Triëdere

Robert Musils im Rahmen seines Nachlasses zu Lebzeiten (per Impressum 1936; de facto bereits Ende 1935) erschienener Text Triëdere – einer der meist überarbeiteten des NzL – kennt eine Vorstufe; den mittels Exklamation im Titel nicht nur eine Sensation wie am Jahrmarkt anzeigenden, sondern auch imperativisch vom ersten Wort an zu verstehenden Text Triëdere! aus 1926/27, erschienen im »Berliner Tageblatt« (15.10.1926), in »Der Tag« (21.11.1926) und in der »Prager Presse« (9.1.1927).
Im NzL – hier in der Fassung der Gesamtausgabe, Bd. 8, hg. v. Walter Fanta – findet sich die mehrfach überarbeitete, extrapolierte Fassung, wie sie im Regelfall zitiert wird.

Triëdere

Zeitlupenaufnahmen tauchen unter die bewegte Oberfläche, und es ist ihr Zauber, daß sich der Zuschauer zwischen den Dingen des Lebens gleichsam mit offenen Augen unter Wasser umherschwimmen sieht. Das hat der Film volkstümlich gemacht; aber es ist schon lange vor ihm auf eine Weise zu erleben gewesen, die sich noch heutigentags durch ihre Bequemlichkeit empfiehlt: indem man nämlich durch ein Fernrohr etwas betrachtet, das man sonst nicht durch ein Fernrohr ansieht. In der Folge ist ein solcher Versuch beschrieben. 
Als Gegenstand diente zu Beginn ein Anschlag am Tor eines schönen alten Hauses, das dem Beobachtungsort gegenüber lag und ein bekanntes staatliches Institut beherbergte; dieser Anschlag verkündete, bei Gebrauch des Triëders, daß das staatliche Institut von neun bis sechzehn Uhr Amtsstunden habe. Schon da erstaunte der Beobachter; denn es war fünfzehn Uhr, und nicht nur war weit und breit kein Beamter mehr zu erblicken, sondern er entsann sich auch nicht, jemals um diese Stunde mit unbewaffnetem Auge einen gesehen zu haben. Endlich entdeckte er hinter einem entlegenen Fenster zwei winzige, dicht nebeneinander stehende Herren, die mit den Fingern an die Scheiben trommelten und auf die Straße hinabsahen. Aber er entdeckte sie nicht nur, sondern wie sie nun, in dem kleinen Kreis seines Instruments gefangen, dastanden, verstand er sie auch herzlich und bemerkte mit Stolz, wie wichtig das Triëdern für Beamte noch werden könne, und überhaupt für Männer, die eine geheiligte Zahl von Bürostunden abzusitzen haben. 
Als zweites kam dann das Haus daran, worin sich das beobachtete Amt befand. Es war ein altes Palais, mit Fruchtgewinden am Kapitäl der Steinpfeiler und schöner Gliederung nach der Höhe und Breite, und während der Späher noch die Beamten gesucht hatte, war ihm schon aufgefallen, wie deutlich sich dieses Pfeilerwerk, diese Fenster und Gesimse ins Fernglas hineinstellten; nun, da er sie mit einem gesammelten Blick erfaßte, erschrak er beinahe vor der steinernen perspektivischen Korrektheit, mit der sie zu ihm herüberblickten. Er wurde plötzlich inne, daß er bisher diese zu einem Punkt im Hintergrund zusammenlaufenden Waagrechten, diese, je weiter seitlich, umso trapezförmiger, zusammengezogenen Fenster, ja diesen ganzen Absturz vernünftiger, gewohnter Begrenzungen in einen irgendwo seitlich und hinten gelegenen Trichter der Verkürzung nur für einen Alp der Renaissance gehalten hatte: eigentlich für eine grauenvolle Malersage vom Verschwinden der Linien, die gerüchtweise übertrieben werde, wenn auch etwas Richtiges an ihr sein möge. Nun sah er sie aber überlebensgroß, und weit schlimmer als das unwahrscheinlichste Gerücht, vor seinen eigenen Augen. 
