Zu Visualität und Literatur um 1900
Einleitung
Als die Gebrüder Lumière am 28. Dezember 1895 die erste öffentlich angekündigte Vorführung der bewegten Bilder in Szene setzen (bereits im März dieses Jahres hatten sie auf einem Photographenkongreß in Lyon zum ersten Mal überhaupt eine Filmvorführung veranstaltet), tritt das bis dahin jüngste Bildmedium seinen Siegeszug an. [☞ 1] Einer der vielen Gründe dafür war ein ökonomischer – die im Gegensatz zu allen anderen visuellen Attraktionen (mit Ausnahme von Ausstellungen, deren räumliche Bedigungen jedoch sehr anderer Natur sind!) der zeit gegebene Massenkompatibilität, die Option für breiteste Bevölkerungsschichten, sich sozusagen »in purpurne Schatten« [☞ 2] zu versenken, eine für damalige Bedingungen noch völlig neue Rezeptionsform.
Bereits 1858 erklärte Lake Price im »Manual of Photographic Manipulation«, daß die Kamera dort eine weitgehende Popularisierung des photographischen Bildes wie Blicks erzielen würde, »wo es gelingen könnte, das Verfahren durch optische und chemische Verbesserungen so zu beschleunigen, daß man jede Dimension und Art von Bild im Augenblick aufnehmen kann.« [☞ 3] Den 24 Kamerabildern pro Sekunde (ab etwa 1927; zuvor meist 16 bis 18) kann die Momentphotographie nur ansatzweise gegensteuern, etwa indem ansonsten galoppierende Pferde ständig den Boden zu berühren scheinen.
Der filmische Blick, der gewissermaßen ein Nicht-Blick ist, wird in der Folge zwar den Vorzug vor dem photographischen Blick erlangen, doch setzt das damit implizierte (bzw. erhoffte) bewußte Gestalterkennen wohl – wie oben angedeutet und nicht allein im Sinne einer Übertragung des Lacanschen Spiegelstadiums, sondern v.a. hinsichtlich der zu erzielenden Komplexitätsreduktion, ohne der zielgerichtete Wahrnehmung und deren Verarbeitung kaum möglich wären – ein gewisses Maß an Gestaltverkennen voraus. [☞ 4]
Kittler hat auch einen Vergleich von Friedrich Nietzsches Apollinischem mit der (kurz danach aufkommenden und natürlich bereits in der Zeit angelegten) Verfahrensweise des Films vorgenommen, der für sich genommen insofern spannend erscheint, weil es sich bei Nietzsches Überlegungen zur Differenzierung von Dionysischem und Apollinischem einerseits und dem technischen Vorgang bei der Erstellung eines Films und dem optischen Effekt auf die Betrachter andererseits um zeitversetzte Phänomene handelt.
Bewegte »Lichtbilderscheinungen«, bei denen die Augen die eigene Netzhaut abbilden, haben wenig mit Sophoklesaufführungen im athenischen Dionysostheater zu tun. Nietzsches Apollinisches beschreibt etwas ganz anderes – das technische Medium Film, wie die Gebrüder Lumière es […] öffentlich machen werden. Apollinisches und Kino, beide basieren sie auf angewandter Physiologie: den entopischen Nachbildern bzw. der gleichfalls von Nachbild- und Stroboskopeffekt bewirkten Illumination, diskrete Bilder von zureichend hoher Frequenz seien ein Kontinuum.
Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800-1900. 3., vollst. überarb. Neuausg. München: Fink 1995, p.237.
Friedrich Nietzsche kann – wenn man möchte – gerne als einer der zahlreichen ideellen ›Vorreiter‹ nominiert werden. Diese Option ist in seinen Schriften und in den Zeitumständen begründbar. Es kann jedoch nur schwerlich ein Vergleich hinsichtlich direkter Auswirkungen unternommen werden – ausreichen müssen (auf der Basis verfahrenstechnisch vergleichbarer Semantiken) die, sich ohnehin bereits aufwendig genug gestaltenden, analogen Untersuchungen. Nietzsche läßt sich als einer der zentralen Katalysatoren der Moderne begreifen, als ein Denker, in dessen Schriften sich schon vieles von dem bündelt, was später eine große Breitenwirkung erzielen wird. Das hat auch damit zu tun, daß bei ihm eine ›Umwertung aller Werte‹ stattfindet, das ›Denkensollen‹ in ein ›Denkenkönnen‹ umschlägt, eine Bewegung von der Welterklärung zur Weltveränderung stattfindet. Denkenkönnen führt in weiterer Folge zum Fremden in uns, bedingt nicht nur neuen Reichtum, sondern auch dessen Erschöpfung. Das Innere erscheint als Quelle des Denkmöglichen, des Ausgeliefertseins an das Fremde, das in uns ist. [☞ 5]
Gerade dieses Erfahren und Anerkennen des Fremden in uns, das seinerseits die Wirkung »entopischer Nachbilder« und außen »bewirkter Illuminationen« erst in ein Gemeinsames bringt, stellt eine wesentliche Bedingung wie Erfahrung des Films dar. Es kristallisieren sich aus den genannten Überlegungen einige Thesen heraus:
Zum einen gibt es in den Jahren (teilweise Jahrzehnten) vor der ersten Filmvorführung Phänomene, die mit ihren Einflüssen auf die Wahrnehmung erst jene Umstände schaffen, innerhalb derer der Film bestmöglich in Szene gesetzt werden kann. Es handelt sich um ›Beobachtungswerkzeuge‹, die durch das neue Medium eine unschlagbare Konkurrenz bekommen (Camera obscura, Rund- und Guckkastenpanoramen), es handelt sich aber auch um veränderte Bewußtseinshaltungen (Traumrezeption, Exotikbedürfnisse, Themen wie Reisen, Nerven und Strömungen), die mit diesem in eine fruchtbare Wechselbeziehung treten.
Zum anderen befaßt sich auch die Literatur dieser Jahre und der Folgezeit ausgesprochen intensiv mit diesen Erscheinungen, die alle Ansätze des möglichst perfekten räumlichen Dispositivs, in das der Rezipient gestellt wird, aufweisen. Die Literatur begnügt sich in vielen Fällen jedoch nicht mit thematischen Abhandlungen, ihr Reiz besteht vielmehr auch immer wieder in der Oszillation verschiedenster Eindrücke, Strukturen und Bezüge, d.h. sie geht daran, die Möglichkeiten eines Dispositivs auf literarischer Ebene zu entwickeln und abzutesten.
Dieser Aufsatz soll also von diversen Verflechtungen handeln, soll einige der Schnittmengen andeuten und die damit einhergehenden unterschiedlichen Interessen, Notwendigkeiten und medialen wie materialen Auswirkungen.
Der Film und sein Vorläufer, das Panorama – abgesehen von der Photographie die optischen Massenattraktionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts –, sind wesentliche Katalysatoren für moderne Wahrnehmungsformen. Die Literatur spielt dabei insofern eine Rolle, als sie ihrer oft nur beschworenen Funktion als kulturelles Leitmedium [☞ 6] endgültig verlustig geht, zugleich aber die Entwicklung der durch die neuartigen Medien sich herausbildenden ›Beobachtungswerkzeuge‹ genauestens ›protokolliert‹. Jede Phänomenologie optischer Wahrnehmung um 1900 wird die literarischen Reflexionen (wenn auch nur als einen Aspekt unter mehreren) berücksichtigen müssen, auch um die Frage nach der Materialität diesen Medien stellen zu können.
Eine wissenschaftliche »Analyse der Empfindungen« hatte bereits 1886 der u.a. auch von Robert Musil genau studierte [☞ 7] Ernst Mach vorgelegt: »Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente (Empfindungen). […] Die Elemente bilden das Ich. […] Das Ich ist keine unveränderliche, bestimmte, scharf begrenzte Einheit.« Die Konsequenz daraus: »Das Ich ist unrettbar.« [☞ 8] Dieses Ich gerät in den Jahren zwischen etwa 1880 und 1930 tatsächlich in ernste Schwierigkeiten (auf die noch einzugehen sein wird), es erscheint zunehmend in eine immer schneller sich abwechselnde Folge von Dispositiven hineingestellt, wobei gerade die sich rasant verändernde Großstadt wesentliche Formen bot:
Es war überhaupt das Jahrhundert der Licht- und Bildreize. Panoramen und Dioramen drängten aus den Metropolen in die Provinz vor, man entdeckte die Fotografie und schließlich den Film. Die Beleuchtung auf Straßen, Plätzen und in den Gebäuden wurde verbessert, die Städte zündeten die Lichter an. […] Am Ende war die Welt des Alltags entschieden heller geworden.
Konersmann, Ralf: Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts. Frankfurt/Main: Fischer 1991 (FTB 10726), p.15. (& cf. weiters den von Ralf Konersmann herausgegebenen Band: Kritik des Sehens. Leipzig: Reclam 21999.)
Auch die Sprache und ihre unmittelbare Kommunikationsfähigkeit wurde zunehmend in Frage gestellt, etwa 1901 durch Fritz Mauthners dreibändige »Beiträge zu einer Kritik der Sprache«, die bereits Jahre vor Wittgenstein den Erkenntniswert des sprachlichen Ausdrucks bestreiten: »Wir können mit Hilfe der Sprache immer nur erfahren, was die sogenannten Dinge für den Menschen sind; wir besitzen gar keine sprachlichen Mittel, um das zu bezeichnen, was diese Dinge etwa an sich sein mögen.« Mauthner hält als wesentliche Schlußfolgerung fest: »Die Worte berühren die Dinge nicht.« [☞ 9] Denn: »Es ist unmöglich, den Begriffsinhalt der Worte auf die Dauer festzuhalten; darum ist Welterkenntnis durch Sprache unmöglich.« [☞ 10]
Der Traum und …
Ein großes Thema der Zeitgenossen um 1900, das hinsichtlich seiner Bedeutung an dieser Stelle bestenfallls skizziert werden kann, ist der Traum. Es fällt für den genannten Zeitraum unweigerlich die jedenfalls quantitativ gesteigerte Darstellung von Träumen und psychischen Erklärungsmustern in der Literatur, in autobiographischen Texten, in Gebrauchs- bzw. Trivialliteratur [☞ 11] und nicht zuletzt in der Analyse durch die Wissenschaft ins Auge: ab etwa 1890 verstärkt sich dieser Trend vehement. [☞ 12] Es scheint auch hier eine Verflechtung zu bestehen, als hätten die ›Nachtseite‹, der Traum, die Auswirkung des Unbewußten und Verdrängten, ein technisches Pendant in den ›Nachbildern‹, eine zumindest mechanisch eindeutig zu bestimmende ›Tagseite‹, die eindeutig – und zum Vergnügen der Massen perfekt weil wiederholbar – funktioniert.
