Aktenmäßigkeit

Der Begriff der ›Aktenmäßigkeit‹ verbindet sich bei Max Weber wesentlich mit ›Disziplin‹ [Verantwortung, Sachlichkeit, Berechenbarkeit; Angestellte/Beamte, Militär und Religion als das magische Dreieck {moderner} Verwaltung – ein Aktenalgorithmus unterstützt dies gewisslich] und ›Bureau‹. Eine Kulturtechnik bzw. prozessorientierte medientechnische Routinehandlung, eine kategoriale Grundeinstellung und eine spezifische Ortsgebundenheit. Weber verwendet den Begriff als Substantiv – für jenen über die »rein bureaukratische, also: die bureaukratisch-monokratische aktenmäßige Verwaltung« s. da – drei Mal (das vierte Mal in der Werk- bzw. Studienausgabe schreibt es bereits Marianne Weber ein, die bei der Nachlassaufarbeitung für Soziologie der Herrschaft auf einen Text aus den Kriegsjahren zurückgreift; dieser wird nachstehend als letzter angeführt).

Im Übrigen sei darauf verwiesen, s. da, dass Robert Musil in seiner Schrift Sittenämter (1923) diesen Begriff ebenso verwendet wie in dem daran sich anschließenden Kapitel Hans Sepps Selbstmord (1928) für den Mann ohne Eigenschaften, das aber im Nachlass verblieb und nicht zum Druck gelangte. (Zu weiteren Zitaten: s.u.)


Es gilt das Prinzip der Aktenmäßigkeit der Verwaltung auch da, wo mündliche Erörterung tatsächlich Regel oder geradezu Vorschrift ist: mindestens die Vorerörterungen und Anträge und die abschließenden Entscheidungen, Verfügungen und Anordnungen aller Art sind schriftlich fixiert. Akten und kontinuierlicher Betrieb durch Beamte zusammen ergeben: das Bureau, als den Kernpunkt jedes modernen Verbandshandelns.

Max Weber: Studienausgabe Bd. I/23: Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Hg. v. Knut Borchardt, Edith Hanke u. Wolfgang Schluchter. Tübingen: Mohr 2014, S. 157.

Die »Akten« einerseits und andererseits die Beamtendisziplin, d.h. Eingestelltheit der Beamten auf präzisen Gehorsam innerhalb ihrer gewohnten Tätigkeit, werden damit im öffentlichen wie privaten Betrieb zunehmend die Grundlage aller Ordnung. Vor allem aber – so praktisch wichtig die Aktenmäßigkeit der Verwaltung ist – die »Disziplin«. Der naive Gedanke des Bakunismus: durch Vernichtung der Akten zugleich die Basis der »erworbenen Rechte« und die »Herrschaft« vernichten zu können, vergißt, daß unabhängig von den Akten die Eingestelltheit der Menschen auf die Innehaltung der gewohnten Normen und Reglements fortbesteht.

Max Weber: Studienausgabe Bd. I/22.4: Herrschaft. Hg. v. Edith Hanke. Tübingen: Mohr 2009, S. 35

In einem modernen Staat liegt die wirkliche Herrschaft, welche sich ja weder in parlamentarischen Reden noch in Enunziationen von Monarchen, sondern in der Handhabung der Verwaltung im Alltagsleben auswirkt, notwendig und unvermeidlich in den Händen des Beamtentums. Des militärischen wie des zivilen. Denn vom »Bureau« aus leitet ja der moderne höhere Offizier sogar die Schlachten. Wie der sogenannte Fortschritt zum Kapitalismus seit dem Mittelalter der eindeutige Maßstab der Modernisierung der Wirtschaft, so ist der Fortschritt zum bureaukratischen, auf Anstellung, Gehalt, Pension, Avancement, fachmäßiger Schulung und Arbeitsteilung, festen Kompetenzen, Aktenmäßigkeit, hierarchischer Unter- und Überordnung ruhenden Beamtentum der ebenso eindeutige Maßstab der Modernisierung des Staates. Des monarchischen ebenso wie des demokratischen. Dann jedenfalls, wenn der Staat nicht ein kleiner Kanton mit reihumgehender Verwaltung, sondern ein großer Massenstaat ist. Die Demokratie schaltet ja ganz ebenso wie der absolute Staat die Verwaltung durch feudale oder patrimoniale oder patrizische oder andere ehrenamtliche oder erblich fungierende Honoratioren zugunsten angestellter Beamten aus. Angestellte Beamte entscheiden über alle unsere Alltagsbedürfnisse und Alltagsbeschwerden. Von dem bürgerlichen Verwaltungsbeamten unterscheidet sich der militärische Herrschaftsträger, der Offizier, in dem hier entscheidenden Punkte nicht. Auch das moderne Massenheer ist ein bureaukratisches Heer, der Offizier eine Sonderkategorie des Beamten im Gegensatz zum Ritter, Kondottiere, Häuptling oder homerischen Helden. Auf der Dienstdisziplin beruht die Schlagkraft des Heeres. Nur wenig modifiziert vollzieht sich der Vormarsch des Bureaukratismus in der Gemeindeverwaltung. Je größer die Gemeinde ist oder je mehr sie durch technisch und ökonomisch bedingte Zweckverbandsbildungen aller Art unvermeidlich ihrer organischen lokalen Bodenständigkeit entkleidet wird, desto mehr. Und in der Kirche war nicht etwa das vielberedete Unfehlbarkeitsdogma, sondern der Universalepiskopat der prinzipiell wichtige Abschluß von 1870. Er schuf die »Kaplanokratie« und machte im Gegensatz zum Mittelalter den Bischof und Pfarrer zu einem einfachen Beamten der kurialen Zentralgewalt. Nicht anders auch in den großen Privatbetrieben der Gegenwart, und zwar je größer sie sind, desto mehr. Die Privatangestellten wachsen statistisch rascher als die Arbeiter, und es ist eine höchst lächerliche Vorstellung unserer Literaten, daß sich die geistige Arbeit im Kontor auch nur im mindesten von derjenigen im staatlichen Bureau unterscheide.
Beide sind vielmehr im Grundwesen ganz gleichartig. Ein »Betrieb« ist der moderne Staat, gesellschaftswissenschaftlich angesehen, ebenso wie eine Fabrik: das ist gerade das ihm historisch Spezifische.