Wer es nicht glaubt, daß die Welt so ist, der triëdere die Straßenbahn. Vor dem Palais machte sie einen S-förmigen Doppelbogen. Ungezähltemal hatte sie unser Beobachter von seinem zweiten Stockwerk aus daherkommen, eben diesen S-förmigen Doppelbogen machen und wieder davonfahren gesehen; sie, die Straßenbahn: in jedem Augenblick dieser Entwicklung der gleiche längliche rote Wagen. Als er sie nun durch das Triëder betrachtete, bemerkte er aber etwas völlig Anderes: Eine unerklärliche Gewalt drückte plötzlich diesen Kasten zusammen wie eine Pappschachtel, seine Wände stießen immer schräger aneinander, gleich sollte er platt sein; da ließ die Kraft nach, er fing hinten an breit zu werden, durch alle seine Flächen lief wieder eine Bewegung, und während der verdutzte Augenzeuge noch den angehaltenen Atem aus der Brust läßt, ist die alte, vertraute rote Schachtel wieder in Ordnung. Das geschah nun, als er mit dem Glas zusah, alles so deutlich an dem öffentlichen Ding, und nicht etwa persönlich bloß in seinem Auge, daß er darauf hätte schwören mögen, es sei nicht minder wirklich, als wenn ein Fächer geöffnet und geschlossen wird. Und wer es nicht glauben will, der kann es nachprüfen. Er bedarf nur einer Wohnung dazu, auf die eine Straßenbahn in S-förmiger Schleife zukommt. 
Sobald diese Entdeckung gemacht war, sah sich der Entdecker natürlich die Frauen an; und da enthüllte sich ihm die ganze unverwüstliche Bedeutung menschlichen Kuppelbaus. Was rund ist an der Frau, und damals nach dem Willen der Mode noch sorgfältiger verheimlicht wurde als heute, so daß es bloß als kleine rhythmische Unebenheit im knabenhaften Fluß der Bewegung erschien, wölbte sich unter dem unbestechlichen Blick des Triëders wieder zu den ureinfachen Hügeln, aus denen die ewige Landschaft der Liebe besteht. Rings darum öffneten und schlossen sich, aufgeregt von jedem Schritt, unerwartet viel wispernde Falten im Kleid. Sie verkündeten dem gewöhnlichen Auge das unantastbare Ansehen der Trägerin oder das Lob des Schneiders und verrieten heimlich, was nicht gezeigt wird; denn in Vergrößerung gesehn, werden Impulse zur Ausführung, und durch ein Glas beobachtet, wird jede Frau eine psychologisch belauschte Susanna im Bade des Kleides. Es war aber überraschend, wie bald sich solche kennerhafte Neugierde unter der unverrückbaren und offenbar etwas boshaften Ruhe des Triëderblicks verflüchtigte und bloß noch als ein Gefackel und Geflacker zwischen den ewigen, sich gleichbleibenden Werten ausnahm, die keine Psychologie brauchen. 
Genug davon! Das beste Mittel gegen einen anzüglichen Mißbrauch dieses weltanschaulichen Werkzeugs ist es, an seine Theorie zu denken. Sie heißt Isolierung. Man sieht Dinge immer mitsamt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsmäßig für das, was sie darin bedeuten. Treten sie aber einmal heraus, so sind sie unverständlich und schrecklich, wie es der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein mag, ehe sich die Erscheinungen aneinander und an uns gewöhnt hatten. So wird auch in der glashellen Einsamkeit alles deutlicher und größer, aber vor allem wird es ursprünglicher und dämonischer. Ein Hut, der eine männliche Gestalt nach schöner Sitte krönt, eins mit dem Ganzen des Mannes von Welt und Macht, durchaus ein nervöses Gebilde, ein Körper-, ja sogar ein Seelenteil, entartet augenblicklich zu etwas Wahnsinnähnlichem, wenn das Triëder seine romantischen Beziehungen zur Umwelt unterbindet und die richtigen optischen herstellt. Die Anmut einer Frau ist tödlich durchschnitten, sobald sie das Glas vom Rocksaum aufwärts als einen sackartigen Raum erfaßt, aus dem zwei geknickte kurze Stelzchen hervorkommen. Und wie beängstigend wird das Zähnefletschen der Liebenswürdigkeit und wie säuglingshaft komisch der Zorn, wenn sie sich, von ihrer Wirkung getrennt, hinter der Sperre des Glases befinden! Zwischen unseren Kleidern und uns und auch zwischen unseren Bräuchen und uns besteht ein verwickeltes moralisches Kreditverhältnis, worin wir ihnen erst alles leihen, was sie bedeuten, und es uns dann mit Zinseszins wieder von ihnen ausborgen; darum nähern wir uns auch augenblicklich dem Bankerott, wenn wir ihnen den Kredit kündigen. 
