Facta sunt servanda

Während Literatur im 15., 16. Jahrhundert und ausgehend von Spanien durch die administrative Schriftsetzung von der alleinigen Realitätsannahme (und deren Unannehmlichkeiten respektive Zwängen) ansatzweise entlastet und gewissermaßen zugunsten der neuen Repräsentationsordnung vom Fakt zu Fiktion wurde (d.h. es wurde entsprechend ausverhandelt, vgl. Folger 2009, Ruan 2019, Schäffner 2002, Siegert 2003 u. 2006), Verwaltungsschriften und Aktenbestände als allein gültige Bestandsaufnahmen in das ihnen damit eigentümliche Recht gesetzt wurden (mit Theweleit 2020 lässt sich sagen: ihre Verarbeitungslogik geht in die Körpergedächtnisse über und lässt sie derart adjustiert die Welt erobern), beobachtete man über das 19. Jahrhundert hin eine teils gegenläufige Bewegung, als erneut Welthaltigkeit und Realitätsanreicherung (die Umsetzung der Globalisierung mit Mitteln des Realismus) in signifikanter Größe gesichert wurden – teils bereits durch Themensetzung den Glauben an die ›Wirklichkeit‹ literarischer Möglichkeiten erneuernd (Neumann/Stüssel 2011). Am Ende dieses 19. Jahrhunderts werden jedenfalls zwei neue Formen von Aufschreibe-Maschinen in den Regel-Betrieb gestellt worden sein (und stellbar bleibt die Frage, wie zwingend Themen und Fertigungsprozesse [Jany 2019] einander bedingten), die einerseits die Verwaltung und andererseits die Literatur unumkehrbar verändert haben werden: die Schreibmaschine (Kittler 1986 & 1, 2, 3, 4, 5 etc.) und das – durch Bürger:innen und nicht mehr Verwaltungsbedienstete auszufüllende – Formular (1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 etc.).

So revolutionär der Einzug der neuen Frauen als Type-Riders die Welt der privat-kapitalistischen wie auch öffentlich-rechtlichen Verwaltung auch veränderte, bedurfte es auch der nie weniger werden Verarbeitungserfordernisse als solchen: die Daten strömten noch nicht binär codiert durch späterhin mit dem visionären Diktum – NB der deutschen Übersetzung – von den »Magischen Kanälen« (McLuhan 1968) belegte Leitungen, sie häuften sich vielmehr als Paperwork (Gitelman 2014) in Form nicht enden wollender Zettel, Formulare und Karteikarten, ausgefüllter Vordrucke und Fülltextarrangements, amtlicher wie halbstaatlicher Lü_gentexte … und allesamt mit ihren vermögens einschlägiger Administry & Paper Knowledges rückzuübersetzenden, ›richtig‹ und korrekt im Sinne der tatsächlichen Anwendbarkeit zuordenbaren Angaben. Es sind sowohl partizipative Scharniere als auch Glieder einer Operationskette. David Foster Wallace’ – gerade im vorliegenden Band kompetent kommentiert – so präzise zeichnendes Kapitel »§ 25« (Wallace 2011), selbst eine der diese Prozesse offenlegenden Schnittstellen vor der umfassenden Durchsetzbarkeit digitaler Verarbeitungsprozesse, wäre ohne die Jahrzehnte der Datenaggregationen, Schreibmaschinen, Büroorganisationsmodelle abstrakten wie tatsächlich raumgreifenden Zuschnitts (Bernasconi/Nellen 2019) und somit Aufschreibe- wie Ablagesysteminnovationen nicht einmal denkbar.



Bei all diesen Vorgängen geht es wesentlich um die Annahme von ›Wahrheit‹ und ›Wahrhaftigkeit‹ – nicht nur dass die auf dem Formularblatt gemachten Daten stimmen, sondern davor bereits: dass es überhaupt zulässige Daten gibt, die als Substitute mehr oder weniger lebendiger Untertanen eines Souveräns respektive Regimes tauglich und zulässig sind. Das Formular (seine Einrichtung und das Ausfüllen) steht für derartige Annahmen eines amtlich faktenbasierten, ›bürger:innenbiografischen Pakts‹ (für die Literatur vgl. Lejeune 1994, im Widerspruch zu diesem de Man 1993). Und pacta sunt servanda (das Prinzip der Vertragstreue); facta ebenso. Das Formular steht wie kaum eine andere medial zugerichtete Form für jenen Pakt von Verwaltung und Person – der bei aller Wechselseitigkeit ein von Staats wegen oktroyierter ist – für die Faktentreue der Daten. Die Einrichtung von Welt auf ein formatiertes Tableau aus Linien, Kästchen, Zeilenführungen, Schraffierungen, Schreibflächen, Steuer- und Souveränitätszeichen steht immer auch für die Annahme vorgängiger Fakten, die als Daten angegeben, d.h. festgeschrieben werden sollen. Gegen die Kontingenz beliebiger Angaben arbeiten die Formatierungen der Vordrucke, unterschiedlich zu gewichtenden Strafandrohungen, Kulturtechniken der Selbst- und Fremdverwaltung und damit die Annahmen, dass Daten ›stimmen‹ müssen. Es gäbe Fakten (so die Unterstellung) – diese sind beizubringen (so der Pakt). Das Wortspiel |☞ 1] Facta sunt servanda gewinnt seine Bedeutung für die intrikaten Zumutungen der Formulare jedoch nicht durch eine vermeintliche Originalität, sondern durch die stete Bezugnahme auf seinen Ausgangspunkt: Es sind immer ›Verträge‹ mit im Spiel, aufgrund deren Begründung Fakten zu liefern sind, Identitätsfeststellungen, Finanzen, Tathergänge, Auskunftsbegehren etc.
So wie – als solche ungenannte – Verträge eine Rolle spielen, ist es stets auch ein serialisiertes Ensemble, das herkommend von der Möglichkeit eines Drucks mit beweglichen Lettern zur (gemäß Vorgaben:) uniformen (gemäß Daten:) Individualisierung anhalten soll. Fakt ist was war und im Jetzt der Einträge gegenüber dem Formular-Tableau korrekt zu beglaubigen ist.


☞ 1: Es geht nicht um ein eindimensional-naives Bekenntnis des Journalismus zur Faktentreue (ebenso wenig um die nicht minder unreflektierte Wahrheitsforderung an ihn), der lediglich auf einem Geschäftsmodell des 19. Jahrhunderts beruht (redaktionelle Geschichtenrahmung im monetären Abtausch für externe Seitenflächenbesetzung, sprich Inseratenschaltung – »Das Inseratengeschäft ist auch der Weg, auf dem man während des Krieges den Versuch einer politischen Beeinflussung der Presse im großen Stil gemacht hat und jetzt, wie es scheint, fortsetzen will.« [Max Weber, Politik als Beruf, 1919] –) und durch Paywalls nebst Datensammlung und -verwertung auf den Plattformen (Plattformkapitalismus) lediglich eine weitere Finanzierungssäule sich erschloss. Nicht ›Fakten‹ sind das Thema, sondern Informationsselektion. (Eine finanziell einträgliche Form der Komplexitätsreduktion.)