Wenn Traum und Film aufgrund einer quantitativen Beobachtung enggeführt werden, kommt unweigerlich die Frage der Filter ins Spiel, somit die nach den Kontrollinstanzen (und ihrem Verlust). Auffällig ist somit in doppelter Hinsicht, daß der Film bereits in seinen frühesten Anfängen eines seiner spannendsten Themen aufgreift und gezielt als Anreiz einbaut: das des Doppelgängers:
Auf dem Theater wäre der eine und doppelte Student zu zwei Schauspielern verkommen, auf dem Romanpapier gar zur leeren Behauptung. Als »Filmproblem aller Filmprobleme« dagegen, […] hat der Doppelgängereffekt den frühen Film bestimmt. Ewer’s Student, Lindaus Anderer, Hauptmanns Phantom, Wegeners Golem, Wienes Caligari, von zahllosen Jekyll and Hyde-Versionen zu schweigen – sie alle variieren den Filmtrick aller Filmtricks, wie es einfacher und genauer heißen müßte.
Kittler, Friedrich A.: Romantik – Psychoanalyse – Film: Eine Doppelgängergeschichte. In: Eingebildete Texte. Affairen zwischen Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. Hg. v. Jochen Hörisch u. Georg Christoph Tholen. München: Fink 1985 (UTB 1348), p.118-135, hier p.131.
In diesem Zusammenhang ist auch ein Zitat aus dem späten Tagebuch Schnitzlers zu verstehen, in dem die Erotik eine wesentliche Rolle spielt und mit Traum-Darstellung wie Doppelgängermotivik explizit zusammengebracht wird: »Neulich ein Traum; in dem ich getheilt, in zwei gleiche (vollständige) Ichs, in obscöner Art auftrete;– ich hatte nie in meinem Leben einen ähnlichen gehabt (vielleicht Barbette,– Apollotheater).« (Notat vom 27/XI/1926)
Es ist nicht anzunehmen, daß sich Träume ›von selber schreiben‹, irgendeine Form von Widerstand und damit Filter ist in jedem Fall zu überwinden. Insofern lassen sich Notate und verschriftlichte Analysen, das Weiterarbeiten und Weiterbearbeiten der »Träume«, auch als eine Form des textuellen ›Ersatzraums‹ lesen. Die ›T-Räume‹ (d.h. jene Räume, die in der schriftlichen Aufzeichnung des Traums als dessen Handlungsorte dargestellt werden) generieren sich in ihrer Vorläufigkeit und Unbestimmtheit als Projektionsflächen – insofern kommt ihnen ein realer Bedeutungszuwachs zu. In diesen Kontexten kommen natürlich noch Fragen nach trauminternen und -externen Aspekten und Instanzen hinzu.
»Der Film […] zählt (wie Kriminalistik und Psychoanalyse auch) zu jenen modernen Spurensicherungstechniken, die nach Ginzburgs Einsicht Körperkontrolle optimieren.« [☞ 13] D.h.: Abbilder, Schatten, Wiedergänger und Spiegel des Subjekts werden von der Psychoanalyse (und der autobiographischen Literatur) nach den jeweiligen Verfahrensmustern verifiziert, vom Kino aber technisch implementiert. Für die Literatur hat dies zur Folge, daß zwischen dem (tatsächlichen?) Geschehen und der fertiggestellten Wiedergabe eine textuelle Ebene eingezogen wird, die als écriture erscheint, als Schrift ohne Autor, deren strukturelle Eigenschaften zu ergründen wären.
Anders ausgedrückt: die Beobachtungswerkzeuge und die Wahrnehmung des Autors unterscheiden sich gezwungenermaßen von der textuellen Umsetzung; verschiedene Prozeße konfligieren und erzeugen einen Spannungsbogen, den die Rezipienten lediglich in einem Nachhinein anhand der textuellen Struktur dechiffrieren können. Was also bleibt, ist wieder einmal der Text, sind seine Dispositive und sind die darin angelegten Formen der Wahrnehmung zweier Seiten.
… die Illusion von der weiten Welt
Parallel zur Entwicklung und zum Aufkommen des Films spielt neben dem Thema des Traums für die Literatur dieser Zeit (und die ihr eigene Entwicklung von narrativen bzw. Darstellungsstrukturen) auch das des Reisens eine kaum zu unterschätzende Rolle, das auf der Ebene der Unterhaltungsindustrie mit Attraktionen wie den Weltausstellungen oder den Guckkastenpanoramen korrespondiert. Während somit einerseits ins Kleine, Eigene, in die Seele hineingeforscht und eingetaucht wird, erfolgt andererseits die große, weltumspannende Geste, die Imagination eines Kolonialismus für alle. Und das in einer Zeit, als der Warencharakter in Kunst und Unterhaltung einen neuen Höhepunkt nach dem anderen abfeiert, während gleichzeitig die Frage der Nerven in den Mittelpunkt rückt, damit auch die Metapher von der Strömung, dem Fließen, dem gegenseitigen Austausch (Fungibilität).
Die Weltausstellungen boten (und bieten bis heute) im Geist des 19. Jahrhunderts großangelegte Versuche, umfassende Projektionsflächen zu errichten, gigantische Dispositive, anhand derer (Kolonialismus!) die Welt erfahrbar schien. Mit ihrer Suggestion der umfassenden Erreichbarkeit jedweden Winkels, der Demonstration der vollkommenen technischen Erfahr- und Erfaßbarkeit der Welt, waren sie die perfekte Attraktion, um den Massen des Maschinenzeitalters eine Verankerung in der Welt vorzutäuschen. Wolfgang Schivelbusch spricht – ausgehend von den Erlebnissen der Eisenbahnfahrt und den dadurch entstehenden neuen Raumbezügen – von einer »Panoramatisierung der Welt« [☞ 14] die immer perfektionistischer angelegt wird. So wird in 21 von 33 Hauptattraktionen der Pariser Weltausstellung von 1889 [☞ 15] das Thema der Reise durchgespielt (vermittelt, reproduziert und zugleich via Veränderung überhöht). Die dem Publikum bereits in vielfältigen motivischen Ausprägungen bekannte Form des Panoramas wurde dabei insofern verändert wie überboten, als der ihm (dem Publikum) zugewiesene Raum sich deutlich gegenüber den rotundenartigen Schauräumen entwickelt hatte, nunmehr als »stéréorama mouvant« großen Zulauf erfuhr und in doppelter Hinsicht Aufsehen erregte. [☞ 16]
Die visuelle Unterstützung bekamen Weltausstellungen [☞ 17] durch die Faszination der Massen für die Einrichtung der Panoramen. Dolf Sternberger hat insofern nicht ganz zu unrecht den Begriff des Panoramas als Metapher für die bürgerlichen Lebensformen des 19. Jahrhunderts gewählt: möglichst perfekte Kulissen, Imagination des Weitreichenden, Innenraum und also Geborgenheit, zugleich der große Ausblick, die imperial-kolonialistische Geste. Das Panorama stellt für Sternberger einerseits ein Vermittlungs- und Imitationsmedium dar: »Farbenpracht und glühende Beleuchtung werden zu stereotypen Eigenschaften dieser Fachmalerei mehr als die Welt, in der sie sich, nun stets auf genaue Beobachtung und nachrichtenmäßige Vermittlung von Sitten und Gebräuchen bedacht, eifrig und beflissen umtut.« [☞ 18]; andererseits geht es über die simple Nachahmung kraft der verfügbaren Mittel hinaus. Das Besuchen des »Panorama« mit den Darstellungen mehr oder weniger bekannter, zumeist unbekannter Räume, stellte für Großteile der Gesellschaft eine der wenigen Möglichkeiten dar, gegen verhältnismäßig geringes Entgelt Exotik, fremde Länder zumindest via Illusion kennenzulernen. Die Welt galt als erforscht, den Nichtbeteiligten wurde das entsprechende Surrogat geliefert. Damit würde, Sternberger zufolge, eine Art Sublimierungsinstanz angeboten: »Europa wurde grau, und die Exotik blühend.« [☞ 19] Nicht durch eine Phonemverschiebung, sondern durch die Realität der Zeit wurden »Erotik und Exotik […] beinahe Synonyma.« [☞ 20] Daß es sich dabei um eine genuin europäische Perspektive handelt, ist offensichtlich. [☞ 21]
Da diese Perspektive zunehmend sich erschöpft und der Reiz ein bekannter wird – »[D]ie Ausblicke aus den europäischen Fenstern haben nun ihre Tiefendimension vollends verloren, sind nur Teile einer und derselben Panoramawelt geworden, die sich ringsumher zieht und überall nur bemalte Fläche ist.« [☞ 22] – bedarf es neuer Mittel, um bestehen zu können. Diese können auch scheinbar gegenläufig sein, um umso besser vorhandene Grundlagen nützen zu können. Beispielsweise ließe sich derartiges über eine spezifische Form des Mitleids erreichen, das »nur den subjektiven Ausgleich für die notgedrungene Anerkennung jener objektiven Grausamkeit der Natur im großen« [☞ 23] bildet, die seitens Darwins [☞ 24] propagiert worden war: »Dies Mitleid schafft sich gleichsam Höhlen im Inneren des sozialen Gebäudes, an deren Wänden – wie von der Laterna magica dorthin geworfen – die Szenen seiner Genrewelt vorüberziehen, und die es mit dem Strome seiner Tränen erfüllt.« [☞ 25]
Die Weltausstellungen zeigten auch in ihrer Sucht nach dem exotischen Genre unverhüllt einen geradezu klinischen Zwang zur Dokumentation, der die Menschen der Moderne gepackt hielt (und hält). Genauso wie der Film und das Panorama erzeugten die Weltausstellungen die Illusion einer Begreifbarkeit der Welt; [☞ 26] mithin ging es um die Suche des Ähnlichen im Unähnlichen. Das Phantasma, welches diese Dispositive evozierten und unterstützten, ist jenes der Unmittelbarkeit des eigenen Erlebens.
Es geht um die Imagination der Erfaßbarkeit dessen, was nicht erfaßbar ist, um die Inszenierung eines beruhigenden hic et nunc, das gleichzeitig den Sicherheitsabstand wahrt und die Dokumentation des Fernen abzusichern scheint.