Natürlich hängen damit die vielbelächelten Torheiten der Mode zusammen, die den Menschen ein Jahr lang verlängern und in einem andern Jahr verkürzen, die ihn dick machen und dünn, die ihn bald oben breit und unten schmal, bald oben schmal und unten breit machen, die in einem Jahr alles an ihm empor und im nächsten alles wieder bergab kämmen, die seine Haare nach vorn und hinten, rechts und links streichen. Sie stellen, wenn man sie ohne alles Mitfühlen betrachtet, eine überraschend geringe Anzahl von geometrischen Möglichkeiten dar, zwischen denen auf das leidenschaftlichste abgewechselt wird, ohne die Überlieferung jemals ganz zu durchbrechen. Werden auch noch die Moden des Denkens, Fühlens und Handelns einbezogen, von denen ähnliches gilt, so erscheint unsere Geschichte dem empfindlich gewordenen Auge kaum anders als ein Pferch, zwischen dessen wenigen Wänden die Menschenherde besinnungslos hin und her stürzt. Und doch, wie willig folgen wir dabei den Führern, die eigentlich selbst nur entsetzt voranfliehen, und welches Glück grinst uns aus dem Spiegel entgegen, wenn wir Anschluß haben, aussehen wie alle, und alle anders aussehen als gestern! Warum das alles?! Vielleicht befürchten wir mit Recht, dass unser Charakter wie ein Pulver auseinanderfallen könnte, wenn wir ihn nicht in eine öffentlich zugelassene Tüte stecken. 
Der Beobachter endete schließlich bei den Füßen, das heißt an der Stelle, wo sich der Mensch aus dem Tierreich erhebt. Und wie unheimlich ist sie bei Mann und Frau! Man weiß ja auch davon einiges schon aus dem Kino, wo berühmte Helden und Heldinnen eilig aus dem Hintergrund hervorwatscheln wie Enten. Aber das Kino dient der Liebe zum Dasein und bemüht sich, dessen Schwächen zu beschönigen, was ihm denn auch mit fortschreitender Technik gelingt. Ganz anders das Triëder! Unerbittlich hält es darauf zu zeigen, wie lächerlich sich die Beine oben von den Hüften abstoßen und wie täppisch sie unten auf Absatz und Sohle landen; das schwankt nicht nur unmenschlich und kommt mit dem dicken Ende zuerst an, sondern vollführt auch dazwischen meistens noch die aufschlußreichsten persönlichen Grimassen. Der Mann hinter dem Instrument hatte binnen fünf Minuten zwei solche Fälle beobachten können. Kaum hatte er einen jungen Kavalier mit Sportkappe aufs Korn genommen, dessen Socken wie der Hals einer Ringeltaube gestreift waren, als er auch schon gewahrte, wie dieser gelassen neben seinem Mädchen als Gebieter Schlendernde bei jedem seiner langsamen Schritte das Bein mit einem angestrengten winzigen Ruck aus dem Stand schleudern mußte. Kein Arzt, kein Mädchen, auch nicht er ahnte noch das Grauen, das ihm bevorstand; bloß das Triëder löste die kleine Gebärde der Hilflosigkeit aus der allseitigen Harmonie der Brutalität und ließ die heranwachsende Zukunft im Bild erscheinen! Etwas Harmloseres geschah an dem freundlichen, rundlichen Mann in den besten Jahren, der rasch daherkam und der Welt eine wohlwollende, zutuliche Art des Gehens darbot: Nach einem Schnitt durch die Mitte, der die Beine auspräparierte, kam augenblicklich hervor, daß der Fuß ganz scheußlich einwärts aufgekantet wurde; und nun, da an dieser Stelle der Schein durchbrochen war, pendelten auch die Arme eigensinnig in den Schulterpfannen, die Schultern zogen am Genick, und statt eines Ganzen des Wohlwollens war mit einem Male ein menschliches System zu sehen, das nur darauf bedacht war, sich selbst zu behaupten, und gar nichts für andere übrighatte! 
Auf solche Weise trägt also das Fernglas sowohl zum Verständnis des einzelnen Menschen bei als auch zu einer sich vertiefenden Verständnislosigkeit für das Menschsein. Indem es die gewohnten Zusammenhänge auflöst und die wirklichen entdeckt, ersetzt es eigentlich das Genie oder ist wenigstens eine Vorübung dazu. Vielleicht empfiehlt man es aber gerade darum vergeblich. Benutzen doch die Menschen das Glas sogar im Theater dazu, die Illusion zu erhöhen, oder im Zwischenakt um nachzusehen, wer da ist, wobei sie nicht das Unbekannte suchen, sondern die Bekannten. 

