Bibliothek (von Babel)

Beginnen wir, angesichts der Ehrwürdigkeit unseres Gegenstandes, mit einer Lesung aus der Schrift; nicht zu Informationszwecken, denn wenn man aus einem heiligen Buch liest, wissen schon alle, was es besagt, son­dern in liturgischer Absicht, zur rechten Einstimmung des Geistes. Also: [1]

Die Bibliothek von Babel

Das Universum, das andere die Bibliothek nennen, setzt sich aus einer undefinierten, womöglich unend­li­chen Zahl sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten Entlüftungsschächten in der Mitte, die mit sehr niedrigen Geländern eingefaßt sind. Von jedem Sechseck aus kann man die unteren und oberen Stockwerke sehen: grenzenlos. Die Anordnung der Galerien ist unwandelbar dieselbe. Zwanzig Bücherregale, fünf breite Regale auf jeder Seite, verdecken alle Seiten außer zweien: ihre Höhe, die sich mit der Höhe des Stockwerks deckt, übertrifft nur wenig die Größe eines normalen Bibliothekars. Eine der freien Wände öffnet sich auf einen schmalen Gang, der in eine andere Galerie, genau wie die erste, genau wie alle einmündet. Links und rechts am Gang befinden sich zwei winzigkleine Kabinette. In dem einen kann man im Stehen schlafen, in dem anderen seine Notdurft verrichten. Hier führt die spiralförmige Treppe vorbei, die sich abgrundtief senkt und sich weit empor erhebt. In dem Gang ist ein Spiegel, der den äußeren Schein verdoppelt. Die Menschen schließen gewöhnlich aus diesem Spiegel, daß die Bibliothek nicht unendlich ist (wäre sie es in der Tat, wozu diese scheinhafte Verdoppelung?); ich gebe mich lieber dem träumerischen Gedanken hin, daß die polierten Oberflächen das Unendliche darstellen und verheißen … Licht spenden ein paar kugel­förmige Früchte, die den Namen »Lampen« tragen. Es gibt deren zwei in jedem Sechseck, seitlich ange­bracht. Das Licht, das sie aussenden, ist unzureichend, unaufhörlich.

Wie alle Menschen der Bibliothek bin ich in meiner Jugend gereist; ich habe die Fahrt nach einem Buch angetreten, vielleicht dem Katalog der Kataloge; jetzt können meine Augen kaum mehr entziffern, was ich schreibe; ich bin im Begriff, nur ein paar Meilen von dem Sechseck, wo ich geboren wurde, zu sterben. Wenn ich tot bin, wird es nicht an mitleidigen Händen fehlen, die mich über das Geländer werfen werden; mein Grab wird die unauslotbare Luft sein; mein Leib wird immer tiefer sinken und sich in dem von dem Sturz verursachten Fallwind zersetzen und auflösen. Ich behaupte, daß die Bibliothek kein Ende hat. Die Idealisten argumentieren, daß die sechseckigen Säle eine notwendige Form des absoluten Raums sind, oder zumindest unserer Anschauung vom Raum. Sie geben zu bedenken, daß ein dreieckiger oder fünfeckiger Saal unfaßbar ist. (Die Mystiker behaupten, daß die Ekstase ihnen ein kreisförmiges Gemach offenbart, mit einem kreisförmigen Buch, dessen Rücken rund um die Wand läuft; doch ist ihr Zeugnis verdächtig; ihre Worte sind dunkel; dieses zyklische Buch ist Gott.) Für jetzt mag es genügen, wenn ich den klassischen Spruch zitiere: Die Bibliothek ist eine Kugel, deren eigentlicher Mittelpunkt jedes beliebige Sechseck ist, und deren Umfang unzugänglich ist.