Strömungen
Seit der sensationellen Europa-Premiere der Edisonschen Glühlampe auf der großen Pariser Elektrizitätsausstellung von 1881 bewegte die neue Kraft, die neue Technik die Fantasie. Die ersten öffentlichen Vorführungen des elektrischen Lichts und die vielen Ausstellungen zu diesem Thema, die noch folgten, waren vom Publikum enthusiastisch aufgenommen worden. Jetzt, 1900 in Paris, baute man eine der größten elektrischen »Zentralstationen« zu einer Zeit, als der überwiegende Teil des Stroms noch in Eigenanlagen produziert wurde. Das E-Werk auf Kohlebasis, ursprünglich mit circa 35.000 PS projektiert, aber offensichtlich doch nur mit höchstens halber Leistung durchgeführt, sollte nicht nur die abendliche Ausstellung erleuchten. Es sollte auch die zahllosen Maschinen auf dem Gelände in Bewegung halten, die allesamt von Elektromotoren angetrieben wurden. Die Besucher sahen in den gewerblichen und industriellen Abteilungen nun auch Arbeitsmaschinen, die Rohstoffe wie zum Beispiel Baumwolle verarbeiten konnten. […] Nur wenige klagten über die blendende Fülle des elektrischen Lichts oder über Schwindelgefühle und Übelkeit auf den neuen Rolltreppen. Die meisten tauchten gerne ein in die von »elektrischen Sonnen« taghell erleuchteten Pariser Nächte, die ihnen allen ein großes, fantastisches, ein goldenes 20. Jahrhundert versprachen.
Kronauer 2000.
Im Idealfall stellte sich wie schon 1889 in den bewegten Pariser Weltausstellungspanoramen – abgesehen von möglichen Schwindelanfällen, Agoraphobien, Seekrankheit und anderen Unannehmlichkeiten, wobei sich die Quellenlage zumeist kaum von einem Werbetext unterscheidet – die völlige Faszination ein. Diese entsteht durch die geschickte Zusammenfügung einzelner Aus-, An- und Einblicke (Elemente einer fragmentierten Wahrnehmung) zu einem neuen Ganzen. Die »Panoramatisierung der Welt«, aufgebaut auf Exotismus, Spektakel und Kommerz, vermittelt durch die Verfeinerung der »Beobachtungswerkzeuge« (und zugleich deren suggestivem Potential) hatte längst eingesetzt und steuert mit der reproduzierbaren Raumerfahrung im und durch den Film einem neuen Höhepunkt zu.
Steigerung des Nervenlebens, Verfeinerung zugleich auch der Motorik und Forcierung der Geschwindigkeit von Abläufen sind für diese Zeit Schlagworte mit hoher Konjunktur und die umfassende Ausdifferenzierung erscheint Georg Simmel als deren Voraussetzung:
Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht. […] Indem die Großstadt gerade diese psychologischen Bedingungen schafft […], stiftet sie schon in den sinnlichen Fundamenten des Seelenlebens, in dem Bewußtseinsquantum, das sie uns wegen unserer Organisation als Unterschiedswesen abfordert, einen tiefen Gegensatz gegen die Kleinstadt und das Landleben, mit dem langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus ihres sinnlich-geistigen Lebensbildes.
Simmel, Georg: Die Großstadt und das Geistesleben. In: G.S.: Das Individuum und die Freiheit. Essais. Frankfurt/Main: Fischer 1993 (FTB 1990), p.192-204, hier p.192f.
Simmels Überlegungen – wie auch die anderer deutscher, französischer, englischer und amerikanischer Theoretiker – gehen zunächst von der erhöhten Fungibilität der Geldwerte, der Waren und einer beschleunigten Distribution von Kapital aus. Der Umbruch in der Wahrnehmung ergibt sich für diese Theoretiker v.a. aus dem Umstand, daß (im Zuge der industriellen Revolution und des damit einhergehenden gesellschaftlichen Umbaus) die zentrale Werteinheit »Geld« als primäre verändernde Kraft einem außerordentlichen Fluktuationsphänomen unterworfen ist (nicht zuletzt bedingen Erfindungen wie Eisenbahn, Telegraph [☞ 27] und ähnliche Beschleunigungsmaschinen einen verhältnismäßig dramatischen Umbruch in den Kommunikationsbereichen).
Daß derartige Prozesse auch für die künstlerische Arbeit nicht ohne Auswirkungen bleiben konnten, braucht nicht gesondert hervorgehoben zu werden. Der Begriff von der »Strömung« wird endgültig polyvalent und erhält insofern synonymen Charakter, als das panta rhei des neuen Zeitalters möglichst rasch mit einordenbaren Begriffen zur Deckung gebracht werden soll. Die als fehlend suggerierte Orientierung wird zumindest in den theoretischen Systemen zu geben versucht.
Verbale und visualisierte Strömungsvorstellungen begegnen um 1900 in den verschiedensten kulturellen Kontexten; sie stehen für das Schillern und ständige Sich-Verändern der Daten der Sinnes- und Weltwahrnehmung, den Fluß der Dinge und Empfindungen. Ströme bezeichnen Natürliches wie Technisches, stehen für Wasser und Elektrizität, für Entspannung so gut wie für Spannung; sie sind die vieldeutige Metapher einer Welterfahrung, der alles Feste abhanden gekommen zu sein scheint, in der alles vermischt oder verbunden ist, aber auch sichernde Distanzen und Zwischenräume verschwunden sind, ohne daß es eine Möglichkeit der Isolierung gäbe.
Asendorf, Christoph: Das Gespenst der Energie. Wahrnehmung um 1900. In: Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele. Ausstellungskatalog. Hg. v. d. Wiener Festwochen. Wien: Löcker 1989, p.623-628, hier p.627.
Wahrnehmung
Zweidimensionale Netzhautbilder werden bekanntlich in dreidimensionale Wahrnehmungen umgewandelt, wobei der neuronale Bereich mehrfach zwischengeschaltet ist. Diese Wahrnehmungen sollen ihrerseits vermittels literarischer Codierungen in Vorstellungen der Leser umgewandelt werden. So weit, so banal.
Die Problematik liegt dabei einerseits im mitbeeinflussenden Kontext des Wahrnehmenden, andererseits in der Spezifik der jeweiligen Codierungen.
Der Film ist dem Kino und dieses der Großstadt als einem Hyper-Dispositif eingeschrieben. [/] Denkbar ist, daß diese Wahrnehmungssituation im filmesehenden Schriftsteller ein Bewußtsein produziert, das zwischen Film und großstädtischer Lebenspraxis eine lineare Beziehung rekonstruiert: In ihrem Innersten, dem Kino, öffnet sich dem Blick auf die Leinwand im Film ein Fenster auf die urbane Wirklichkeit außerhalb; die filmische Schreibweise wäre dann die literarische Form der erzählerischen Wiedergabe dieses Blicks auf die Wirklichkeit, strukturiert durch das Hyper-Dispositif Film-Kino-Großstadt. [/] Die filmische Schreibweise ›angesichts‹ des Kinofilms kann daher nicht als bloße formale Mimesis kinematographischer Darstellungsmittel wie der Montage, des Wechsels der Blickpunkte etc. in der modernen Literatur beschrieben werden; vielmehr handelt es sich um die Mimesis des Inhalts einer Form, der als Gegenstand des Erzählens wiederkehrt (Großstadt) und so auf die komplexe Erfahrung der Realität des Urbanen, zu der das Kino als ihr exemplarischer Teil gehört, zurückweist.
Paech, Joachim: Literatur und Film. Stuttgart: Metzler 1988 (Sammlung Metzler 235), p.126.
Die von Paech angedeutete Problematik läßt sich in mehrfacher Hinsicht mit fundamentalen Fragen einer Ästhetik der Moderne kurzschließen:
Erstens geht es doch darum, daß in der Moderne die Betrachter sich immer wieder auf andere Formen der Gewißheit einstellen müssen, daß somit die Zuverlässigkeit ordnender Wahrnehmung fragwürdig wird. Zweitens teilt Natur sich nicht mit, sondern wird konsumiert, so wie die Kultur, sie erhält unweigerlich einen Anflug von Warencharakter. Dabei ist, drittens, ein Rezipient seitens des auditiv und/oder visuell Produzierenden zu disziplinieren, ruhigzustellen. Anders formuliert: er ist für den spezifischen Kontext zu konstruieren. Diese Ruhigstellung ist bzw. ermöglicht zugleich eine fremdbestimmte, fortlaufende Neueinstellung des Subjekts auf Veränderungen (dabei soll aber die Konsumtion der Neuheiten in sich wiederholenden Formen erfolgen – u.a. auch deshalb, um den o.a. Warencharakter entsprechend umzusetzen). [☞ 28] Viertens ergibt sich dabei ein Paradoxon für die Technik (und insgesamt eine mögliche Umkehrung des Festgestellten), denn sie hat doch die (konsumierende) Naturerfahrung als solche erst ermöglicht, indem sie diese ablöste. D.h. auch, daß die technische Reproduktion von Natur mit ihrer fortschreitenden Ausbreitung und verändrlichen Form diesen prozeß nochmals abbildet: die natura naturanswird durch die technische Reproduktion zur natura naturata, die wiederum im Rahmen ihrer Eigendynamik selbet Züge einer neuen natura naturans entwickelt.
Die verschiedensten Dispositive sind somit Verfahrensweisen, die in einem gegenseitigen Konkurrenzverhältnis zueinander stehen, da sie den Rezipienten jeweils in ihre spezifische Ruhigstellung zu versetzen intendiert sind. Eine Herauslösung aus einer solchen wird durch eine Störung ermöglicht, die ihrerseits als Überleitung angelegt werden kann.
Viele Texte und Filme, Theateraufführungen und Ausstellungsattraktionen, Warenhäuser und Vergnügungslokale thematisieren diesen Vorgang und/oder versuchen ihn umzusetzen. Die Aufgabe der heutigen Rezipienten dürfte sein, diese Verknüpfungen zu beobachten und (jeweils methodologisch differenziert) zu analysieren, auch wenn das zu untersuchende Material nicht unbedingt darauf angelegt ist.