Robert Musil: Triëdere. In: Ders.: Gesamtausgabe Bd. 8. Hg. v. Walter Fanta. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2019, S. 475–482.

Die 1926/27 publizierte Fassung Triëdere! wie folgt (die drei publizierten Fassungen weisen diverse Abweichungen voneinander auf; deren Nachweise im Einzelnen in der KA!) :

Triëdere!

Eines Nachmittags langweilte er sich sehr. Da erinnerte er sich, daß er noch aus der Kriegszeit ein Triëder besitze, fand es in einer tiefen Lade eines hohen Sekretärs und stellte es auf sein Auge ein. Er benützte dazu einen Anschlag, den er am Tor des gegenüberliegenden Hauses bemerkt hatte, und las zu seinem Staunen, daß ein staatliches Institut, welches in diesem Gebäude untergebracht war, von 9 bis 16 Uhr Amtsstunden habe. Denn es war 15 Uhr, und weit und breit kein Beamter mehr zu sehen; er erinnerte sich auch nicht, zu dieser Stunde jemals einen bemerkt zu haben. Endlich entdeckte er hinter einem entlegenen Fenster zwei dicht nebeneinander stehende Herren, welche mit den Fingern gegen die Scheiben trommelten und auf die Straße hinabsahen. Er erinnerte sich seiner eigenen unvergeßlichen Bureauzeiten. Das Triëdern ist Festangestellten, Beamten und ihresgleichen, Männern mit einer heiligen Anzahl von Bureaustunden, warm zu empfehlen.
Das Haus, in welchem das stadtbekannte Amt untergebracht war, an dem diese ersten Versuche angestellt wurden, ist ein altes Palais mit Fruchtgewinden am Kapitell der Steinpfeiler, und schöner Gliederung in der Horizontalen wie Vertikalen. Während der Beobachter noch die Beamten suchte, war ihm schon aufgefallen, wie deutlich sich diese Architektur ins Fernglas hineinstellte, und als sein Auge nun einiges an Pfeilerwerk, Fenstern und Gesimsen in einem Blick erfaßte, erschrak er beinahe vor der steinernen, perspektivischen Korrektheit, mit der es sich ihm darstellte. Er wurde plötzlich gewahr, daß er bisher diese zu einem Punkt im Hintergrund zusammenlaufenden Wagerechten, diese, je weiter seitlich, desto trapezförmiger zusammengezogenen Fenster, ja, diesen ganzen Absturz vernünftiger Begrenzungslinien bekannter Gegenstände in einen irgendwo seitlich und hinten gelegenen Trichter der Verkürzung für einen Alb der Renaissance gehalten hatte, eigentlich für eine grauenvolle Malersage vom Verschwinden der Linien, die gerüchtweise übertrieben worden war, wenn auch etwas Richtiges daran sein mochte. Nun aber sah er sie lebensgroß und weit schlimmer, als alles Gerücht vor seinen eigenen Augen.
Wer es nicht glaubt, daß die Welt so aussieht, der triëdere die Straßenbahn. Vor dem Palais machte sie einen S-förmigen Doppelbogen. Ungezählte Male hatte unser Freund sie vom zweiten Stockwerk aus daherkommen, eben diesen S-förmigen Doppelbogen machen und wieder davonfahren gesehen, sie, die Straßenbahn, in jedem Augenblick dieser Entwicklung der gleiche längliche rote Wagen. Aber wenn du sie mit dem Triëder ansiehst, so bemerkst du: eine unerklärliche Gewalt drückt plötzlich diesen Kasten zusammen wie eine Pappschachtel, seine Wände stoßen immer schräger aneinander, gleich wird er platt sein, da läßt die Kraft nach, er fängt hinten an breit zu werden, durch alle seine Flächen läuft wieder eine Bewegung, und während du den angehaltenen Atem aus der Brust läßt, ist die alte vertraute rote Schachtel wieder in Ordnung. Das geschah nun, als er mit dem Glas zusah, so deutlich draußen an dem Ding und nicht in seinem Auge, daß er hätte darauf schwören können, es sei so wirklich, wie wenn man einen Fächer öffnet und schließt. Wer ihm das nicht glaubt, der kann es nachprüfen! Er braucht nur eine Wohnung dazu, auf die eine Straßenbahn in S-förmiger Schleife zukommt.
