Rechtsprechung

Bürokratie, Bürokratismus und weiter im Text:

Vor allem aber bietet die Bürokratisierung das Optimum an Möglichkeit für die Durchführung des Prinzips der Arbeitszerlegung in der Verwaltung nach rein sachlichen Gesichtspunkten, unter Verteilung der einzelnen Arbeiten auf spezialistisch abgerichtete und in fortwährender Übung immer weiter sich einschulende Funktionäre. »Sachliche« Erledigung bedeutet in diesem Fall in erster Linie Erledigung »ohne Ansehen der Person« nach berechenbaren Regeln. »Ohne Ansehen der Person« aber ist auch die Parole des »Marktes« und aller nackt ökonomischen Interessenverfolgung überhaupt. Die konsequente Durchführung der bürokratischen Herrschaft bedeutet die Nivellierung der ständischen »Ehre«, also, wenn das Prinzip der Marktfreiheit nicht gleichzeitig eingeschränkt wird, die Universalherrschaft der »Klassenlage«. Wenn diese Konsequenz bürokratischer Herrschaft nicht überall parallel mit dem Maße der Bürokratisierung eingetreten ist, hat seinen Grund in der Verschiedenheit der möglichen Prinzipien der Bedarfsdeckung der politischen Gemeinschaften. Aber auch für die moderne Bürokratie hat das zweite Element: die »berechenbaren Regeln« die eigentlich beherrschende Bedeutung. Die Eigenart der modernen Kultur, speziell ihres technisch-ökonomischen Unterbaues aber, verlangt gerade diese »Berechenbarkeit« des Erfolges. Die Bürokratie in ihrer Vollentwicklung steht in einem spezifischen Sinn auch unter dem Prinzip des »sine ira ac studio«. Ihre spezifische, dem Kapitalismus willkommene, Eigenart entwickelt sie um so vollkommener, je mehr sie sich »entmenschlicht«, je vollkommener, heißt das hier, ihr die spezifische Eigenschaft, welche ihr als Tugend nachgerühmt wird, die Ausschaltung von Liebe, Haß und allen rein persönlichen, überhaupt aller irrationalen, dem Kalkul sich entziehenden, Empfindungselementen aus der Erledigung der Amtsgeschäfte gelingt. Statt des durch persönliche Anteilnahme, Gunst, Gnade, Dankbarkeit, bewegten Herren der älteren Ordnungen verlangt eben die moderne Kultur für den äußeren Apparat, der sie stützt, je komplizierter und spezialisierter sie wird, desto mehr den menschlich unbeteiligten, daher streng »sachlichen« Fachmann. All dies aber bietet die bürokratische Struktur in günstigster Verbindung. Namentlich schafft regelmäßig erst sie der Rechtsprechung den Boden für die Durchführung eines begrifflich systematisierten und rationalen Rechts, auf der Grundlage von »Gesetzen«, wie es in hoher technischer Vollendung zuerst die spätere römische Kaiserzeit geschaffen hat. Im Mittelalter ging die Rezeption dieses Rechts Hand in Hand mit der Bürokratisierung der Rechtspflege: dem Eindringen des rational geschulten Fachspezialistentums an Stelle der alten, an die Tradition oder irrationale Voraussetzungen gebundenen Rechtsfindung.

Max Weber: [Bürokratismus.] In: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft (1922), Bd. 4: Herrschaft. Hg. v. Edith Hanke. Tübingen: Mohr 2009 (Studienausgabe der Max Weber-Gesamtausgabe I/22-4), S. 12–45, hier S. 25f.