Anhand von fünf kurzen Beispiele sollen nun verschiedene Formen (und Vertreter) des deutschsprachigen literarischen Umgangs mit visuellen Medien um 1900 angedeutet werden. [☞ 29]
Peter Altenberg
Peter Altenberg, der sich so ziemlich jeder visuellen Neuerung gegenüber aufgeschlossen zeigte, erwähnt, zumindest in den veröffentlichten Texten, nur ein einziges Mal ein »Panorama«. Dieses findet Eingang als Unterhaltungsphänomen. In einer Erinnerung, in deren Verlauf er sich auch an seiner ersten, kindlichen »Pferdetramwayversuchsfahrt« begeistert, findet sich die Memorierung dieses Besuchs.
Der Rathauspark duftet nun von edlen Bäumen und edlen Sträuchern. Es ist kühl und schattig. Aber damals war es eine endlose graue Wiese mit eingetretenen staubigen oder kotigen schmalen Fußwegen. Eines Tages stand eine grüne Bretterbude da, das erste Wanderpanorama in Wien, genannt »Der Rigi«. Es roch nach Öllämpchen, und mein Hofmeister und ich saßen in der ersten Reihe auf Strohsesselchen. Der Rigi und alle Seen und Bergesketten zogen an uns vorüber, zu den Klängen eines italienischen Werkels. Dann wurde es allmählich finster, und die Berghotelfenster beleuchteten sich, denn sie waren ausgeschnitten und dahinter Licht. Das gefiel mir.
Altenberg, Peter: Erinnerung. In: Peter Altenberg. Leben und Werk in Texten und Bildern. Hg. v. Hans Christian Kosler. Frankfurt/Main: Fischer 1984 (FTB 5628), p.36f.
Cf. zu dieser Beschreibung auch folgendes Dioramen-Inserat:
Das gegenwärtig Neueste und Anerkannteste in Wien!! [/] Das Diorama von Rigi-Kulm, Schweiz, [/] Währingerstrasse, bei der Votivkirche, [/] bietet, ohne wie bei den bisher gesehenen Panoramen und sonstigen ähnlichen Schaustellungen angewendeten Vergrösserungs-Apparaten mittelst Gläsern, eine bisher hier noch nicht gesehen,grossartig überraschende, ja unglaubliche Augenweide. Sämmtliche Gebirgslandschaften, von Rigi-Kulm aus sichtbar, sind hier rundansichtlich, ohne Anwendung optischer Gläser, frei vom Zuschauerraume aus auf eine Ausdehnung von 12 Meilen perspectivisch, ja natürlich veranschaulicht, als ob man sich selbst in Wirklichkeit auf dem Rigi-Kulm befände. Die beweglichen Gebirgskuppeln erscheinen in ganz natürlicher Sonnenaufgangs-, Mittags- und Sonnenuntergangs-Beleuchtung und bieten somit Ansichten, wie diese bisher einzig in dioramisch-plastischer Darstellung nurnur das genannte weltberühmte Schweizer-Diorama zu produciren vermag, weswegen wir dieses dem P. T. Publicum zur geneigten Besichtigung empfehlen. [/] Eintrittspreise: [/] 1. Platz 50 kr., 2. Platz 20 kr. [/] Täglich geöffnet von 8 Uhr Morgens bis 8 Uhr Abends.
Allgemeine Illustrirte Weltausstellungs-Zeitung. Wien 1872/73, Bd. IV, Nr. 3, 13. Juli 1873, p.47
Tatsächlich handelt es sich bei der von Altenberg skizzierten Einrichtung um ein typisches Daguerresches Diorama, eine dem Panorama zwar verwandte, aber durch diverse Spezifika doch völlig andere Form mobiler Landschaftsdarbietung. [☞ 30] Die jeweiligen Tages- bzw. Nachtszenen wurden durch sog. Auflicht- bzw. Durchlichteffekte erzielt – ein Verfahren, das medienmgeschichtlich besonders spannend ist, denn dadurch wurde der Simultaneität, der Gleichzeitigkeit und dem Ineinandergreifen von Subjektivität und Obejektivität ein entscheidender Moment hinzugefügt: die Bewegung. [☞ 31]
Strukturell kann festgestellt werden, daß große Teile des Altenbergschen Œuvre in ihrer Skizzenhaftigkeit, im Abriß, gegenüber ›fertigen‹ Bildwelten den ästhetisch kaum schlagbaren Vorteil des äußerlich Fragmentarischen haben, dem im Rahmen der textimmanenten Bedingungen eine innere Geschlossenheit korrespondiert.
Mit der Einführung des Kinos sieht auch Altenberg neue Möglichkeit der Faszination. Beispielsweise erschien im April 1912 in der »Wiener Allgemeinen Zeitung« ein »Das Kino« übertitelter kurzer Beitrag Altenbergs, bei dem es sich um einen im typischen Pathos geführten Angriff gegen die negativen Kritiken des Kinos handelt (und, so nebenbei, diverse philosophische, moralische und kunsttheoretische Fragestellungen berührt werden). [☞ 32] Das Kino eröffnet Altenberg zum wiederholten mal die Möglichkeit zur Polemik auch gegen Intellektuelle. Es wird von ihm als Genuß hervorgehoben, auf den die Kulturschaffenden weder Anspruch erheben könnten noch dürften, da sie nicht imstande seien, es zu verstehen.
Bei den sich rasch entspinnenden und teilweise zum Kulturkampf hochstilisierten Kontroversen zum neuen Medium des Films spielt v.a. die schnell erkannte, mitunter als drohend empfundene, Zuweisung anderer Systemstellen in der kulturellen Kommunikation eine wichtige Rolle. Theater und Belletristik werden als Hort der wahren Kultur ausgepriesen, während das Kino als Konsumation der Massen abgestempelt wird. Altenbergs Parteinahme begrüßt den Film, da dieser für ihn gerade wegen der angeblich negativen Folgen – Zernichtung elitärer Kulturprinzipien qua Massenunterhaltung – (s)eine zentrale Position in der Auseinandersetzung mit Kultur und Kommunikation einzunehmen scheint.
Das Kino dient ihm als Mittel zum Nachweis der seelischen Gesundheit ›einfacher Leute‹, vor allem der Frauen. In der Skizze »November-Abend« heißt es, im Rahmen eines Plädoyers für das »Nichtleben«, vom Hotel-Personal u.a.:
»Hoffnungen« existieren nicht in diesen gesunden Gehirnen. An freien Tagen geht man ins Kino. Weshalb?! Niemand weiß es, man zieht »Knöpfelstiefel« an. [/] »Wie war es denn im Kino, Marie?!« [/] »No, so so, junger Herr, die Musik war gar nicht so schlecht.« [/] Niemand hat eine Idee von dieser pathologischen Genügsamkeit.
Altenberg, Peter: November-Abend. In: P.A.: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Bd. 2: Extrakte des Lebens. Gesammelte Skizzen 1898-1919. Hg. v. Werner J. Schweiger. Wien, Frankfurt/Main: Löcker, Fischer 1987, p.380.
Eine ähnliche Form der Propagierung eines künstlerischen Mediums mit potentiellem Massencharakter findet sich bei ihm u.a. auch im Zusammenhang mit der Photographie: »Die größte Künstlerin vor allem ist die Natur, und mit einem Kodak in einer wirklich menschlich-zärtlichen Hand erwirbt man mühelos ihre Schätze.« [☞ 33]
Daß sich im übrigen Verbindungen zwischen Altenbergs Versuchen der Readymades, die nicht nur Karl Kraus [☞ 34] zu irritieren vermochten, und seinen Idee einer künstlerischen Ausdrucksmöglichkeit für jedermann qua photographischem Akt herstellen lassen, sei nur am Rande erwähnt. [☞ 35] Eine derartige Verbindung könnte auch den modernen Zug in Altenbergs Schriften deutlicher zeigen.
Walter Benjamin
Benjamin beabsichtigte mit seinem Fragment gebliebenen Opus magnum »Passagenwerk« [☞ 36] eine Abhandlung vorzulegen, die mit Hilfe einer Analyse des Paris des 19. Jahrhunderts, mit einem Rekurrieren auf Passagen, das Flanieren, Prostitution, Weltausstellungen, Interieurs, Straßenszenen etc. – und eben auch Panoramen –, [☞ 37] einen Beitrag zur Geschichte des 20. Jahrhunderts liefern würde. Statt hier eine eingehende Analyse des »Passagenwerks« zu erproben und etwa auf das – gerade für den Film zentrale – »Kolportagephänomen des Raumes« einzugehen, kann nur eine kurze Skizze versucht werden.
Hinsichtlich Faszination und Funktionsweise des Panoramas liefert bereits sein Text »Kaiserpanorama« in der Sammlung »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert« eine sehr deutliche Wiedergabe der Atmosphäre und »Stimmung« dieser Einrichtung. Bereits in diesem Zusammenhang spielen die raumspezifischen Verweise eine zentrale Rolle. Sie werden mit der Semantik des unwiederbringlich Vergangenen belegt, reihen sich somit in den Kontext der Textsammlung nahtlos ein. Indem aber diese objektspezifische Arbeit erfolgt, soll der Versuch gemacht sein, durch die Herauslösung des Gegenstandes aus seinem Kontext ein dem geschichtlich vernichtenden Zeitablauf entgegengesetztes, weil diesem enthobenes Projekt zu etablieren.
Dahinter steht ein teilweise sehr monadisches Denken (in seinen Grundlagen rückführbar auf Leibniz), welches davon ausgeht, daß sich aus jedem Gegenstand bei ausreichend gründlicher Prüfung ein Gesamtbild ergeben würde. D.h. indem die Vergnügungseinrichtung entsprechend behandelt wird, erfolgt gleichzeitig deren Bewahrung und Einsatz gegen die Problematik des Geschichtsverlaufs. [☞ 38] Das Panorama dient u.a. als Symbol für Kindheit und schreibend/lesend abrufbar gewordene Atmosphäre des Vergangenen. Benjamins Erinnerungen sind nicht bloß die seinen, die Intention ist es, Matrix einer Generation zu sein, dem »Engel der Geschichte« [☞ 39] – bei dessen Versuch die Flügel zu schließen – zur Hand zu gehen. Dadurch erst werden die aufgerufenen Räume zu erinnerten, wobei es zu einem Ineinanderfallen von Raum und Zeit kommt (cf. z.B. auch diesbezüglich den Bachtinschen Chronotopos [☞ 40] – wiewohl selbiger anhand der »Utopie« herausgearbeitet ist; oder eben auch Benjamins Zeit-Raum u.a. des Flaneurs im Stadtraum [☞ 41] – wo es gilt, etwas aus dem Zeitkontinuum herauszupräparieren; [☞ 42] dies aber in der Absicht, einen mnemonischen Ansatzpunkt zu finden, um die eigene Zeit aus der Vergangenheit heraus zu verstehen).