Sobald diese Entdeckung gemacht war, sah sich der Entdecker natürlich die Frauen an. Und da enthüllte sich ihm die ganze Unverwüstlichkeit des Kuppelbaus. Was rund ist an der Frau und heute so sorgfältig verheimlicht wird, daß es bloß als kleine rhythmische Unebenheit im knabenhaften Fluß der Bewegung erscheint, wölbt sich in der Einsamkeit des Binokels zum steinernen stillen Kreis voll hochgehobenen Schweigens. Unerwartet viel Falten öffneten und schlossen sich aufgeregt ringsum im Kleid; sie drückten das Lob des Schneiders aus, alle möglichen öffentlichen und verborgenen Arten der Bewegung, Unwillkürlichkeiten, lüsternes Gewisper, deuteten Geheimnisse an; jede Frau wurde eine psychologisch belauschte Susanna im Bade des Kleides. Aber das merkwürdigste daran war doch, wie boshaft sich in der Ruhe des Triëderblicks dieses kennerhafte verfeinerte Verhalten ausnahm; es glich nur einem Gefackel und Geflacker zwischen ewigen, gleichbleibenden Werten, die keine Psychologie brauchen.
Genug davon! Das beste Mittel gegen einen anzüglichen Mißbrauch dieses weltanschaulichen Werkzeugs ist es, an seine Theorie zu denken. Sie heißt Isolierung. Man sieht Dinge immer samt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsmäßig für das, was sie darin bedeuten. Heben sie sich aber einmal heraus, so sind sie schrecklich und unverständlich, wie es der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein muß, ehe sich die Erscheinungen aneinander und an uns gewöhnt hatten. Sie werden zwar auch deutlicher und größer unter dem Blick des Triëders, aber das ist nur eine Hilfe; vor allem werden sie ursprünglicher und bestialischer. Wie schön ist bekanntlich ein hoher Herrenhut, wenn er mit seinem geschweiften Glanz eine männliche Gestalt krönt, eins mit dem Ganzen des Mannes von Welt und Macht, durchaus ein nervöses Gebilde, vielleicht sogar Sitz des Willens, und zu welcher rohen Verkehrtheit entartet er auf dem Menschenleib, wenn vom Triëder dieser Zusammenhang durchschnitten wird, der nur aus Einbildung besteht. Wie sonderbar gestört wird das Gleichgewicht einer Frau, wenn man sie vom Rocksaum aufwärts als eine Einheit sieht und darunter zwei kurze, geknickt aus den Knien kommende Stelzchen. Wie beängstigend wird das Zähnefletschen der Liebenswürdigkeit und wie säuglingshaft komisch der Ausdruck des Zorns, wenn sie einsam und unschädlich hinter der Isolierschicht des Glases stecken. Zwischen unseren Kleidern und uns und zwischen unseren Manieren und uns besteht ein verwickeltes moralisches Kreditverhältnis, in welchem wir ihnen erst alles leihen, was sie bedeuten, und es uns dann mit Zinseszins von ihnen wieder ausborgen; darum sind wir immer abhängig von ihnen und in dem Augenblick wo wir ihnen den Kredit kündigen wollten, würden wir uns selbst bankerott fühlen.
