Über das Protokoll nachzudenken, führt schnell in die Weite der Indizierungs- und Ablagesysteme, technisch gewordenen Verwendungen des Begriffs, der einschlägigen Schreibschulungen, die Signatur der Geschäftsmäßigkeit des Offiziellen, die Frage der Wahrheitsfindung im Triangulum Bericht-Inhaltsangabe-Nacherzählung, der Schreibanlässe und Verordnungen, Weisungsgebundenheiten, aber auch der Eingriffe, Umschriften, Einsprüche und Neufassungen, der Streichungen und vieles mehr. Es geht bei dieser Form jedenfalls um je spezifische Vorschriften – schriftlich fixiert oder durch bloße Gewohnheit als Kulturtechnik auf die Anwender gekommen – in dadurch offiziell, d.h. auch amtlich, markierten Zusammenhängen. Der offizielle Schreibanlass weist dem Protokoll seine Bedeutung zu – und das Protokoll ist mit seinem Zustandekommen und der Abnahme Funktionalitätsausweis des Offiziums.
Bei zu identifizierenden und klassifizierenden Anforderungen an eine Praxeologie des Büros ist es zumeist hilfreich, die in Verwendung stehenden Schreibflächen mit ins Kalkül zu ziehen – Büro-, Kanzlei- und Geschäftsordnungen sehen zumeist einschlägige Formulare vor. Das mag auch für Konzeptionen des Protokolls und Berichts (die Unschärfe ist Absicht, denn darum wird es in der Folge gehen) anzusetzen sein, die auf blanke Seiten gesetzt werden, diese weisen ebenso eine Rückbindung an Konventionen auf wie die Formeln der Protokollierung, die Redewendungen eines Berichts bereits implizite Adressierungen darstellen. Die Berichtsform – und erst recht die Protokollform – kommt kaum auf unterschiedlich zugerichteten Zetteln bar jeder Schreibkonvention vor, sie hat vielmehr auch darin einen Zug in ein offizielles Gefüge.
Unterlegt man – wie es im Folgenden passiert – dem Protokoll Berichte und sorgt für ein internes Verweissystem bis in die scheinbare Ununterscheidbarkeit hinein, um einen Sachverhalt im Effekt letztgültig darzustellen, erhält man etwas das, was es vorzustellen gilt: Zeugnisse sehr kundig und genau angewandter Kulturtechniken der Verwaltung.
Wenn ich nun zum Punkt komme, zu den Schnurbärten und Polizeiberichten, zum angekündigten Protokoll des Obststallmeisteramts im April 1905, dann haben wir es sehr wesentlich mit dem Evidenzbüro, mit der geheimpolizeilichen Observation und der Wahrung von Staatsinteressen zu tun. Die adressierte Öffentlichkeit ist jene innerhalb des Apparats, aber nichts davon ist für die Öffentlichkeit bestimmt. Innen und Außen, zwei sehr intrikate Bedingungen – und auch Beobachterpositionen. Es wird hier mehrfach beobachtet, es wird protokolliert, rapportiert, berichtet. Dabei werden zahlreiche Vorschriften im Sinne der internen Anschlussfähigkeit und Zuordenbarkeit beachtet und gibt es Differenzen zwischen der Beobachtung von außen, der Beobachtung von innen – und der ostentativen Wahrung der Gesetzmäßigkeit bei Hof zu lesen. Wir haben ein paar Zeugnisse einer bürokratischen Leistung im Abendrot dieser Kulturtechnik vor uns, kurz vor seiner Elektrifizierung zur recording-machine.
Am 12. April 1905 langte zur Mittagszeit in den Wiener k.k. Hofstallungen eine Einladung an den »Stallübergeher Holleczek für sämmtliche Hofstallbedienstete« ein, sich am Abend des 14. im Gasthaus „Adlerhof“ in Wien VII. zu versammeln, um »die Verbesserung der Lage der Hofbediensteten« – gemeinsam mit Politikern – zu diskutieren. Die Kanzlei-Direktion wird umgehend informiert und die Einladung »gelegentlich der Befehlsausgabe am 13. Abends den Kutschern und Pferdewärtern zur Kenntnis« gebracht, denn »[n]iemand [wird] in seinem freien Willen beschränkt und jeder [könne] an dieser Versammlung teilnehmen.«
Auch die k.k. Polizei Direktion wird verständigt und es kommt zu drei Berichten respektive Protokollen: eine Darstellung der Vorgänge am 12. und 13. April, der Bericht eines Polizei-Agenten, der am 14. vor dem Lokal postiert war – und der eines Spitzels aus der Versammlung. In Form und Duktus, in ihrer Herstellung von ›Wirklichkeit‹ (eigene Formen der Narration sowie nur aufgrund einschlägig angewandter Regelwerke – Selektionsmechanismen – leistbare Verdichtungen), unterscheiden sich die drei Texte. Was sie abgesehen vom Anlassfall und der Adressierung (das Oberststallmeisteramt Seiner k.u.k. Apostolischen Majestät bzw., noch höher, das Obersthofmeisteramt) gemeinsam haben, ist, dass sie für das interne Berichtswesen und die entsprechende Ablage bestimmt sind.
Das Fundstück des zusammenfassenden Aktes (genauer: dessen, was davon in den Archiven der Polizeidirektion und des Haus-, Hof- und Staatsarchives erhalten blieb) hilft kenntlich zu machen, auf welche Weise hier Informationen in mehreren Schritten verarbeitet und zur Kenntnis gebracht wurden, welche Vor-Bedingungen Polizei- und Geheimdienstberichte zu erfüllen hatten und welches Wissen vorausgesetzt wurde (d.h. auch: welche Regularien und Handbücher anzuwenden waren).
Der Irrtum des Sektionschefs Tuzzi im 52. Kapitel von Musils MoE, Informationen zu Arnheim im (Press-)Departement V des Außenministeriums erlangen zu wollen, ist nur scheinbar und folgt dem Plan, dass Arnheim dann auch do. unter Beobachtung steht. Die benötigten Auskünfte holt sich Tuzzi [i.e. SC Rudolf Pogatscher] ohnehin und entsprechend der Geschäftseinteilung im Referat V (wo die Rekursionsmaschinen, Aktenkonvolute wie jene zur Versammlung am 14. April 1905, tatsächlich indexiert waren und geschmiert wurden). Die do. in Verwendung stehenden geheimdienstlichen Apparate, Texturen und Berichtsformen sowie die Rasurvorschriften der Bediensteten in den Hofstallungen können ausgehend vom Protokoll Nr. 455 der Kanzlei-Direktion und dem Protokoll Nr. 1224 der Polizei Direktion beleuchtet werde.
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