Es war ein großer Reiz der Reisebilder, die man im Kaiserpanorama fand […]. Und besonders gegen das Ende meiner Kindheit, als die Mode den Kaiserpanoramen schon den Rücken kehrte, gewöhnte man sich, im halbleeren Zimmer rundzureisen. […] Als ich zum erstenmal dort eintrat, war die Zeit der zierlichsten Veduten längst vorbei. Der Zauber aber, dessen letztes Publikum die Kinder waren, hatte nichts verloren.
Benjamin, Walter: Kaiserpanorama. [Adorno-Rexroth-Fassung] In: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. IV.1. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991 (stw 934), p.239f.
Allzu unüblich dürfte die Beliebtheit derartiger ›Retrospektiven‹ auf einen Gegenstand zum Zeitpunkt seines Verschwindens nicht gewesen sein: Arthur Schnitzler ist beispielsweise 20 Jahre alt, als er in seinem Tagebuch erstmals ein Panorama erwähnt (1882), und erst im Alter von etwa 45 Jahren wird der Besuch des Panoramas (der im Tagebuch über 200 Mal notiert wird) zur gerne wiederholten, melancholisch eingefärbten, Wahrnehmungsübung. Eine ähnliche Faszination wird Benjamin ein halbes Jahrhundert später beschäftigen und zur oben zitierten Erinnerung aus dem gegenwärtigen Moment heraus veranlassen – dabei stehen in beiden Fällen nicht mehr Rundgemälde, sondern photographische Panoramen und Stereoskopien im Mittelpunkt des Interesses.
Bei Benjamin tritt vor allem die für diesen zentrale Frage des Sehens und des Blicks, des Hineinversenkens in das Erfaßbare in den Vordergrund, wobei er »mit dem Erdball Freundschaft« schloß. Daß die Frage des fernen Raumes, damit u.a. auch die Anziehungskraft des Exotischen, eine Rolle spielen könnte, ist nur am Rande mit ein Punkt. Es geht in diesen Fällen um Räume und es geht um die, in einem gesichert erscheinenden Binnenraum sich entfaltende Möglichkeit, sowohl unbekannte Räume zu erfahren [sic!], als auch bekannte mit deren Darstellung zu verknüpfen.
Franz Kafka
Kafkas an den Anfang seiner Oxforder Quarthefte (vulgo »Tagebuch«) gesetzter Ausweis eines ästhetischen Subjektivismus – »Die Zuschauer erstarren, wenn der Zug vorbeifährt.« [☞ 43] –, sein bereits in der Ausgabe von Max Brod als ›Tagebuchbeginn‹ eingeordnetes Notat, das nach dem 24. Mai 1909 [☞ 44] vermutlich von einem Kinoerlebnis (es könnte sich um einen Kurzfilm der Gebrüder Lumière handeln, »L’ Arrivée d’un train à la gare de La Ciotat«) berichtet. [☞ 45] Kafka weiß in jedem Fall, als er dies schreibt, daß der Zug vorbeifährt, »die Zuschauer« jedoch nicht. Die Eliminierung des ›Ich‹ ist somit bloß eine scheinbare, die Konzentration auf eine Ansammlung und deren Observierung heben das ›Ich‹ in den ihm zustehenden Rang. »Wenn« bedeutet, daß der Berichterstatter keine präsentische Szene nachzeichnet, er stellt quasi neutral eine immer wieder eintretende Verblüffung der Zuschauer fest, wenn der Zug vorbeifährt.
Im Jänner und Feber 1911 befindet sich Franz Kafka auf einer Dienstreise in Friedland, an einem Ort, der zu dieser Jahreszeit nicht unbedingt mit vielen Unterhaltungsmöglichkeiten ausgestattet ist. In seinen Reisetagebüchern kann er jedoch über den Besuch eines der von August Fuhrmann betriebenen Kaiserpanoramen berichten und stellt u.a. folgende Überlegung an:
Die Bilder lebendiger als im Kinematographen, weil sie dem Blick die Ruhe der Wirklichkeit lassen. Der Kinematograph gibt dem Angeschauten die Unruhe ihrer Bewegung, die Ruhe des Blicks scheint wichtiger. Glatter Boden der Kathedralen vor unserer Zunge. Warum gibt es keine Vereinigung von Kinema und Stereoskop in dieser Weise.
Kafka, Franz: Gesammelte Werke Bd. 12: Reisetagebücher in der Fassung der Handschrift. Mit parallel geführten Aufzeichnungen von Max Brod im Anhang. Nach d. Kritischen Ausg. hg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: Fischer 1994 (FTB 12452), p.15f.
Auch Kafkas Nachlaßverwalter Max Brod versucht sich an der Darstellung von Panoramen, scheiterte jedoch an der Unaufmerksamkeit und eher beschränkten literarischen Fähigkeiten. [☞ 46] Kafka verschafft hingegen das Blättern in der Zeitung zwar einen »ungeheuren, widerspruchsvollen Genuß«, [☞ 47] da die eigene Bewegung den Ablauf dirigiert, jedoch ändert sich bei ihm die Übereinstimmung von aktiver Handlung und Betrachtung mit dem Auftreten der Maschine, wie Hanns Zischler nachzuzeichnen versucht hat:
Der augengesteuerte Automatismus der Hand wird im Kaiserpanorama von einem maschinengesteuerten abgelöst, der Blick des Betrachters wird durch die stereoskopische Brille fixiert, der Betrachter selbst verharrt, wie Kafka sich rasch erinnert, an seinem Platz. Er schildert das mechanische Theater als eine Szene erstarrter Ruhe, in die er förmlich hineintritt. Der ganze Raum ist in die (mechanische) Musik des Aristons getaucht. Die gestochen scharfen, wunderlich verräumlichten Bilder bleiben vor dem Auge des Betrachters hinreichend lange stehen, um ihm Zeit zur Ausforschung des Bildraums zu gestatten. Doch sind diese Photographien, wie Kafka sogleich erkennt, vom »Kinema« weit entfernt, ja diesem entgegengesetzt. Es sind im Grunde theaterhaft nachgestellte Szenen, Bilder, die von außen nach innen gehen, von der »befestigten« Figur zu den Kulissen, während das Kinobild […] den umgekehrten zentrifugalen Weg beschreitet.
Zischler 1996, p.41ff.
Das räumliche Szenario um das raumschaffende Abbild verändert sich, damit auch der Zugang zur Raumdarstellung. Insofern erlangt für Kafka die Stereophotographie scheinbar den Vorrang vor dem Kino, welches zwar den Vorstellungen von der im Umbruch zur Moderne begriffenen Bild-Welt deutlich näherkommt, jedoch nicht imstande ist, dem Betrachtenden die Möglichkeit eines subjektiv gestaltbaren Eindrucks zu schaffen; die Form des Kinos ist eine Form des Ausdrucks anderer, d.h. eines – bewußt paradox formuliert – fertigen Tableaus [sic], das nur mehr Reaktion, nicht aber Aktion zuläßt, in das zu versenken zu diesem Zeitpunkt also problematisch – weil noch nicht ästhetisch-praktisch umsetzbar – erscheint. Das Erzählenhören erscheint bei Kafka als Äquivalent zum »Kinema« – das er gut kannte –; was seine Wirklichkeitsnähe anbelangt, bleibt es hinter den Möglichkeiten des Panoramas zurück. »Panorama sehn« und das »Sehn der Wirklichkeit« sind aufeinander bezogen: »Die Bilder lebendiger als im Kinematographen, weil sie dem Blick die Ruhe der Wirklichkeit lassen.« [☞ 48]
Zischler resümiert scheinbar folgerichtig: »Wenn es einen archimedischen Punkt der Abstoßung von der Kinematographie gibt, dann hier, in Friedland, im Kaiserpanorama, im Tagebuch.« [☞ 49]
Zischler ist zuzustimmen, daß sich bei Kafka ein ›filmisches Schreiben‹ feststellen läßt (1912: Der Verschollene, Amerika-Roman) zu einer Zeit, als es erst selten eine derart ausgeprägte Ästhetik gibt. Jedoch gibt es nach 1913 – abgesehen von der Beschreibung eines Kinoplakats (1915) und der Erwähnung der Films ›Schiwath Zion« (1921) – in seinen Tagebüchern keine weiteren expliziten Einträge in Sachen Kino. Weiters lassen sich Bilder und Texte nicht zur vollständigen Deckung bringen und ein Indizienverfahren bringt vermutlich weniger als eine eingehende Stilanalyse (weshalb Zischler auch eine solche immer wieder versucht). Überdies widerstrebte es Kafka selbst, seine Texte mit irgendeiner Art Illustration versehen zu bekommen. [☞ 50] Letztlich sind seine wenigen verstreuten Überlegungen zur Kinematographie und deren Möglichkeiten nur mithilfe einer solchen Analyse mit seinen literarischen Schriften engzuführen. [☞ 51]
Eine Stelle aus dem sog. literarischen Werk, sie handelt vordergründig von einem ontologischen Zugsunglück, soll dies andeuten:
Wir sind, mit dem irdisch gefleckten Auge gesehn, in der Situation von Eisenbahnreisenden, die in einem langen Tunnel verunglückt sind undzwar [sic] an einer Stelle wo man das Licht des Anfangs nicht mehr sieht, das Licht des Endes aber nur so winzig, daß der Blick es immerfort suchen muß und immerfort verliert wobei Anfang und Ende nicht einmal sicher sind. Rings um uns aber haben wir in der Verwirrung der Sinne oder in der Höchstempfindlichkeit der Sinne lauter Ungeheuer und ein je nach der Laune und Verwunderung des Einzelnen entzückendes oder ermüdendes kaleidoskopisches Spiel.
Kafka, Franz: Gesammelte Werke Bd. 6: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß in der Fassung der Handschrift. Hg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: Fischer 1994, p.163 [zuvor veröffentlicht unter dem Titel »Eisenbahnreisende«].
Kafkas Kinoerlebnisse sind diametral zu den Eindrücken des Panoramas einzuordnen; auf topographischer Ebene erfolgt die Unterscheidung von Panorama und Kino über die Unterscheidung von Provinz und Großstadt. Ausschlaggebend für die Differenz sind die Geschwindigkeit, die Bewegung, damit Übereinstimmung des Mediums mit aktuellen Erscheinungs- und Wahrnehmungsformen.
