Weltgesetz

Bei einer wirklichen Freisprechung sollen die Processakten vollständig abgelegt werden, sie verschwinden gänzlich aus dem Verfahren, nicht nur die An-klage, auch der Process und sogar der Freispruch sind vernichtet, alles ist vernichtet. Anders beim scheinbaren Freispruch. Mit den Akten ist keine weitere Veränderung vor sich gegangen, als dass er um die Bestätigung der Unschuld und um den Freispruch und um die Begründung des Freispruchs bereichert worden ist. In übrigen aber bleibt er im Verfahren, er wird wie es der ununterbrochene Verkehr der Gerichtskanzleien erfordert, zu den höhern Gericht weitergeleitet, kommt zu den niedrigern zurück und pendelt so mit grössern und kleinern Schwingungen mit grössern und kleinern Stockungen auf und ab. Diese Wege sind ganz unberechenbar. Von aussen gesehn kann es manchmal den Anschein bekommen, dass alles längst vergessen, der Akt verloren und der Freispruch ein vollkommener ist. Ein Eingeweihter wird das nicht glauben. Es geht kein Akt verloren, es gibt bei Gericht kein Vergessen. Eines Tages – niemand erwartet es – nimmt irgendein Richter den Akt aufmerksamer in die Hand, erkennt dass in diesem Fall die Anklage noch lebendig ist und ordnet die sofortige Verhaftung an.

Franz Kafka, Der Process (1914/15), 8. Kapitel [Abb. gem. FKA, hg. v. Reuß/Staengle]

Und nun komme ich auf eine besondere Eigenschaft unseres behördlichen Apparates zu sprechen. Entsprechend seiner Präcision ist er auch äußerst empfindlich. Wenn eine Angelegenheit sehr lange erwogen worden ist, kann es, auch ohne daß die Erwägungen schon beendet wären, geschehen, daß plötzlich blitzartig an einer unvorhersehbaren und auch später nicht mehr auffindbaren Stelle eine Erledigung hervorkommt, welche die Angelegenheit, wenn auch meistens sehr richtig, so doch immerhin willkürlich abschließt. Es ist, als hätte der behördliche Apparat die Spannung, die jahrelange Aufreizung durch die gleiche, vielleicht an sich geringfügige Angelegenheit nicht mehr ertragen und aus sich selbst heraus, ohne Mithilfe der Beamten, die Entscheidung getroffen. Natürlich ist kein Wunder geschehen, und gewiß hat irgendein Beamter die Erledigung geschrieben oder eine ungeschriebene Entscheidung getroffen, jedenfalls aber kann, wenigstens von uns aus, von hier aus, ja selbst vom Amt aus nicht festgestellt werden, welcher Beamte in diesem Fall entschieden hat, und aus welchen Gründen. Erst die Kontrollämter stellen das viel später fest; wir aber erfahren es nicht mehr, es würde übrigens dann auch kaum jemanden noch interessieren

Franz Kafka, Das Schloss (1922), 5. Kapitel [Abb. gem. FKA, hg. v. Reuß/Staengle]

Ein unabgeschlossen begrabener Akt muß von Zeit zu Zeit aus dem Grab gehoben werden, um auf ihm zu bemerken, daß er noch immer nicht abgeschlossen werden könne und einen Tag darauf zu setzen, wo ihn der Archivbeamte wieder dem Konzeptsbeamten vorzulegen habe. Das ist ein Weltgesetz der Bürokratie, und wenn es sich dabei um einen Akt handelt, der unter dem Vorwand, daß seine Grundlagen nicht vollständig seien, nie abgeschlossen werden soll, so muß man sehr gut auf ihn achtgeben, denn es kann vorkommen, daß die Beamten vorrücken, versetzt werden und sterben, und ein Neuling, der den Akt erhält, in seinem Übereifer veranlaßt, daß zu einer der letzten Erhebungen, die vor Jahren stattgefunden haben, eine kleine ergänzende Erhebung gemacht werde, die den Akt einige Wochen am Leben erhält, bis sie als Beilage endet und mit ihm verschwindet.

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften [aus dem Nachlass, »Kapitelgruppe (1928)« – Kapitel 19: Hans Sepps Selbstmord)]
Blatt II/1/114
Papier:  cremefarben
Art: Kanzleidoppelblatt
Format: 211×341
[i.e. »Goldener Schnitt«; d.h. Musil schrieb seinen MoE wesentlich auf Kanzleipapier entsprechend der Formatordnung der Monarchie; noch ins Schweizer Exil nahm er ausreichend leere Seiten und Bögen mit – cf. zur Formatfrage auch: Kanzleiordnung]

☞ cf. Notwendigerweise in Verstoß geraten