Es ist nun vollkommen wahr, daß »Sachlichkeit« und »Fachmäßigkeit« nicht notwendig identisch sind mit Herrschaft der generellen abstrakten Norm. Nicht einmal auf dem Boden der modernen Rechtsfindung. Der Gedanke des lückenlosen Rechts ist bekanntlich prinzipiell heftig angefochten und die Auffassung des modernen Richters als eines Automaten, in welchen oben die Akten nebst den Kosten hineingeworfen werden, damit er unten das Urteil nebst den mechanisch aus Paragraphen abgelesenen Gründen ausspeie, wird entrüstet verworfen, – vielleicht gerade deshalb, weil eine gewisse Annäherung an diesen Typus an sich in der Konsequenz der Rechtsbürokratisierung liegen würde. Auch auf dem Gebiet der Rechtsfindung gibt es Gebiete, auf denen der bürokratische Richter direkt zu »individualisierender« Rechtsfindung vom Gesetzgeber angewiesen ist. – Und vollends pflegt man gerade für das Gebiet der eigentlichen Verwaltungstätigkeit – d.h. für alle staatliche Tätigkeit, die nicht in das Gebiet der Rechtsschöpfung und Rechtsfindung fällt – die Freiheit und Herrschaft des Individuellen in Anspruch zu nehmen, der gegenüber die generellen Normen überwiegend als Schranken der positiven, niemals zu reglementierenden »schöpferischen« Betätigung des Beamten eine negative Rolle spielten. Die Tragweite dieser These möge hier dahingestellt sein. Das Entscheidende bliebe doch: daß diese »frei« schaffende Verwaltung (und eventuell: Rechtssprechung) nicht, wie wir das bei den vorbürokratischen Formen finden werden, ein Reich der freien Willkür und Gnade, der persönlich motivierten Gunst und Bewertung bilden würde. Sondern daß stets als Norm des Verhaltens die Herrschaft und rationale Abwägung »sachlicher« Zwecke und die Hingabe an sie besteht. Auf dem Gebiete der staatlichen Verwaltung speziell gilt gerade der das »schöpferische« Belieben des Beamten am stärksten verklärenden Ansicht als höchster und letzter Leitstern seiner Gebarung der spezifisch moderne, streng »sachliche« Gedanke der »Staatsraison«. In die Kanonisierung dieser abstrakten und »sachlichen« Idee untrennbar eingeschmolzen sind dabei natürlich vor allem die sicheren Instinkte der Bürokratie für die Bedingungen der Erhaltung ihrer Macht im eigenen Staat (und durch ihn, anderen Staaten gegenüber). Letztlich diese eigenen Machtinteressen geben jenem an sich keineswegs eindeutigen Ideal meist erst einen konkret verwertbaren Inhalt und in zweifelhaften Fällen den Ausschlag. Dies ist hier nicht weiter auszuführen. Entscheidend ist für uns nur: daß prinzipiell hinter jeder Tat echt bürokratischer Verwaltung ein System rational diskutabler »Gründe«, d.h. entweder: Subsumtion unter Normen, oder: Abwägung von Zwecken und Mitteln steht.
Auch hier ist die Stellungnahme jeder »demokratischen«, d.h. in diesem Fall: auf Minimisierung der »Herrschaft« ausgehenden Strömung notwendig zwiespältig. Die »Rechtsgleichheit« und das Verlangen nach Rechtsgarantien gegen Willkür fordert die formale rationale »Sachlichkeit« der Verwaltung im Gegensatz zu dem persönlichen freien Belieben aus der Gnade der alten Patrimonialherrschaft. Das »Ethos« aber, wenn es in einer Einzelfrage die Massen beherrscht – und wir wollen von anderen Instinkten ganz absehen –, stößt mit seinen am konkreten Fall und der konkreten Person orientierten Postulaten nach materieller »Gerechtigkeit« mit dem Formalismus und der regelgebundenen kühlen »Sachlichkeit« der bürokratischen Verwaltung unvermeidlich zusammen und muß dann aus diesem Grund emotional verwerfen, was rational gefordert worden war. Insbesondere ist den besitzlosen Massen mit einer formalen »Rechtsgleichheit« und einer »kalkulierbaren« Rechtsfindung und Verwaltung, wie sie die »bürgerlichen« Interessen fordern, nicht gedient. Für sie haben naturgemäß Recht und Verwaltung im Dienst des Ausgleichs der ökonomischen und sozialen Lebenschancen gegenüber den Besitzenden zu stehen, und diese Funktion können sie allerdings nur dann versehen, wenn sie weitgehend einen unformalen, weil inhaltlich »ethischen«, (»Kadi«-) Charakter annehmen. Nicht nur jede Art von »Volksjustiz« – die nach rationalen »Gründen« und »Normen« nicht zu fragen pflegt –, sondern auch jede Art von intensiver Beeinflussung der Verwaltung durch die sog. »öffentliche Meinung«, d.h. unter den Bedingungen der Massendemokratie: durch ein aus irrationalen »Gefühlen« geborenes, normalerweise von Parteiführern und Presse inszeniertes oder gelenktes Gemeinschaftshandeln, kreuzt den rationalen Ablauf der Justiz und Verwaltung ebenso stark und unter Umständen weit stärker als es die »Kabinettsjustiz« eines »absoluten« Herrschers tun konnte.

Ibid., S. 28f.