Robert Müller
Müllers strenge, mitunter expressionistische Technik bewirkt in einem seiner besten Romane durch ein ständiges Oszillieren des Blickes bzw. der Seherlebnisse – im Zusammenhang damit der Abfolge und Struktur des Textes – seiner Figuren eine Korrespondenz von Rezipient und Rezipiertem. Die Handlung, auf der oberen Ebene eine Kriminalgeschichte, wird durch das textuelle Angebot vorangetrieben.
Die Veränderung des Blicks der Figuren läßt sich je nach Einbettung in den Ablauf für eine Erweiterung oder Eintrübung halten, oder eben – und darin besteht eine wesentliche Qualität des Romans »Camera obscura« [☞ 52] – für ein unvermeidliches Schwanken zwischen Realem und Irrealem, das Reales bewirkt und doch nicht möglich scheint. Gleichzeitig erfolgt durch die höchst absichtsvolle Setzung von Anführungszeichen eine Vermengung von inneren Monologen und Autorenkommentaren. Durch die außergewöhnlichen Fähigkeiten der beiden Hauptfiguren, des Kriminellen und des Detektivs, sich in die Lage des jeweils anderen zu versetzen, entstehen weitere Momente der Unsicherheit, etwa dahingehend, welcher Person nun welches Erlebnis, welche Perspektive und bisweilen sogar: welche Tat wem eigen ist.
Der Titel steht für die Struktur des Romans. Primäres Kennzeichen ist, daß die diversen optischen Effekte, die in der Wahrnehmungssituation einer Camera obscura münden, alle auszeichnet, daß sie eine Brechung herbeiführen. [☞ 53]
»Die Faxen der Zivilisation lernt man nicht ungestraft kennen; sie wirken ansteckend. Slim dachte hinüber an den graulackierten Bottich mit dem Guckschlitz.« [☞ 54] Es handelt sich dabei um ein Faß, welches durch einen Zufall (?) des Lichteinfalls und der Perspektivik zu einer optischen Versuchsanordnung einlädt. Die Wahrnehmung wird durch eine Gerätschaft vorgegeben: »Es dunkelte. Und da hatte Steward alles mögliche untersucht. Der eine Bottich funkelte, es erwies sich, daß er eine schadhafte Stelle besaß, sozusagen einen Sehschlitz.« [☞ 55]
Der Detektiv hat jedoch keine Chance, die Situation umzukehren, da eine Wendung der Camera obscura-Situation zwangsläufig eine Umkehrung der ›realen‹ Verhältnisse zur Folge hat. Der gesamte Roman ist nach diesem Muster aufgebaut, jedweder Versuch Stewards, seinem kriminellen Alter Ego (einer moralischen Umkehrung!) auf die Schliche zu kommen, mündet in einem Kippen der Verhältnisse. Steward versucht sich diesem System anzupassen, einzudringen und Teil des Systems zu werden. Damit beginnt aber die Angelegenheit nur von neuem.
So suchte er in seiner Einsamkeit, […] durch Selbstversenken in purpurne Schatten die Zusammenhänge der letzten Ereignisse in einen Blick zu pressen. […] Der Blick gelang. Steward sah wie durch den dünnen Visierhals einer Camera obscura im Bündel sich die Gestalten drängen und in Beziehung zu einem Vorgang zerfallen. Er fädelte seine Erinnerungen auf.
Müller: Camera obscura, p.144.
Damit Steward die gewählte Verfahrensweise gelingen kann, bedarf es – wie es in ähnlichen Situationen bei vielen anderen Autoren und deren Figuren feststellbar ist – der Erinnerung. Erst durch eine Bewältigung der verschiedensten Einflüsse, den Ansatz einer möglichst vollständigen Apperzeption des Seelenlebens zum Zwecke der Überwindung oszillierender Wahrnehmungsformen, kann es möglich scheinen, die Geschehnisse in einen stringenten Zusammenhang zu fügen.
Die Camera obscura! Die vagen Schatten einer auffällig schillernden molluskenhaften Umwelt mit allzuviel Bewegung und Beziehung sprangen isoliert logisch, scharf, vielsagend, perspektivenreich auf den subjektiven Schirm, der sie band. Das schöpferische Fabriksgeheimnis, das Arkanum war, die Dinge nicht hintereinander, sondern gleichzeitig, ahndevoll zu sehen, wie im Traum placiert, ineinander, auseinanderfaltbar wie ein Fächer, simultan. Wenn Steward schaute, vermochte er Sicherheit zu empfinden, am rechten Weg zu sein […]. Wenn er das Nacheinander zerlegte, unterliefen Irrtümer, Fälle des Übersehens.
Müller: Camera obscura, p.143f.
Die Gefährdung geht in diesem Fall davon aus, daß der Verbrecher Jack Slim sein System einer Wahrnehmungsform den Opfern oktroyiert. Es handelt sich um jene (vor allem auch geistige!) Perspektive, die Steward sich zu eigen gemacht hat. Der Unterschied besteht aber darin, daß dieser seine Erinnerungen »aufgefädelt«, d.h. fixiert hat. Das Publikum Slims hingegen ermangelt dieser Voraussetzung und kann beeinflußt, benützt werden.
Robert Musil …
Als »eine der ersten literarischen Figuren überhaupt, deren Sinne von dem neuen Medium ergriffen werden«, [☞ 56] ist Robert Musils »Zögling Törleß« eine frühe fiktionale Verdichtung der allgemeinen Verunsicherung, die das junge Medium Film auf die Intellektuellen der Zeit ausübte. [☞ 57] Das Flimmern von Kinematographen, Tachistoskopen und Farbvariatoren wird zum ständigen Hinweis auf die Relativität der Sinneseindrücke. Mit der Sicherheit der Wahrnehmung zerfällt auch die Sicherheit des wahrnehmenden Subjekts.
Robert Musil setzt sich auch – wie etwa der ungarische Filmtheoretiker und Schriftsteller Béla Balázs – theoretisch mit dem Medium des Films intensiv auseinander, entdeckt in den fragmentierenden Wahrnehmungsformen des Films eine Nähe zu den Traum- und Halluzinationsbildern animistischer Kulturen. Vergleichbar, so Musil, sei besonders »die magische Rolle von Haaren, Fingernägeln, Schatten« und »Spiegelbild«. [☞ 58] Mit dieser Beobachtung trifft er den Nerv seiner Zeit – Traum und die Anziehungskraft des exotisch Imaginierten treffen sich im Medium des Films. Das metaphorische ›Untertauchen‹, das Müllersche »Selbstversenken«, wird als Mittel zur Hinterfragung der oberflächlichen Betrachtungsangebote begriffen, damit auch als eine Möglichkeit des geistigen Widerstands. Musil hält die Zeitlupe gegen den raschen Ablauf, das Fernrohr gegen die ›normale‹ Kinoschau:
Zeitlupenaufnahmen tauchen unter die bewegte Oberfläche, und es ist ihr Zauber, daß sich der Zuschauer zwischen den Dingen des Lebens gleichsam mit offenen Augen unter Wasser umherschwimmend sieht. Das hat der Film volkstümlich gemacht; aber es ist schon lange vor ihm auf eine Weise zu erleben gewesen, die sich noch heutigentags durch ihre Bequemlichkeit empfiehlt: indem man nämlich durch ein Fernrohr etwas betrachtet, das man sonst nicht durch ein Fernrohr ansieht.
Musil, Robert: Triëdere. In: R.M..: Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1983, p.336f. [Update 2023: s. dazu auch Triëdere & Halluzinationen]
Ein derartiger Ausschnitt (aus dem Kontext, aus dem je spezifisch bedeutungsschweren und lenkenden Dispositiv) und im Zusammenhang damit eine von sich aus betriebene Form der Erkenntnisförderung bilden quasi die Zielkoordinaten des Musilschen Bestrebens. Die Veränderung des gewohnten Blicks befördert eine andere Weltanschauung:
Das beste Mittel gegen einen anzüglichen Gebrauch dieses weltanschaulichen [sic!] Werkzeugs ist es, an seine Theorie zu denken. Sie heißt Isolierung. Man sieht Dinge immer mitsamt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsmäßig für das, was sie darin bedeuten. Treten sie aber einmal heraus, so sind sie unverständlich und schrecklich, wie es der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein muß, ehe sich die Erscheinungen aneinander und an uns gewöhnt hatten. So wird auch in der glashellen Einsamkeit alles deutlicher und größer, aber vor allem wird es ursprünglicher und dämonischer.
Musil, Robert: Triëdere. In: R.M..: Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1983, p.338f. [Update 2023: s. dazu auch Triëdere & Halluzinationen]
Offensichtlich soll hier aus Gründen der Fokussierung, der Eliminierung potentiell konzentrationsstörender Kontexte, der Vorteil des Fernrohrs gegenüber dem Kino propagiert werden; den euphemistischen Entfremdungsavancen des letzteren wird nicht nachgegeben, sondern vielmehr entgegengewirkt, denn »das Kino dient der Liebe zum Dasein und bemüht sich, dessen Schwächen zu beschönigen, was ihm denn auch mit fortschreitender Technik gelingt. Ganz anders der Triëdere! Unerbittlich hält es darauf zu zeigen […].« [☞ 59] Diese Musilsche »Vorübung« zum »Genie« erkennt jedoch selbst er als »vergeblich«, denn selbst die scheinbar zwingendsten Vorgaben, die materiellen Spezifika des Mediums, dienen den Anwendern kaum zur intellektuellen Übung, für den ästhetisch relevanten Mehrwert, sondern vielmehr zur fortgesetzten Einübung in das soziale Bewußtsein: »Benutzen doch die Menschen das Glas sogar im Theater dazu, die Illusion zu erhöhen, oder im Zwischenakt nachzusehen, wer da ist, wobei sie nicht das Unbekannte suchen, sondern die Bekannten.« [☞ 60]
… und Schluß
In einem je bestimmten »Kulturkreis« transportiert die Kombination spezifischer Elemente unterschiedliche Inhalte (und faltet dabei Grauzonen auf, die in weiterer Folge auch als Konfliktpotential sich erweisen können). Es werden nicht ganze Einheiten (ein Film, ein Panorama etc.) erfaßt und im Rahmen der Ansprüche des Rezipienten (abgesehen vom Unterhaltungsbegehr), d.h. auch im Sinne effizienter »Komplexitätsreduktion« (Niklas Luhmann), zu- bzw. eingeordnet. Statt dessen werden Muster formatiert, die zwar nicht für sich stehen können, jedoch aufgrund ihrer Einbettung in die Gesamtheit des Erlebnisses Relevanz gewinnen – auch für die und in ihrer Organisation kultureller Erinnerungsschemata.
