovic um eine Gefälligkeit. Ausgeschlossen!
Endlich kommt Becher zurück. Übler Laune. Haucht den Chef der Detail-Abteilung an. Liebenswürdig gegen die Ordonnanz-Offiziere, die sich verabschieden. Coitkovic muß einen Augenblick bleiben. Will das gleiche von ihm, das der Oberleutnant wollte. Erhält es selbstverständlich.
»Also, Gott sei Dank, eine Viertelstunde früher fertig. Wir gehn vor dem Essen in den Hotelpark.« »Deine Frau?« »Kommt – Nachmittag mußt du zu meiner Frau ..« Der Oberleutnant macht irgend eine Feststellung über Front und Kommando – berührt nicht angenehm. Generalstabs-Hauptmann H. kommt mit einer kleinen neuen Hiobspost – diesmal getreu der Unterweisung schon forciert optimistisch 
»Ach, Herr Oberstleutnant, ich bitte, nur ein Augenblick, eine interessante Nachricht ..« 
ab
Kinsky mit seinen Besserungsvorschlägen. 
Oberleutnant Schmidt, Präfekt am Theresianum. »Ein Herr in Ihrer Stellung, Exzellenz …« 
Marietta: »Mich werden die Engländer nicht so leicht aushungern!«


Und es begab sich …


In der Prager Presse v. 10. Dezember 1927 findet sich Unter dem Strich – im Feuilleton – der Text Denkmale von Robert Musil (S. 4f.); eine Seite davor (3) steht, verfasst vom mindestens so berühmten Cousin Alois Musil – Orientalist, Forscher, ›k.u.k. Lawrence of Arabia‹, Abenteurer, Theologe &c. –, der Text Panamakanal. Dies sei aus Freude an Koinzidenzen angeführt:

Der Panamkanal.
Von Prof. Alois Musil.

Die Spanier studierten bereits 1515 die Landenge von Panama und überreichten 1525 dem König einen Vorschlag auf die Errichtung eines Kanals, der den Atlantischen Ozean mit dem Stillen verbinden sollte. Doch hatte Karl V. wichtigere Sorgen und wollte die hohen Kosten dieses Werkes nicht tragen. Seit der Zeit wurde das Kanalprojekt sehr oft besprochen und die britische Regierung ließ es nicht aus den Augen. Sie hoffte, daß andere den Isthmus durchstehen und daß sie darnach die Aktien ankaufen werde, so wie es ihr mit dem Suezkanal glückte. Es schien, daß sie recht spekulierte.
Im Mai 1878 erhielt Lucien R. B. Wyse mit einigen Kollegen von der Republik Kolumbien die Ermächtigung, einen Kanal durch die Landenge von Panama zu errichten und ihn 99 Jahre zu besitzen. Ein Jahr später fand ein internationaler Ingenieurkongreß in Paris statt, der das Projekt des Panamakanals studierte und dessen Durchführung mit Stimmeneinhelligkeit befürwortete. Es wurde die Compagnie Universelle du Canal Interocéanique de Panama gegründet, die den Erbauer des Suezkanals Ferdinand de Lessens [sic] zum Präsidenten wählte und sich verpflichtete, den Panamakanal in der Seehöhe mit der Einwendung von $ 127,600.000 in acht Jahren zu errichten. Sie begann mit ihren Arbeiten schon 1881 und vollendete beiläufig zwei Fünftel des Werkes, als die Tätigkeit durch Malversationen lahm gelegt wurde und sie im Februar 1889 amtlich als insolvent erklärt wurde. Die Aktionäre büßten ihr Geld, französische Beamte und Ingenieure das Volksvertrauen ein und das Projekt wurde von vielen als begraben betrachtet. Doch haben sie sich in der Energie des französischen Volkes getäuscht.
Ueber allgemeinen Wunsch der Bevölkerung errichtete die französische Regierung 1890 eine besondere internationale Kommission, die die Fertigstellung des Panamakanals, aber nicht in Seehöhe, sondern mit Schleusen, befürwortete und die Kosten mit $ 175,000.000 voranschlagte. Infolgedessen wurde im September 1894 eine neue Gesellschaft des Panamakanals errichtet, die das Eigentum der insolventen übernahm und das Werk zu Ende zu führen beabsichtigte. Doch war es ihr sehr schwer, ja fast unmöglich, die nötigen Mittel zu erhalten, welcher Umstand sie zwang, die Hilfe der Vereinigten Staaten anzuflehn.
Die Vereinigten Staaten von Amerika kümmerten sich um den Panamakanal insbesondere seit 1848, als sie sich ungeheure Gebiete der mexikanischen Republik aneigneten und die Ostküste der Union mit der Westküste auf einen bequemeren Weg als um Südamerika herum zu erreichen trachteten. Ueber Auftrag des Präsidenten MacKinley [sic] wurde 1899 in Washington eine besondere Kommission zusammengestellt, die sowohl den Panamakanal studieren und mit der neuen Panamagesellschaft verhandeln als auch das Projekt des sogenannten Nicaraguakanals ausarbeiten sollte. Die Verhandlungen mit der Panamagesellschaft zogen sich in die Länge, da sie übermäßige Forderungen stellte, um so viel als möglich für ihr Material und ihre Konzession herauszuschlagen. Infolgedessen schlug die amerikanische Kommission dem Präsidenten vor, von dem Panamakanal Abstand zu nehmen und einen eigenen amerikanischen Seeweg durch Nicaragua zu errichten. Dieser Vorschlag wirkte. Die Panamagesellschaft ließ von allen Ansprüchen ab und erklärte sich mit einer Abfindungs-Summe von $ 40,000.000 einverstanden. Für die Betrag sollten die Vereinigten Staaten nicht nur die Konzession, sondern auch das geleistete Werk und das angehäufte Material erhalten. Im Juni 1902 ermächtigte der Kongreß den Präsidenten, der Panamagesellschaft den beanspruchten Betrag auszuzahlen, vorausgesetzt, daß die Rechtslage der Konzession festgestellt ist. Gleichzeitig hatte der Staatssekretär für Kriegswesen den Kanal zu vollenden, und zwar um den Höchstbetrag von $ 145,000.000.
Die Washingtoner Regierung überzeugte sich bei der Republik von Kolumbien, daß die Konzession der Panamagesellschaft rechtlich bindend sei, zahlte am 16. Februar 1903 die $ 40,000.000 aus und wurde Eigentümerin des zu errichtenden Panamakanals.