In Robert Musils Erzählung Die Portugiesin (EA 1923: Handpressendruck der Offizinal Serpentis in Berlin Steglitz; Auflage: 200 Ex.) gibt es die etwas enigmatische Stelle:
Er bemerkte auch spät erst, daß ihm seine Mütze zu groß geworden war. Die weiche Fellmütze, die immer etwas stramm gesessen hatte, sank bei einem leichten Zug bis ans Ohr herunter, das sie aufhielt. Sie waren selbdritt, und seine Frau sagte: »Gott, dein Kopf ist ja kleiner geworden!« – Sein erster Gedanke war, daß er sich vielleicht habe die Haare zu kurz scheren lassen, er wußte bloß im Augenblick nichts, wann; er fuhr heimlich mit der Hand hin, aber das Haar war länger, als es sein sollte, und ungepflegt, seit er krank war. So wird sich die Kappe geweitet haben, dachte er, aber sie war noch fast neu und wie sollte sie sich geweitet haben, während sie unbenützt in einer Truhe lag. So machte er einen Scherz daraus und meinte, daß wohl in vielen Jahren, wo er nur mit Kriegsknechten gelebt habe und nicht mit gebildeten Kavalieren, sein Schädel kleiner geworden sein möge. Er fühlte, wie plump ihm der Scherz vom Munde kam, und auch die Frage war damit nicht weggeschafft, denn kann ein Schädel kleiner werden? Die Kraft in den Adern kann nachlassen, das Fett unter der Kopfhaut kann im Fieber etwas zusammen- schmelzen: aber was gibt das aus?! Nun tat er zuweilen, als ob er sich das Haar glatt striche, schützte auch vor, sich den Schweiß zu trocknen, oder trachtete, sich unbemerkt in den Schatten zurückzubeugen, und griff schnell, mit zwei Fingerspitzen wie mit einem Maurerzirkel, seinen Schädel ab, ein paar mal, mit verschiedenen Griffen: aber es blieb kein Zweifel, der Kopf war kleiner geworden, und wenn man ihn von innen, mit den Gedanken befühlte, so war er noch viel kleiner und wie zwei dünne aufeinandergeklappte Schälchen.
Robert Musil: Die Portugiesin. In: Ders.: Gesamtausgabe Bd. 8: Bücher II. Hg. v. Walter Fanta. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2019, S. 278–305, hier S. 295
Die Geschichte und insbesondere diese Passage haben eine Vorgeschichte. Zu den (auto-) biografischen Verschränkungen der Vorschriften (4. Isonzo-Schlacht Dezember 1915, Stellungskrieg im Kampfabschn ist Arabba im Februar 1916, schwere Erkrankung, drei Lazarette und ein Genesungsurlaub, erst im Mai 1916 wieder in Bozen, dazwischen das Wiedersehen mit seiner Frau; überdies die Verbindung zu anderen Texten und Vorstufen des Zeitraums) und den ersten ausführlichen Skizzen dieser bemerkenswerten phrenologischen Folge eines Kriegsgeschehens und fiebernder Krankheit nahe dem Tod siehe das Nachwort des Herausgebers in GA 8, S. 597f. (Dort auch die gut belegte Vermutung, dass die Fertigstellung des Textes erst knapp vor dem Erstdruck am 17. November 1923 erfolgte.) Diese uns interessierenden Vorstufen Musils, erhalten im Nachlass mit den Signaturen IV/2/209 und IV/2/211 (s.u.), entstehen 1916/17. Neben diesen findet sich die zunächst unbemerkte Verkleinerung des K(riegerk)opfes sowohl im Handpressendruck 1923 als auch in Die Genesung (einem Ausschnitt aus Die Portugiesin, mit der auch Werbung für den knapp danach erscheinenden Band Drei Frauen – Rowohlt Berlin 1924 – betrieben wird), dreiteilig abgedruckt in der Prager Presse am 27., 28. und 30.3.1924.