Es ist das alte Problem: »Kultur«, Resultat unterschiedlicher Eingriffe, Veränderungen und Prozesse, erweist sich auch in diesem Bereich als Vexierbild, als Polykontext, der kaum in simplen Binaritäten sich auflösen lassen wird. Und »Kultur« führt stets unterschiedlichste Geschichten mit sich; Geschichten sind wiederum stets (Re-) Konstruktionen, ob schriftlich oder rein visuell kommuniziert. Es geht darum, medienadäquat die jeweiligen Mechanismen der Inszenierung offenzulegen und ihre Verfahren zu hinterfragen, sich somit auch der Überschneidungen annehmen zu können. Das kleine Problem besteht seit jeher bloß darin, daß Ereignissequenzen und -konglomerate kaum aufzulösen sind – Konflikte und Paradoxien, Trübungen und Komplexitäten sind Verflechtungsfiguren par excellence, sie haben Qualitäten und Bedeutungen, an denen es sich abzuarbeiten gilt.
[☞ 1] Cf. Zur Geschichte der ersten Filmvorführung überhaupt u.a. Schnell, Ralf: Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, p.47.
[☞ 2] Müller, Robert: Camera obscura. Roman. Hg. v. Günter Helmes. Paderborn: Igel 1991, p.144.
[☞ 3] Cit. nach: Därmann, Iris: Noch einmal: 3/4 Sekunde, aber schnell. In: Zeitreise. Bilder-Maschinen-Strategien-Rätsel. Hg. v. Georg Christoph Tholen, Michael Scholl u. Martin Heller. Basel, Frankfurt/Main: Stroemfeld, Roter Stern 1993, p.198.
[☞ 4] Cf. u.a. Kittler, Friedrich: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose 1986 u. Lacan, Jacques: Le Séminaire Livre XI: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse. Paris: Seuil 1973.
[☞ 5] Diese Überlegungen verdankt der Verf. dem bereits verstorbenen Alexander Michailow.
[☞ 6] Diese Einschätzung läßt sich nur mit dem Zusatz halbwegs aufrecht erhalten, daß »Literatur« zu dieser Zeit eine elitäre Kulturform darstellt; die Analphabetenraten in der Monarchie sind zumindest im Falle Ungarns der These vom Leitmedium Literatur nicht sehr hilfreich, folgt man dem ›Zola der Statistik‹, Jozsef Körössi [andere Schreibweise: Körösy], Direktor des Statistischen Bureaus Budapests, der in seinen unzähligen Veröffentlichungen immer wieder die Frage des Analphabetismus anspricht und im Jahre 1870 auch die landesweiten Volkszählungsergebnisse miteinbezieht:
Das statistische Landesbureau hat dadurch, dass es in den Kreis der ersten ungarischen Volkszählung auch die Aufnahmen über den Bildungsgrad der Bevölkerung einbezogen, uns zur Beurtheilung der vaterländischen Derhältnisse Daten von grösstem culturhistorischen Interesse geliefert […] Leider ist das Resultat, zu welchem diese Aufnahme führte, ein nicht sehr erfreuliches, nachdem dasselbe dargethan, dass von den Einwohnern Ungarns 66% des Lesens und Schreibens unkundig sind, während 9 von den verbleibenden 34 Percenten blos des Lesens kundig sind, so dass der sowohl des Lesens als auch des Schreibens kundige Theil der Bevölkerung nur 25% beträgt.« (Körössi, Jozsef: Die königliche Freistadt Pest im Jahre 1870. Resultate der Volkszählung und Volksbeschreibung. (Publicationen des Statistischen Bureaus der Königlichen Freistadt Pest IV). Pest: Ráth [in Commission] 1871, p.71) Laut derselben offiziellen Quelle lauten 1870 die entsprechenden Zahlen für Italien 70%, für Polen 80%, für Spanien 80%, für Neapel/Sicilien 89% für Russland 90%! (p.71f.) Auch die Darstellung bei Hobsbawm rechtfertigt nicht gerade überschäumenden Optimismus hinsichtlich einer massenkompatiblen Relevanz der Literatur: »1850: Österreich, Böhmen und Mähren – 30-50%; Ungarn, Balkanländer, Polen, Italien, Rumänien – über 50%. 1913: Österreich – unter 10%; Norditalien, Slowenien – 10-30%; Ungarn, Rumänien, Balkanländer, Polen – über 30%.
Hobsbawm, Eric J.: Das imperiale Zeitalter 1875-1914. Aus d. Engl. v. Udo Rennert. Frankfurt/M.: Fischer 31999, p.429.
[☞ 7] 1908 veröffentlichte Musil seine Dissertation – Musil, Robert: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs und Studien zur Technik und Psychotechnik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1980.
[☞ 8] Mach, Ernst: Antimetaphysische Bemerkungen. In: Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Hg. v. Gotthart Wunberg. Stuttgart: Reclam 1981 (RUB 7742), p.137-145, p.141. Zu den wissenschaftlichen Studien Ernst Machs cf. u.a.: Hoffmann, Christoph: Die Dauer eines Moments. Zu Ernst Machs und Peter Salchers ballistisch-fotografischen Versuchen 1886/87. In: Peter Geimer (Hg.): Odnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002 (stw 1538), p. 342-377; Ders.: Zwei Schichten. Netzhaut und Photographie. In: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, H. 81, Jg. 21 (2001), p.21-38.
[☞ 9] Fritz Mauthner. Ausgewählte Texte aus dem philosophischen Werk. Hg. v. Gershon Weiler. Salzburg: Residenz 1986, p.102 (Mauthner verweist selbst – ibid., p.104 – auf seine enge Verbundenheit und den von gegenseitigem Respekt getragenen Kontakt mit Mach!).
[☞ 10] Mauthner, Fritz: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1: Zur Sprache und zur Psychologie. Frankfurt/Main, Berlin, Wien: Ullstein 1982 (Ullstein-Buch, Nr. 35145), p.97. Auch Hofmannsthals etwas manierierter »Chandos-Brief« (Cf. Hofmannsthal, Hugo v.: Ein Brief. In: H.v.H.: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Hg. v. Bernd Schoeller. Frankfurt/Main: Fischer 1979 [FTB 2165], p.461-472), wäre im Kontext einer Rekonstruktion damaliger Unebenheiten in Wahrnehmung und Ausdruck zu berücksichtigen.
[☞ 11] Cf. Worbs, Michael: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt/Main: Athenäum 1988 (Athenäums Kleine weiße Reihe Bd. 107).
[☞ 12] Sigmund Freud veröffentlicht zwar ›erst‹ 1899 »Die Traumdeutung« (marketingtechnisch geschickt auf 1900 vordatiert), in den Wiener und Pariser Medizinischen Schulen kommt es bereits jedoch viele Jahre davor zu zahlreichen Arbeiten und Experimenten in den Bereichen der Neurologie und insbesondere Hysterieforschung. Eine der bekanntesten Hypnoseszenen der Zeit stellt Arthur Schnitzlers Einakter »Die Frage an das Schicksal« (1899, Teil des »Anatol«-Zyklus) dar – Schnitzler zeigte bereits zuvor, etwa während seiner Tätigkeit als Redakteur und Rezensent der »Internationalen klinischen Rundschau«, aber auch der »Wiener Medizinischen Presse« massives Interesse für diese Materie. Im übrigen wird sich unter den Autoren, die den Film thematisieren, kaum einer finden lassen, der sich nicht an Traum-Darstellungen versucht hätte.
[☞ 13] Kittler, Friedrich A.: Romantik – Psychoanalyse – Film: Eine Doppelgängergeschichte. In: Eingebildete Texte. Affairen zwischen Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. Hg. v. Jochen Hörisch u. Georg Christoph Tholen. München: Fink 1985 (UTB 1348), p.118-135, hier p.126.
[☞ 14] Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt/Main: Fischer 1989 (FTB 4414), p.60.
[☞ 15] 1855, 1867, 1878, 1889 und 1900 fanden in Paris die meist bestaunten Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts statt. In ihrer zeitlichen Abfolge entwickelten sich diese zu immer gigantomanischeren Massenveranstaltungen, auf denen die Zurschaustellung von Zeugnissen des technischen Fortschritts, der kulturellen und künstlerischen Höchstleistungen kombiniert wurde mit der Vorstellung exotischer Kulturen oder längst verschwundener Lebensumstände. Äußeres Zeichen waren die riesigen Eisen- und Glaskonstruktionen wie die Wiener Rotunde, der Londoner Kristallpalast – oder auch die Galerie des Machines, die neben dem Eiffelturm als Kathedrale der Fortschrittsreligion eine der Hauptattraktionen der Pariser Weltausstellung von 1889 darstellte und in der 16.000 Maschinen installiert wurden. Hinsichtlich der im Zuge umfassender Weltausstellungen vordem unbekannte Ausmaße annehmenden Glasarchitektur, ihren spezifischen Raum und die Frage der Beleuchtung cf. Schivelbusch 1989, p.45-50. Zur Attraktion der Elektrizität auf den Weltausstellungen cf. Kronauer, Iris: Es werde Licht! In: Die Zeit 22 (2000), p.76.
[☞ 16] Cf. Garelick, Rhonda: Bayadères, Stéréorama, and Vahat-Loukoum. In: Spectacles of Realism. Body, Gender, Genre. Hg. v. Margaret Cohen u. Christopher Prendergast. Minneapolis, London: University of Minnesota Press 1995 (Cultural Politics, Bd. 10), p.294-319.
[☞ 17] Für die Wiener Weltausstellung cf. u.a.: Plener, Peter: Sehsüchte einer Weltausstellung – Wien 1873. Auf: http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/PPlener1.pdf (2001).
[☞ 18] Sternberger, Dolf: Schriften. Bd. 5: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert. Frankfurt/Main: Insel 1981, p.64.
[☞ 19] Ibid., p.60.
[☞ 20] Ibid., p.73.