Auf jede Wand jedes Sechsecks kommen fünf Regale; jedes Regal faßt zweiunddreißig Bücher gleichen Formats; jedes Buch besteht aus einhundertzehn Seiten, jede Seite aus vierzig Zeilen, jede Zeile aus achtzig Buchstaben von schwarzer Farbe; Buchstaben finden sich auch auf dem Rücken jeden Buches; doch be­zeichnen die Buchstaben nicht, deuten auch nicht im voraus an, was die Seiten sagen werden. Ich weiß, daß dieser fehlende Zusammenhang zuweilen mysteriös angemutet hat. Bevor ich die Lösung, deren Entdeckung trotz ihrer tragischen Auswirkungen wohl der Hauptgegenstand der Geschichte ist, in gedrängter Form wie­dergebe, will ich ein paar Axiome ins Gedächtnis zurückrufen. 

Erstes Axiom: Die Bibliothek existiert ab aeterno. An dieser Wahrheit, aus der unmittelbar die künftige Ewigkeit der Welt folgt, kann kein denkender Verstand zweifeln. […]

Zweites Axiom: Die Anzahl der orthographischen Symbole ist fünfundzwanzig. [2] Diese Feststellung ermög­lich­te es vor dreihundert Jahren, die allgemeine Theorie der Bibliothek in Worte zu fassen, und das Pro­blem, das keine Konjektur entschlüsselt hatte, befriedigend zu lösen: die formlose und chaotische Beschaf­fen­heit nämlich fast aller Bücher. […]

Vor fünfhundert Jahren stieß der Chef eines höheren Sechsecks [3] auf ein Buch, das so verworren war wie die anderen, das jedoch fast zwei Bogen gleichartiger Zeilen aufwies. Er zeigte seinen Fund einem ambulan­ten Entzifferer, der zu ihm sagte, sie seien auf Portugiesisch abgefaßt; andere sagten dagegen, auf Jiddisch; bevor ein Jahrhundert um war, konnte die Sprachform bestimmt werden: es handelte sich um einen samo­jedisch-litauischen Dialekt, mit einem Einschlag von klassischem Arabisch. Auch der Inhalt wurde ent­schlüsselt: es waren Begriffe der kombinatorischen Analysis, dargestellt an Beispielen sich unbe­grenzt wie­derholender Variationen. Diese Beispiele setzten einen genialen Bibliothekar instand, das Fun­da­mental­gesetz der Bibliothek zu entdecken. Und zwar stellte dieser Denker fest, daß sämtliche Bücher, wie verschie­den sie auch sein mögen, aus den gleichen Elementen bestehen: dem Raum, dem Punkt, dem Komma und den zweiundzwanzig Lettern des Alphabets. Auch führte er einen Umstand an, den alle Reisenden bestätigt haben:In der weiträumigen Bibliothek gibt es nicht zwei identische Bücher. Aus diesen unwiderleglichen Prämissen folgerte er, daß die Bibliothek total ist und daß ihre Regale alle irgend möglichen Kom­bi­na­tio­nen der zwanzig und soviel orthographischen Zeichen (deren Zahl, wenn auch außerordentlich groß, nicht unendlich ist) verzeichnen, mithin alles, was sich irgend ausdrücken läßt: in sämtlichen Sprachen.

Alles […]. Als verkündet wurde, daß die Bibliothek alle Bücher umfasse, war der erste Eindruck ein überwäl­tigendes Glücksgefühl. Alle Menschen wußten sich Herren über einen unversehrten und geheimen Schatz. Es gab kein persönliches, kein Weltproblem, dessen beredte Lösung nicht existierte: in irgend­einem Sechs­eck. […] In dieser Zeit war viel die Rede von »Rechtfertigungen«: apologetische und prophe­tische Bücher recht­fertigten für immer die Taten jedes Menschen auf Erden, hüteten wundersame Arcana für seine Zukunft. Tausende, die es nach Rechtfertigung gelüstete, verließen ihr trautes Heimatsechseck und jagten die Treppen empor, von dem eitlen Vorsatz getrieben, Rechtfertigung zu finden.