Zu den beiden Seiten, die hier als Vorstufen bezeichnet wurden, IV/2/209 und IV/2/211, die Musil mit den Sigle ›AN 273 3‹ und ›AN 273 4‹ versieht (AN steht für ›Anfänge und Notizen‹; Musil verwendete sie 1919–1923, als er alle seine bisherigen Aufzeichnungen zu noch unverwirklichten literarischen Projekten sammelte und registrierte) sei noch festgehalten: die Hauptschrift wurde mit schwarzer Tinte, die Nebenschrift mit Bleistift ausgeführt, das Papier ist cremefarben kariert, ein Querblatt im Format 218×273 mm. Die Entstehungszeit kann zwischen Mai 1916 und März 1917 zu liegen gekommen sein.
Du bist angekommen. Du hast deine Frau ein Jahr lang nicht gesehn. Ein Jahr Stellungskrieg ohne Ablösung und Urlaub. Zuletzt hatte dieses Jahr zu schaukeln begonnen, anzusteigen begonnen; wie die Meeresfläche vor der Seekrankheit sich hebt. 38° Fieber, 39°, 40°: immer steiler mit jeder Stunde. Dann bist du getragen worden und sacht geschaukelt, #auf dem gehobenen Spiegel von 40° Fieber# auf 40 Graden Fiebern wie auf einem gehobenen Wasserspiegel, den du zugleich von unten, von der matten Seite, *des weggebrochenen Lichtes sahst.* \*von der das Licht weggebrochen ist, gesehn hast. Tagelang. Wochen.*| Nun steht deine Frau zwischen den müssig grünen Bäumen der Allee, die vom Bahnhof im Bogen zum Waltherplatz führt, hat dich erwartet u. sagt: Gott, dein Kopf ist ja kleiner geworden.
Musil, Nachlass, IV/2/209 AN 272 3
Dein Kopf ist kleiner geworden, das bemerkst du nun auch; zum erstenmal. Die weiche Feldkappe, die immer etwas stramm saß, sinkt bei einem leichten Zug bis zum Ohransatz hinunter, der sie aufhält. Dein erster Gedanke ist, daß du dir vielleicht die Haare zu kurz hast schneiden lassen; du weißt im Augenblick gar nicht, ob du überhaupt .. du fährst hin, aber das Haar ist sogar länger als es sein sollte. So wird sich die Kappe geweitet haben, aber sie ist noch ziemlich neu u. wie soll sie sich geweitet haben, während sie unbenutzt neben deinem Bett auf einem Stuhl lag. Also machst du einen Scherz daraus und sagst, daß du wohl im Feld dumm geworden sein wirst. Fühlst natürlich, wie ichlos dieser Scherz ist. Und die Angelegenheit ist natürlich auch nicht beendet. Du schützst vor, daß du dir das Haar glatt streichst oder den Schweiß trocknest, trachtest auch einmal, bloß einen halben Schritt zurückzubleiben und dich halb hinter deine Frau zu schieben und und greifst schnell mit zwei Fingerspitzen wie mit einem Tastzirkel deinen Schädel zu beiden Seiten an. Ein paarmal mit verschiedenen Griffen. \°So wie man die Schädel der Toten prüft, um ihre Rasse festzustellen.°|
Einige Schritte später habt ihr ein Automobil bestiegen, das dort gewartet hat. Warum nicht am Bahnhof? Das Auto gehört zum Kommando, dem du angehören wirst; Privatfahrten sind verboten. Dein Freund hat es hergeliehn. Du hast ihn #J# jahrelang nicht gesehn; deine Frau hat ihn zufällig in Bozen getroffen; er hat dich hiehergebracht, wo du dich erholen sollst. Du erinnerst dich unklar an die Sache, du hattest ihr nicht viel Teilnahme geschenkt; Telegramme waren beim Spitalskommando gekommen und gegangen, Anfragen nach deinem Befinden, der Befehl, daß du nach