Da sind zum Beispiel die vielbelächelten Torheiten der Mode, die den Menschen ein Jahr lang verlängern und in einem anderen Jahr verkürzen, die ihn dick machen und dünn, die ihn bald oben breit und unten schmal, bald oben schmal und unten breit machen, die in einem Jahr alles an ihm empor und im nächsten alles an ihm bergab streichen, die seine Haare nach vorn und hinten, rechts und links kämmen. Sie stellen, ohne Mitfühlen betrachtet, eine überraschend geringe Zahl von geometrischen Möglichkeiten dar, zwischen denen auf das leidenschaftlichste abgewechselt wird, ohne diese Überlieferung durch etwas ganz Neues zu durchbrechen. Nimmt man die paar Moden der Haltung, des Gehens und Sprechens, des Handschlags und Lächelns hinzu, so erscheint das in seiner Gesamtheit dem vom Triëder geübten Auge nicht anders wie ein Pferch, zwischen dessen wenigen Wänden die Menschenherde besinnungslos hin und her stürzt. Und doch, wie willig folgen wir dabei den Führern, die eigentlich nur erschrocken voranfliehen, und welches Glück grinst uns aus dem Spiegel entgegen, wenn wir Anschluß haben, aussehen wie alle, und alle anders aussehen als gestern. Offenbar befürchten wir mit Grund, daß unsere Eigenschaften wie ein Pulver auseinanderfallen würden, wenn wir sie nicht in solche Tüten stecken könnten.
Im Triëder kann man sie zum Auseinanderfallen bringen, aber auch das Umgekehrte geschieht, daß unbeachtete Eigenschaften den Zusammenhang offenbaren, den sie mit dem Ganzen haben. Um von nichts Schwierigerem als von den Füßen zu reden, wie unheimlich sind sie an Mann und Frau! Man weiß ja einiges davon schon aus dem Kino, wo berühmte Helden und Heldinnen eilig aus dem Hintergrund hervorwatscheln wie Enten. Aber das Kino ist ja noch voll Illusion. Viel besser sieht man durchs Triëder, wie die Beine sich oben von den Hüften abstoßen und wie sie unten auf Absatz und Sohle landen; das schwankt nicht nur und kommt mit der Ferse voran an, sondern vollführt in neun von zehn Fällen dabei die aufschlußreichsten persönlichen Grimassen. Der Mann, welcher das Triëdern entdeckte, hatte kaum einen jungen Kavalier mit Sportkappe aufs Korn genommen, dessen Socken wie der Hals einer Ringeltaube gestreift waren, als er bemerkte, wie dieser sicher neben seinem Mädchen durchs Leben Schlendernde bei jedem seiner langsamen Schritte mit einem angestrengten winzigen Ruck das Bein aus dem Stand schleuderte; nicht das Mädchen, nicht er, kein Arzt, kein Mensch ahnte noch das Grauen, das ihm bevorstand; aber das Triëder, indem es die kleine Gebärde aus der Harmonie der Feschheit herauslöste, zeigte die Zukunft. An einem freundlichen, rundlichen Mann in den besten Jahren, der rasch daherkam, war mit freiem Auge nichts zu bemerken gewesen als eine wohlwollende, sanguinische Art des Gehens; nach einem Schnitt durch die Mitte, der die Beine herauspräparierte, kam hervor, daß der Fuß ganz scheußlich einwärts und gekantet aufgesetzt wurde; nun pendelten auch die Arme dünn aus den Schulterpfannen, die Schultern zogen am Hals, und statt eines Ganzen des Wohlwollens war mit einem Male ein eigensinniges menschliches System da, das nur mit Mühe darauf bedacht war, sich selbst zu behaupten, und gar nichts für andere übrighatte.
So ging es fort. Es zeigte sich, daß ein Fernglas ebenso gut zum Verständnis des einzelnen Menschen beiträgt wie zu einer tiefen, und wenn man so sagen darf, stuporösen Verständnislosigkeit für das Menschsein. Da sagte sich der Mann mit dem Glas: das Triëder, indem es alle gewohnten Zusammenhänge zerstört, ersetzt eigentlich das Genie oder ist wenigstens eine Vorübung dazu. Aber weil er ein bescheidener Mann war, legte er es in diesem Augenblick wieder in den Kasten zurück.
Indes, wenige Menschen sind heute so unsinnig bescheiden wie er. Und weil es als Folge davon ohnedies schon viele Reformpläne gibt, die den Menschen schöner, weiser, intuitiver, seelenvoller, schwingender, dynamischer, rapider und wesentlicher machen sollen, darf wohl auch dieser empfohlen werden.