[…] Die Rechtfertigungen existieren: […] aber die Sucher bedachten nicht, daß die Chance, daß ein Mensch die seine oder eine schnöde Spielart der seinen finde, gleich Null ist.

[…] Andere waren umgekehrt der Meinung, zuallererst müßten die überflüssigen Bücher ausgemerzt werden. Sie brachen in die Sechsecke ein, zeigten nicht immer falsche Beglaubigungsschreiben vor, blätterten ver­drossen in einem Band und verdammten ganze Regale. Ihr hygienischer Asketeneifer trägt die Schuld da­ran, daß Millionen Bücher sinnlos vernichtet wurden. Heute sind ihre Namen ein Greuel; wer aber die The­sauri beklagt, die ihrer Wut zum Opfer fielen, übersieht zwei allbekannte Tatsachen; die eine: die Bibliothek ist so gewaltig an Umfang, daß jede Schmälerung durch Menschenhand verschwindend gering ist. Die an­de­re: jedes Exemplar ist zwar einzig, unersetzlich, aber da die Bibliothek total ist, gibt es immer einige hunderttausende unvollkommener Faksimiles, und zwar von Werken, die nur in einem Buchstaben oder Komma voneinander abweichen. […]

Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, daß es in irgendeinem Regal des Universums ein totales Buch gibt, [4] ich flehe zu den unerkannten Göttern, es möge einen Menschen geben – einen einzigen, und habe er vor tausenden von Jahren gelebt –, der es untersucht und gelesen hat. […] 

In der Tat birgt die Bibliothek alle Wortstrukturen, alle im Rahmen der fünfundzwanzig orthographischen Sym­bole möglichen Variationen, aber nicht einenabsoluten Unsinn. […] Ich kann nicht etliche Schrift­zei­chen kombinieren

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die nicht die göttliche Bibliothek bereits vorausgesehen hat und die in irgendeiner ihrer Geheimsprachen einen furchtbaren Sinn bergen. […] Sprechen heißt in Tautologien verfallen. Diese überflüssige und wort­reiche Epistel existiert bereits in einem der dreißig Bände der fünf Regale eines der unzähligen Sechsecke – und auch ihre Widerlegung. Eine Zahl möglicher Sprachen verwendet den gleichen Wortschatz: in einigen läßt das Symbol Bibliothekdie korrekte Definition zu: überall vorhandenes und fortdauerndes System sechs­eckiger Galerien, aber Bibliothekist Brotoder Pyramideoder irgend etwas anderes, und die sieben Wörter die sie definieren, haben einen anderen Bedeutungswert. Bist du, Leser, denn sicher, daß du meine Sprache verstehst? 

Die methodische Schrift zieht mich von der gegenwärtigen Verfassung der Menschen ab. Die Gewißheit, daß alles geschrieben ist, macht uns zunichte oder zu Phantasmen. Ich kenne Bezirke, in denen die Jungen sich vor den Büchern niederwerfen und mit ungezügelter Wildheit die Seiten küssen, aber nicht einen Buch­staben verstehen. […] Ich glaube, ich sprach schon von den Selbstmorden, die jedes Jahr häufiger werden. […]

Ich schrieb: unendlich. Nicht aus rhetorischer Gewohnheit ist mir dieses Adjektiv in die Feder geflossen; es ist nicht unlogisch, zu denken, daß die Welt unendlich ist. Wer sie für begrenzt hält, postuliert, daß an weit entfernten Orten die Gänge und Treppen und Sechsecke auf unfaßliche Art aufhören, was absurd ist. Wer sie für schrankenlos hält, vergißt, daß die mögliche Zahl der Bücher Schranken setzt. Ich bin so kühn, folgende Lösung des Problems zu bedenken zu geben: Die Bibliothek ist schrankenlos und periodisch. Wenn ein ewiger Wanderer sie in irgendeiner beliebigen Richtung durchmessen würde, würde er nach Ablauf einiger Jahrhunderte feststellen, daß dieselben Bände in derselben Unordnung wiederkehren (die, wiederholt, eine Ordnung wäre, der Ordo). Meine Einsamkeit gefällt sich in dieser eleganten Hoffnung.