deiner Genesung hieher einrücken sollst. Das waren Blätter gewesen, die alsbald von deinem Zustand aufgenommen wurden, glatt auf der Wasserfläche liegend, verschaukelnd. Du hast keinen Finger gerührt, um deine Frau wiederzusehen. Du hast sie trotzdem sehr geliebt. Jetzt entstehen in dir die Begriffe, die dir damals gefehlt haben. Du glaubst ja nicht an Gott, aber – man kann es gar nicht anders sagen: -– Gott war dir damals sehr nahe. Mit allem Vorbehalt. Du hast nicht einmal in jenen Stunden an ihn geglaubt, wo aus der dämmrigen Flut plötzlich dein klares Bewußtsein wie eine Insel auftauchte, und dir still und deutlich sagte: diese Stunden sind deine letzten oder du nimmst dich zusammen. Immerhin, du hattest ja auch nie geglaubt, daß Sterben so friedlich ist. Man stirbt mit einem Teil seines Wesens voran; man löst sich auf; wie ein Zug. Während die #Knochen# \°äußere Erscheinung°| noch im Bett liegen und das Bett da ist und der Umschlag und das Enträtselnwollen des Gesichts, das der Arzt macht (aus Neugierde, zur Abwechslung) ist alles was man liebt schon weit voran. Die Sicherheit des Ichseins, des Dichhabens sind sanft, sacht aus dir hinausgetreten u. haben sich von dir entfernt; du siehst sie noch, du weißt, du wirst sie dann mit mächtigen Sprüngen einholen; und weißt eigentlich nicht, bist du #noch# \schon| bei ihnen oder noch hier. Mit allem Vorbehalt sagt man sich: das könnte ja auch Gott sein. Man grübelt nicht, man zweifelt nicht, man glaubt nicht. Wenn das aber Gott ist, dann ruht man im Sterben mitsamt seiner Geliebten in Gottes Arm#en# und seine Arme °sind° \#tragen#| #wie# zwei Wasserflächen und fließen ineinander. Aber man läßt kein Telegramm, keinen Brief beantworten, man schert sich nicht um die Angst der Frau, die keine Bewilligung zur Reise erhalten hat und hält alles für wohl geordnet.
Heute, während sie dir Vorwürfe deswegen macht, fällt dir natürlich ein, ob sie denn wirklich unter gar keinen Um=
°ständen das Kriegsgebiet hatte verlassen können, trotzdem du im Sterben lagst. Du stellst dir die Vorschriften zusammen. Freilich niemand hatte ihr Nachricht gegeben, wie ernst es stand, und so fehlte die Grundlage. Eine Offensive wird vorbereitet und man ist verdoppelt streng. Aber dein Freund ist doch mächtig. Er ist die rechte Hand des Generalstabschefs. Warum fuhr das Auto nicht bis zum Bahnhof? Kann er das nicht? Heimlich borgen kann er es, aber nach außen muß der Schein gewahrt bleiben. Nachdem deine Frau ihn getroffen hatte, bestand die Hoffnung, dich herzuholen; erst in ein Bozener Spital, dann die Sache mit dem Kommando. Aber es hielt so schwer, verläßliche Nachricht von dir zu bekommen.
Musil, Nachlass, IV/2/211 AN 272 4
Kann ein Schädel kleiner werden? Der Druck in den Adern kann nachlassen, das Fett unter der Kopfhaut kann im Fieber etwas zusammenschmelzen, aber was gibt das aus? So bleibt ein Rätsel, denn tatsächlich ist der Kopf kleiner geworden und befühlt sich – von innen mit der Vorstellung – sogar noch viel kleiner, zwei dünne Schälchen aufeinander geklappt. Man kann ja vieles nicht erklären, aber man trägt es nicht auf den Schultern und fühlt es nicht bei jeder Bewegung des Halses.