Max Weber: Max Weber-Studienausgabe Bd. I/15: Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914–1918. Hg. v. Wolfgang J. Mommsen. Tübingen: Mohr 1988, S. 212f.

Der Chef des Pressedepartements bewunderte Sektionschef Tuzzi wegen der Fülle persönlicher Einzelheiten, die dieser von Arnheim wußte, gab zu, für seine Person den Namen auch schon oft gehört zu haben, verwahrte sich aber gleich gegen die Vermutung, daß der Mann aktenmäßig in seinem Departement vorkomme, da er seines Erinnerns niemals den Gegenstand einer amtlichen Relation gebildet habe und die Bearbeitung des Zeitungsmaterials sich begreiflicherweise nicht auf die Lebensäußerungen von Privatpersonen erstreckte.

Musil, MoE I.52

»Die Militärs sollten an nichts als den Krieg denken und sich mit allem anderen an das zuständige Ressort wenden. Aber ehe sie das tun, bringen die Herren lieber mit ihrem Dilettantismus die ganze Welt in Gefahr. Ich wiederhole Ihnen: Nichts ist in der Diplomatie so gefährlich wie das unsachliche Reden vom Frieden! Jedesmal, wenn das Bedürfnis danach eine gewisse Höhe erreicht hat und nicht mehr zu halten war, ist noch ein Krieg daraus entstanden! Das kann ich Ihnen aktenmäßig beweisen!«

Musil, MoE II.36

Wer glaubt – und es scheinen nicht wenig und gerade die eifrigsten Seelen zu sein -, daß da etwas statt durch kaltblütige Organisation von der Wärme des Herzens her zu richten wäre, der schlage an einem beliebigen Morgen seine Zeitung auf und lese, was es alles darin an einem einzigen Tag an Leid und Unglück gibt, das zu verhindern möglich wäre: und wenn er das alles nicht zulassen wollte, ja wenn er bloß die Fähigkeit besäße, es sich leibhaft deutlich zu machen, nein, nur so weit deutlich zu machen, wie es das Wort »mitfühlend« von jedem Menschen verlangt – er würde ein Narr werden! – Das aktive Gegenstück zu diesem Gewährenlassen ist die summarische, allgemeine, aktenmäßige Behandlung menschlicher Fälle; der Akt ist das Symbol der indirekten Beziehung zwischen Staat und Mensch. Er ist das geruch-, geschmack- und gewichtslos gewordene Leben, der Knopf, den man drückt, und wenn deshalb ein Mensch stirbt, so hat man es nicht getan, weil das ganze Bewußtsein von der schwierigen Handhabung des Knopfes erfüllt war; der Akt, das ist das Gerichtsurteil, der Gasangriff, das gute Gewissen unserer Peiniger, er spaltet den Menschen aufs unseligste in die Privatperson und den Funktionär, aber seine Indirektheit der Beziehung ist unter heutigen Verhältnissen eine anscheinend unentbehrliche Hygiene.

Musil, Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit

Öl, Sektionsrat: Ziemlich groß. Abfallende Schultern. Breites Becken. Weißes Hanswurstgesicht mit etwas schiefer Kipfelerdapfelnase. Gut gekleidet mit einem etwas zu korrekt gebundenen Mascherl. Mund wie ein etwas verschobener Pfeilbogen. Leise Unverschämtheit im Auftreten des sich gut aufgehoben wissenden Menschen. Weiße, weiche bürokratische Accoucheurhände, die alle aktenmäßigen Schwierigkeiten beseitigen. Sicher ein Pendant zu gutem Generalstäbler.

Musil, ›Tagebuch‹, Heft 9 (1919/1920), S. 53 (Zeitfiguren 1918–1920)