Was gestrichen wurde

[Aus einem Aufsatz zu Stifters »Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansturmes (Als Einleitung)« von 1844 sowie der Neufassung » Vom Sankt-Stephansturme« von 1859]

Die textuellen Eintragungen Stifters stellen auch das Nachzeichnen von Spuren dar. Die räumlichen Aspekte dieses quasi detektivischen Vorgehens [1] stehen im Zusammenhang mit der Erfahrung von Eindrücken und der Erinnerung daran. Damit kommt die Frage der Spur, des dauerhaften bzw. überdauernden Eintrags ins Spiel. 

Das Auslegen der Fährte wiederum hängt mit Kriterien wie bewusster Selektion, Anwendung passend erscheinender Begrifflichkeiten, spezifischen Maßnahmen der Strukturierung und ähnlich gestaltenden Tätigkeiten zusammen. Unweigerlich stellt sich die Frage, was denn nun das Signifikat ist, auf das die Stiftersche Spur hinführt. Signifikanten gibt es jedenfalls in mehr als ausreichender Menge, die Herausforderung besteht darin, die relevanten von den unwichtigen zu scheiden.

Es ist im Falle Stifters von der fortwährenden Umsetzung eines Indizienparadigmas auszugehen, einer auch semiotisch aufzuarbeitenden Textur. [2] »Vom Sankt-Stephansturm« fällt in eine Zeit, in der Charles S. Pierce seine semiotischen Studien aufnimmt, in eine Zeit, in der die Blüte des Detektivromans eingeleitet wird, in der sich die ärztlichen Methoden zu wandeln beginnen und neue Formen der Diagnostik entwickelt werden. Der Umgang mit Spuren, denen der Stiftersche Beobachter mit seinen Hilfsmitteln folgt, erinnert an Kenntnisse und Zeichenlektüre in Edgar Allan Poes 1841 erschienenem (1845 revidiertem) Roman »Die Morde in der Rue Morgue«. Stifter spricht auch in »Vom Sanct Stephansturme« eine Krise der Zeichen relativ unverhüllt an und versucht gleichzeitig, diese durch Erinnerung an das Vergangene zu bewältigen.

Die ›wirklichen‹ Orte und Gegenstände suggerieren ungebrochene Möglichkeiten für die Erinnerung, haben eine (wie auch immer konstruierte) Geschichte – auch in diesem Zusammenhang bestimmt die Mnemosyne-Funktion die unterschiedlichsten Vorhaben auf dem ›weiten Feld‹ der Erinnerung mit. [3]

Stifter kommt es auf jenen Blick an, der allein »Klarheit« erbringen kann. Erinnerung – bzw. deren Suggestion qua autobiographischer Elemente –, die Einfügung von aus den verschiedensten Betrachtungen resultierenden Eindrücken in das Textgefüge, stellt eine wesentliche Vorbedingung dar, um dem Erzählten die Autorität des Erfahrenen zu verschaffen.

Erst auf diesem Weg kann etwa eine (wie en passant in die Darstellung eingeflochtene) Kulturgeschichte nach Stifters Manier gelingen, wenn der Erzähler, von einem markanten Gebäude der Stadt zum nächsten wechselnd, Verknüpfungen zwischen Geld, Macht, Leid und Entwicklung herstellt, Weltgeschichte gegen die Geschichte im Kleinen hält – und keine abgelösten Einzelfiguren gestaltet, sondern aus dem »Gewimmel« der Großstadt Typen destilliert.

[1] Stifter auf den Spuren seiner Wahrnehmung und zugleich auf der Fährte seiner Darstellungsabsicht, die beide letztlich zusammenfinden; die Leser auf den Wegen, die Stifter ihnen auf der Karte seines Textes vorgezeichnet hat.

[2] Darauf weist bereits Begemann1995 hin (vgl. Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart, Weimar: Metzler 1995, S. 25f.).

[3] Dieses hinsichtlich Dekodierung »weite Feld« wird – zwei Beispiele unter vielen möglichen – bei Stifter wie Fontane in sehr ähnlicher Weise thematisiert. Der Freiherr von Riesach liest aus den vielfältigsten Anzeichen (Flug der Vögel, Wolkenformationen, Luftströmungen etc.) – geradezu in der Manier der Seher früherer Zeiten (vgl. Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. Übers. v. Gisela Bonz u. Karl F. Hauber. Berlin: Wagenbach 1995,S. 7–44, pass.) – meteorologische Entwicklungen ab, worauf sein künftiger Schützling Heinrich Drendorf meint: »Das ist ein weites Feld, von dem ihr da redet« – und zu verstehen geben sucht, dass er sehr wohl die Anstrengungen des Spurenlesens zu würdigen wisse. (Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Frankfurt/Main: Insel 1982, S. 115f.) Fontanes Herr von Briest gibt mit dem bekannten Schlusssatz seiner Frau Luise zu verstehen, dass ihre Spurensuche nach den Fehlern in der Vergangenheit zu nichts führe: »›Ach, Luise, laß … das ist ein zuweites Feld.‹« (Theodor Fontane: Effi Briest. In: Th.F.: Nymphenburger Taschenbuch-Ausgabe in 15 Bänden. Bd. 12: Effi Briest. Die Poggenpuhls. Zwei Romane. Neuausgabe. München: Nymphenburger 1978, S. 5―301, hier S. 300f.) Briest versucht die Nachforschungen deshalb von der Tagesordnung abzusetzen, weil die Erinnerung präsent ist, zugleich jedoch eine vollständige Dekodierung des Vergangenen dieses neu konfigurierte. Insofern scheint bemerkenswert, dass die ersten Absätze dieses letzten Abschnittes eine mnemonische Klammer mit der Beschreibung in der Eingangspassage bieten, bei gleichzeitig signifikanten wie erinnerungstechnisch aufgeladenen Änderungen! (Fontanes Vorgangsweise läuft auf eine ›Rahmung‹ hinaus, auf eine Rückbindung des Ausgangs an die stabilisierten Verhältnisse, deren Brüchigkeit es zu erweisen galt.)