1941, Mar del Plata. [5]

Amen.

Der Abschnitt stammt, wie jeder weiß, von Jorge Louis Borges, aus seiner Erzählung Die Bibliothek von Babel[…].

Eine Übung zum Beispiel, die ich verschiedentlich gemacht habe […], betraf zunächst einen sehr elemen­taren vierstelligen Code zur Lokalisierung von Büchern in einer Bibliothek, in dem die erste Stelle den Saal bezeichnet, die zweite die Wand, die dritte das Regal an der Wand und die vierte den Ort des Buches im Regal, so daß eine Signatur wie 3-4-8-6 bedeutet: dritter Saal vom Eingang, vierte Wand links, achtes Regal, sechster Platz. Dann aber merkte ich, daß man auch mit einem so elementaren Code […] sehr interessante Spiele machen kann. Zum Beispiel kann man 3335·3335·3335·3335 schreiben, und schon ergibt sich das Bild einer Bibliothek mit einer immensen Anzahl von Räumen: Jeder Raum hat eine polygonale Form, mehr oder minder wie ein Bienenauge, denn er kann mehr als 3000 oder gar 33.000 Wände haben, und er unter­liegt nicht der Schwerkraft, denn die Regale können sich auch an den oberen Wänden befinden, und jede dieser mehr als 33.000 Wände ist riesig, denn sie kann mindestens 33.000 Regale aufnehmen, und jedes davon ist unglaublich lang, denn es kann mehr als 33.000 Bücher fassen. [6]


[1] Eco, Umberto: Die Bibliothek. Aus d. Italien. v. Burkhart Kroeber. München, Wien: Hanser 1987, p.7.
[2] Das Originalmanuskript enthält werde Kursivschrift noch Majuskeln. Die Inter­punk­tion ist auf Komma und Punkt be­schränkt worden. Diese beiden Zeichen, der Raum und die dreiundzwanzig Buch­staben des Alphabets, sind die 25 ausreichenden Symbole, die der Unbekannte aufzählt. [Fußnote im Original; Anm.]
[3] Ursprünglich kam auf je drei Sechsecke ein Mann. Fälle von Selbstmord und Lungenkrankheit haben die Proportion zerstört. Unsagbar schwermütige Erinnerung: manchmal bin ich nächtelang über blanke Gänge und Treppen geirrt, ohne einen einzigen Bibliothekar zu finden. [Fußnote im Original; Anm.]
[4] Ich wiederhole: die bloße Möglichkeit eines Buches ist hinreichend für sein Dasein. Nur das Unmögliche ist aus­geschlossen. Zum Beispiel: kein Buch ist zugleich eine Treppe, obwohl es bestimmte Bücher gibt, die diese Mög­lichkeit erörtern, leugnen oder beweisen, und andere, deren Struktur einer Treppe entspricht. [Fußnote im Original; Anm.]
[5] Hier zit. nach:  Borges, Jorge Louis: Die Bibliothek von Babel. [Nach der deutschen Übersetzung von Karl August Horst bearbeitet von Gisbert Haefs.] In: J.L.B.: 25. August 1983 und andere Erzäh­lun­gen. München: Goldmann 1989, p.15-27 [Anm.: Der Erzählung ist folgendes Motto vorangestellt: By this art you may contemplate the variation of the 23 letters…(The anatomy of melancholy, part 2, sect. II, mem. IV)]
[6] Eco, Umberto: Die Bibliothek. Aus d. Italien. v. Burkhart Kroeber. München, Wien: Hanser 1987, p.9ff.