[☞ 21] Der Verf. hat am Beispiel der Aschanti-Ausstellungen in Budapest und Wien zu zeigen versucht, welch vertrackte Konstellationen sich aus der Mischung sinnlicher Reize und vorgeblich naturwissenschaftlichem Interesse ergeben können, cf.: Plener, Peter: (K)Ein Mohr im Hemd. Aschantis in Budapest und Wien, 1896/97. Auf: http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/PPlener2.pdf (2001).
[☞ 22] Sternberger 1981, p.68.
[☞ 23] Ibid., p.103.
[☞ 24] Zum Verhältnis der Rezeption Darwins zur Literatur cf. insbesondere: Michler, Werner: Darwinismus und Literatur. Naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich 1859-1914. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1999 (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 2).
[☞ 25] Sternberger 1981, p.104.
[☞ 26] Zur Darstellung von »Volkskultur« und ihren »exotische« Reize wie wissenschaftliche Erkenntnis verheißenden Darstellungen auf den großen Ausstellungen des 19. Jahrhunderts cf. u.a.: Wörner, Martin: Vergnügen und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1851-1900. Münster u.a.: Waxmannn 1998.
[☞ 27] Cf. ad Telegraph und seine Bedeutung hinsichtlich Literatur: Segeberg, Harro: Technische Konkurrenzen. Film und Tele-Medien im Blick der Literatur. In: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 1890-1918. Hg. v. York-Gothart Mix. München: dtv 2000 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Litratur Bd. 7), p.422-436, hier v.a. p.430-436.
[☞ 28] Cf. dazu aus anderen Perspektiven die Überlegungen u.a. in: Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Aus d. Amerikan. v. Anne Vonderstein. Dresden, Basel: Verlag der Kunst 1996; Oliver Grau: Das Sedanpanorama. Einübung soldatischen Gehorsams im Staatsbild durch Präsenz. In: Medien der Präsenz. Museum, Bildung im Wissenschaft im 19. Jahrhundert. Hg. v. Jürgen Fohrmann, Andrea Schütte u. Wilhelm Voßkamp. Köln: DuMont 2001 (Mediologie 3), p.143-169.
[☞ 29] Der exzessive Kinogeher (mit gut 1500 gesehenen Filmen und über 200 Panoramenbesuchen) wie Autor Arthur Schnitzler wird aus Platzgründen weitgehend unerwähnt bleiben. Cf. In diesem Zusammenhang: Plener, Peter: Arthur Schnitzlers Tagebuch (1879-1931): Funktionen, Strukturen und Räume. Wien: Diss. masch. 1999, p.276-314.
[☞ 30] Cf. etwa eine entsprechende, ein Diorama beschreibende, Fußnote in: Sternberger 1981, p.259f.
[☞ 31] Cf. dazu Schnell 2000, hier v.a. p.34-37.
[☞ 32]
Ich schleudere hiermit meinen Bannfluch gegen allejene, die, in ›bestgemeinter Absicht‹ oder aus Geschäftsinteresse, sich in neuerer Zeit gegen die Kinotheater wenden! Es ist die beste, einfachste, vom öden Ich ablenkendste Erziehung, besser jedenfalls, tausendmal besser als die bereits als ›freche Gaunerei‹ entlarvte ›Kunstdarbietung‹, ausgeheckt in ehrgeizigen, verdrehten Gehirnen und präpariert für den ›seelischen Poker-Bluff‹; infame Düpierung einfach-gerader Menschenseelen! Im Kino erlebe ich die Welt […]. ›Ein berühmter Schriftsteller‹ sagte zu mir: ›Wir sind jetzt unter uns, was finden Sie eigentlich Besonderes an den Kinovorstellungen?!?‹ [/] ›Nein‹, sagte ich, ›wir sind nicht unter uns, sondern Sie sind unter mir!‹
Altenberg, Peter: Das Kino. In: Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914. Hg. u. komm. v. Jörg Schweinitz. Leipzig: Reclam 1992 [Reclam-Bibliothek 1432], p.169f.
[☞ 33] Altenberg, Peter: Kunst. In: Altenberg 1984, p.112.
[☞ 34] Für dessen Haltung zur Photographie cf. u.a.: Kraus, Karl: Momentaufnahmen. In: Die Fackel v. 5. Oktober 1912, Nr. 357/358/359, 14. Jg., p.31-34.
[☞ 35] Cf. dagegen Walter Benjamin, dessen Kritik der Reproduktion aufgrund des Verlusts der Aura noch Jahrzehnte eine Rolle in der theoretischen Diskussion liefern sollte! – u.a.: Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Photographie. In: W.B.: Gesammelte Schriften. Bd. II.1: Aufsätze, Essays, Vorträge. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991 (stw 932), p.368-385; Walter Benjamin.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: W.B.: Gesammelte Schriften Bd. I.2: Abhandlungen. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991 (stw 931), p.431-469 [Erste Fassung] bzw. p.471-508 [Dritte Fassung].
[☞ 36] Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. V: Das Passagen-Werk. 2 Bde. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991 (stw 935).
[☞ 37] Cf. v.a. ibid., Bd V.2, p.655ff.
[☞ 38] Cf. Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. I.2 (= stw 931), p.691-704.
[☞ 39] Ibid., p.697.
[☞ 40] Cf. u.a. Bachtin, Michail M.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hrsg. v. Edward Kowalski u. Michael Wegner. Aus d. Russ. v. Michael Dewey. Frankfurt/Main: Fischer 1989 (Fischer Wissenschaft; FTB 7418).
[☞ 41] Cf. u.a. Benjamin: Passagen-Werk, Bd. V.1, p.524-569.
[☞ 42] Cf. v.a. Benjamin: Geschichte (etwa 1940 entstanden), sowie andere geschichtsphilosophische Arbeiten. Aber auch bereits literarische Texte wie die »Einbahnstraße« (1928 publiziert) sind im Zusammenhang dieses Projekts zu sehen.
[☞ 43] Kafka, Franz: Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte: Oxforder Quartheft 1. Hrsg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle. Frankfurt/Main: Stroemfeld/Roter Stern 2001, p.4/5.
[☞ 44] Cf. Herausgeberkommentar in: Gesammelte Werke Bd. 9: Tagebücher Bd. 1: 1909-1912. Nach d. Kritischen Ausg. hg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: Fischer 1994 (FTB 12449), p.275f. Roland Reuß ist hinsichtlich der Datierung aus guten Gründen vorsichtiger und ordnet dieses Notat zwar auch dem Jahre 1909 zu (Reuß, Roland: Zur kritischen Edition der beiden Oxforder Quarthefte. In: Frank Kafka-Heft 3. . Hrsg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle. Frankfurt/Main: Stroemfeld/Roter Stern 2001, p.3-18, hier: p.11), setzt jedoch den Beginn diaristischer Einträge erst für den 29. Mai 1910 an (ibid., p.3).
[☞ 45] Zischler, Hanns: Kafka geht ins Kino. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996, bspw. p.12-15 – cf. dagegen Herausgeberkommentar in: Kafka, Franz: Gesammelte Werke Bd. 9: Tagebücher Bd. 1: 1909-1912. Nach d. Kritischen Ausg. hg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: Fischer 1994 (FTB 12449), p.308.
[☞ 46] Brod verfaßte eine Glosse »Panorama«, die Walter Benjamin später, teilweise ironisch, zitieren wird: Cf. Benjamin: Passagen-Werk, Bd. V.2, p.656.
[☞ 47] Zischler 1996, p.40.
[☞ 48] Kafka: Reisetagebücher, p.16.
[☞ 49] Zischler 1996, p.45.
[☞ 50] Cf. den Brief Franz Kafkas an den Verleger Kurt Wolff v. 25. Oktober 1915, in dem er sich gegen eine Zeichnung Gregor Samsas als Insekt – auf dem Umschlag der zur Publikation anstehenden »Verwandlung« – verwehrt (wobei Kafka dies nur ahnt, keine definitiven Hinweise darauf hat): »Das nicht, bitte das nicht! […] Das Insekt selbst kann nicht gezeichnet werden. Es kann aber nicht einmal von der Ferne aus gezeigt werden.« (Wolff, Kurt: Briefwechsel eines Verlegers 1911-1963. Hg. v. Bernhard Zeller u. Ellen Otten. Frankfurt/Main: Scheffler 1966, p.37)
[☞ 51] Cf. zu diesen Kritikpunkten auch: Augustin, Bettina: Im Bann der Bilder. Wie Hanns Zischler aus Kafkas Leben Kino macht. In: Neue Rundschau, 108. Jg. (1997), H. 1, p.160-164.
[☞ 52] Müller, Robert: Camera obscura. Roman. Berlin: Erich Reiß Verlag 1921. [Zitiert wird nach der Neuauflage im Igel-Verlag, cf. ☞ 2.]
[☞ 53] Bekanntlich handelt es sich bei einer Camera obscura um eine Projektionsform, die ein auf dem Kopf stehendes Abbild projiziert, das über diverse Spiegelungen erst ›aufgerichtet‹ werden kann (es handelt sich sozusagen um die mechanische Variante der menschlichen Wahrnehmung, bei der die auf dem Kopf stehende Optik durch die Gehirnleistung ›zurechtgerückt‹ wird).
[☞ 54] Müller: Camera obscura, p.49.
[☞ 55] Ibid., p.107.
[☞ 56] Hoffmann, Christoph: »Der Dichter am Apparat«. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899-1942. München: Fink 1997 (Musil-Studien, Bd. 26), p.83.
[☞ 57] Cf. Musil, Robert: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. In: R.M.: Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1983, p.5-140:
Denn immer war es in ihm, als sei soeben ein Bild über die geheimnisvolle Fläche gehuscht, und nie gelang es ihm im Augenblick des Vorganges selbst, diesen zu erhaschen. Daher war beständig eine rastlose Unruhe in ihm, wie man sie vor einem Kinematographen empfindet, wenn man neben der Illusion des ganzen doch eine vage Wahrnehmung nicht loswerden kann, daß hinter dem Bilde, das man empfängt, hunderte von – für sich betrachtet ganz anderen – Bildern vorbeihuschen.
Ibid., p.91
[☞ 58] Musil, Robert: Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (1925). In: R.M.: Gesammelte Werke Bd. 2. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, p.1137-1154, hier p.1139. Für die Relevanz des Films im Werk Musils cf. insbesondere: Rußegger, Arno: Kinema mundi. Studien zur Theorie des »Bildes« bei Robert Musil. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1996 (Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Literatur 40).
[☞ 59] Ibid., p.340.
[☞ 60] Ibid., p.340.