Robert Musil: Triëdere! (1926/27)

Robert Musil: Triëdere! In: Der Tag v. 21.11.1926, S. 3

Auch diese dreifach publizierte ›Vorstufe‹ Triëdere! hat eine Vorstufe, ein beidseitig beschriebenes Blatt, Halluzinationen überschrieben/unterstrichen, ab Mitte 1919 zu datieren (in der Klagenfurter Ausgabe VII/6/253f.) und im Nachlass zu finden – da sie nicht nur für den NzL Relevanz besessen haben dürfte, sondern auch für den MoE-Apparat im Exil.


Transkription auf der Basis der KA:

Halluzinationen, Unfestigkeit des Weltbilds udgl. 
Bei der Wahrnehmung tritt zu den eigentlichen 
Sinnesinhalten eine Auslese u Erweiterung 
zentral hinzu.
Man beachtet nicht die verschiedenen Schattierungen 
u. Tönungen eines Kleides, man begnügt 
sich damit »denselben« Stoff zu sehn. Ebenso 
sind unwahrgenommene Doppelbilder im 
Gesichtsfeld, Nachbilder, subjektive Gesichtser-
scheinungen. Das Ohr überhört Geräusche des 
eigenen Körpers, die Haut, Gelenke, Muskeln, 
das Vestibularorgan wird durch Bewegungen 
gereizt. Organempfindungen auch.
Erweiterung: Wenn ich auf die Straße blicke, sehe ich, 
ob es warm oder kalt ist, – ich sehe, daß Menschen 
lustig, traurig, gesund, kränklich sind. Ich 
sehe, ob ein Hut ein harter oder ein weicher ist. 
Der Geschmack an einer Frucht sitzt manchmal
schon in den Fingerspitzen. Selbst normaliter 
kann man schwer Sinnesinhalt u. Zutat unter-
scheiden.
Wenn man etwas verkehrt ansieht zb. in der Kamera
|Seitenwechsel|
bemerkt man übersehene Dinge – Ein Hin u Her-
schwanken von Bäumen u Sträuchern oder Köpfen, 
das man sonst übersieht. Man ist erstaunt 
über die fortwährende Unruhe der Dinge. Der 
hüpfende Charakter des menschlichen Ganges 
kommt einem zu Bewußtsein.
Clarisse: Ein Förster sieht bei einem Waldspazier-
gang anderes als ein Botaniker oder ein Mörder. 
Cl. kommt durch Nietzsche u a. auf die Idee, sich 
nichts entgehen lassen, alles vereinigen zu 
wollen. Zu sehen wie ein Künstler erhöht ihr 
asthenisches Gefühl u sie sieht jetzt mit allen 
Sinnen. Allmählig übergeht das in Halluzi-
nationen u. andrerseits in eine Erkenntnis 
von der ungeheuren Unsicherheit des Welt-
bilds, die auch auf Achilles Eindruck macht. 
Bei ihr entsteht durch solche Übergänge die
Manie.

Vgl. Synthese Seele – Ratio 2)