Chat-Protokolle

(Aus einer Vorrede von 2021:)

In Österreich wurden von Medien und Politik so genannte »Chat-Protokolle« quasi aktenkundig. Screenshots elektronischer Kommunikationsketten zirkulierten als Wahrheitsbeweise, politische Karrieren enden und die Regierungsspitze folgt einschließlich ihrer Berater dem online-Verkaufsportal »Kaufhaus Österreich« in den Orkus. Dass es ausgerechnet technisch umgesetzte administrative Kulturtechniken wie Protokollieren, Lösung von Entscheidungsproblemen, Arbeitsnachweise, Verordnungen, Speichern, Anlegen von Sicherheitskopien, Zugriffe auf Budgets etc. waren, die nun in Form von Messenger-Diensten, Smartphone-Speichern, Time Capsules und insgesamt Back-up-Services eine wesentliche Rolle spielen, dass diese ausgerechnet von einer Personengruppe angewandt wurden, die Verwaltung und Bürokratie als Feindbild deklariert hatte, entbehrt nicht der Komik; sie hat die Mittel ihres angeblich ohnehin so abgehalfterten Gegners nur unzureichend reflektiert und kommt akkurat darüber zu Fall. Zu danken bleibt dieser Personengruppe über kurz oder lang jedoch dafür, dass sie etwas deutlich machte: die alten Verfahrensweisen und Verwaltungstechniken hatten nicht einfach immer schon ›irgendwas‹ mit Medien zu tun, sondern ihre Eigendynamiken sind sehr unmittelbar auch unter den Oberflächen der Smartphones und Tablets wirkmächtig.

Der Einfall, von globalen Privatunternehmen geführte Social Media-Dienste für eine Verschwörung zu verwenden, sich dabei aber ausreichend unter einander zu wähnen und vermittels einschlägiger Dienste für die eigene Gruppe sowohl Arkanwissen als auch eine spezifische Zeitordnung der Unmittelbarkeit etablieren zu können, erwies sich als minder schlau. Die Protokolle und die mit diesen verbundenen Algorithmen waren mächtiger als gedacht. Dieser – auch – Schreibform entkommt man nicht, Vernehmungs- und Gerichtsverhandlungsprotokolle folgten, weitere werden folgen. 

(Das Protokoll siegelt den Pakt mit seiner Signatur von ›Wahrheit‹ – und derart berichtet es vom Geheimnis des – nunmehr ehemaligen – Kanzlers, das genau durch diese Verlaufsform als solches gehandelt wird; auch wenn das alles seit Jahren bekannt war: aber weshalb sollten die österreichischen Zeitungsredaktionen Protokolle über ihre eingegangenen Geschäftsbeziehungen offenlegen, als wären sie Abteilungen der österreichischen Zentralstellen oder gar Geheimdienste mit Berichtspflichten? Diese Geheimdienstberichte stellen Formen protokollierter Wahrnehmungen dar. Sie zeugen vom Problem der Übersetzung, der Entscheidung zwischen relevanten und irrelevanten Inhalten.)

Der Befund ist insoweit gewiss simpel; interessanter ist vielleicht folgende Frage: weshalb heißen die »Chat-Protokolle« so? (Es lässt sich ausschließen, dass mediale und politische Kräfte in ausreichender Zahl in der Lage wären, Aufschreibe-, Speicher-, Kommunikationsmedien, Protokoll-Mitschriften und technische Protokolle differenziert zu dem fraglichen Begriff zusammenzubringen.) Als These möchte ich vorschlagen, dem Begriff »Protokoll«, gerade in einem Land, das zu Vereinspolizei, Sparverein und Generalversammlung ein durchwegs libidinöses Verhältnis pflegt (die Dialektik der Aufklärung ist das eine, in Österreich zumindest wäre die Dialektik der Bürokratie einige weitere Beobachtungen wert), eine ubiquitäre Zuschreibung von ›Wahrheit‹ zuzusprechen – gleichgültig, ob diese Zuschreibung an sich überhaupt erfolgen könnte. (Robert Musil hat in seinem Mann ohne Eigenschaften im Zusammenhang mit Äußerungen Moosbruggers oder Stumms – »Das mußt du aber deinem Sekretär sagen, wegen dem Protokoll, damit gleich nichts davon hineinkommt.« – viel von dem hereingenommen, was sich auch in diesem Oktober 2021 hinsichtlich eines weit verbreiteten Wissens um Protokolle zitieren ließe.)

Das ist aber keineswegs ausgemacht: viel zu viel an medialen Filtereffekten, an Deutungsmacht und Herrschaftsanspruch, formalen Grauzonen und Entscheidungsabnahme ist mit der Anwendung respektive Abfassung eines Protokolls verbunden, als dass solch einfache Dichotomien sich setzen ließen. Dessen ungeachtet steht – Unterwerfung gemäß Vorgabe ist ein traditioneller Ausbildungsberuf aus Österreich – die Form des Protokolls unter dem Generalverdacht, eine Wahrheit mitzuteilen.

»Chat-Protokolle«: mittels dieses Kompositums derart bekanntgewordene elektronische Kommunikationsstränge zu fassen, ist in mehrfacher Hinsicht nicht richtig. Zum einen sind das weder diplomatische Protokolle im Sinne einer Vorschrift (wobei souverän hierbei nur ist, wer diese sanktionsfrei missachten kann), noch sind es von Beteiligten in einem Strang verfasste Mitschriften, noch sind es im Sinne einer von den Beteiligten akzeptierten Form der Wiedergabe eines Prozesses inkl. stattgehabter Entscheidungen abgenommene Schriften mit Authentizitätsanspruch, noch sind es Nachschriften im Sinne von Gedächtnisprotokollen. Es handelt sich einfach um auf Servern und Endgeräten gespeicherte Nachrichten, die auf unterschiedlichen Kanälen adressiert und rezipiert – und nach Entdeckung umfänglicher, zunächst in Ermittlungsakten, publiziert – wurden. Das Element »Protokoll« (einmal abgesehen davon, dass auch »Chat« für diese Kommunikationsverhältnisse nicht restlos zutreffen muss und Protokolle die Ermöglichung aktueller Datenkommunikation darstellen) verweist auf etwas anderes: auf das Bedürfnis der mit dieser Wortmünze Handelnden, den wiedergegebenen Nachrichten ein durch die Zielgruppen dechiffrierbares Echtheitszertifikat auszustellen. Protokolliert hat hier niemand (allenfalls haben es die Endgeräte und Dateien in Clouds auslesenden Ermittler:innen), zwei oder mehr Kommunikationspartner:innen schrieben Content und die je in Verwendung genommenen Endgeräte speicherten diesen auf Basis einschlägiger Algorithmen (sieht man von den Servern der Telekommunikationsdienstleister etc. ab).