Selbstleben und Bureaukratie

Wenn das Organ ein zu starkes Selbstleben gewinnt und sein Wertakzent nicht mehr auf dem liegt, was es der Gruppe leistet, sondern was es für sich selbst ist – so kann seine Selbsterhaltung mit der der Gruppe selbst in Konflikt kommen. Ein meistens harmloser, aber gerade deshalb den Typus sehr rein repräsentierender Fall dieser Art ist die Bureaukratie. Das Bureauwesen, eine formale Organisation zur Durchführung einer ausgedehnteren Verwaltung, bildet in sich einen Schematismus aus, der mit den variablen Erfordernissen des praktisch sozialen Lebens sehr oft kollidiert, und zwar einerseits, weil das Fachwerk des Bureauwesens nicht auf sehr individuelle und komplizierte Fälle eingerichtet ist, die nun dennoch innerhalb seiner erledigt werden müssen, andrerseits, weil das Tempo, in dem die Bureaumaschinerie allein arbeiten kann, oft in schreiendem Widerspruch gegen die Dringlichkeit des einzelnen Falles steht. Wenn nun ein nur unter solchen Unzuträglichkeiten funktionierendes Gebilde seine Rolle als blo[ß] dienendes Organ vergißt und sich als Selbstzweck seiner Existenz gebärdet, so muß die Differenz zwischen seinen Lebensformen und denen der Totalgruppe sich zu einer direkten Schädigung der letzteren zuspitzen. Die Selbsterhaltungen beider sind nicht mehr miteinander verträglich. Man könnte in dieser Hinsicht den bureaukratischen Schematismus mit dem logischen vergleichen, der sich zu dem Erkennen der Wirklichkeit überhaupt verhält wie jene zu der staatlichen Verwaltung: eine Form und ein Werkzeug, unentbehrlich in der organischen Verbindung mit den Inhalten, die es zu gestalten berufen ist, in denen aber auch sein ganzer Sinn und Zweck liegt. Wenn die Logik indes sich als selbständige Erkenntnis auftut, und ohne Rücksicht auf die realen Inhalte, deren bloße Form sie ist, sich anmaßt, ein abgeschlossenes Wissen aus sich selbst aufzubauen, so konstruiert sie sich eine Welt, die mit der wirklichen in erheblichem Gegensatz zu stehen pflegt. Die logischen Formen in ihrer Abstraktion zu einer besonderen Wissenschaft sind ein bloßes Organ der Totalerkenntnis der Dinge; sobald sie statt dieser Rolle eine völlige Selbstgenügsamkeit erstrebt und sich für den Abschluß statt für ein Mittel der Erkenntnis hält, so ist sie für die Erhaltung, den Ausbau und die Einheit der Gesamtheit des Erkennens so hemmend, wie es gelegentlich der bureaukratische Schematismus gegenüber der Gesamtheit der Gruppeninteressen werden kann. Darum hat man von dem Kollegienwesen und dem »Provinzialsystem« gesagt, es wäre zwar minder konsequent, sachkennerisch, verschwiegen, als das bureaukratische Fachsystem; dafür aber milder und rücksichtsvoller, geneigter, die Person des Untertanen und die für sie etwa angezeigte Ausnahme von der unerbittlichen Regel gelten zu lassen. Es ist in diesen Systemen eben die abstrakt staatliche Funktion noch nicht so objektiv und selbstherrlich geworden, wie in der Bureaukratie. 

Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Hg. v. Ottheim Rammstedt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992 (Gesamtausgabe Bd. 11), S. 635–637.