Die Schrift des Theseus

Irgendwo muss man den Faden aufnehmen.

Das Schiff des Theseus (er nimmt auch am Argonautenzug teil, aber die Argo ist nicht dieses Schiff, das für die Philosophie und Literatur aufgetakelt wird) wird erstmals bei Plutarch (der im Rahmen seiner Parallelbiographien Theseus den Romulus gegenüberstellt) als ein sich veränderndes beschrieben:

Das Schiff, auf dem Theseus mit den Jünglingen losgesegelt und auch sicher zurückgekehrt ist, eine Galeere mit 30 Rudern, wurde von den Athenern bis zur Zeit des Demetrios Phaleros [das wären etwa 800 Jahre; Anm.] aufbewahrt. Von Zeit zu Zeit entfernten sie daraus alte Planken und ersetzten sie durch neue intakte. Das Schiff wurde daher für die Philosophen zu einer ständigen Veranschaulichung zur Streitfrage der Weiterentwicklung; denn die einen behaupteten, das Boot sei nach wie vor dasselbe geblieben, die anderen hingegen, es sei nicht mehr dasselbe.

Plutarch, Vita Thesei 23, Übersetzung Wilhelm K. Essler

Die Fahrt mit den Jünglingen und Jungfrauen – die je sieben an der Zahl alle neun Jahre als Tribut Athens dem Minotaurus zu opfern waren – ist jene, bei der das Labyrinth bezwungen und der Minotaurus erschlagen wird. (König Minos soll als Vergeltung den Architekten des Irrgartens Daidolos und seinen Sohn ins Labyrinth gesteckt haben, aus dem Daidolos auf die bekannte Weise entkam…)

Theseus wird mit dieser Fahrt die Jünglinge und Jungfrauen gerettet und die Tributschuld Athens gelöscht haben, aber aus einem scheinbaren Überschwang der Gefühle über den Ausgang des Abenteuers die schwarzen Segel gesetzt lassen – für den Fall, dass sein Kommandounternehmen glückt, war weiße zu hissen vereinbart –; sein Vater Ägeus sich bei Wahrnehmung dieses Signals aus der Ferne ins (späterhin nach ihm benannte ägäische) Meer stürzen. Der Weg ist frei: Theseus wird die Macht übernehmen, diese gegen seinen Onkel Pallas behaupten können, Athen zur Hauptstadt ausbauen (die Verwaltung der zwölf Umlandgemeinden – Synoikismos – zusammenlegen), Verwaltungsgebäude errichten, neue religiös-politische Feste und Wettkämpfe ausrichten lassen, eine Art Demokratie und jedenfalls Neuordnung der Gesellschaft anordnen (Adel, Bauern, Handwerker mit je spezifischen Aufgaben und Rechten), er wird sich zum Heerführer und Wächter über die Einhaltung der Gesetze machen.

Soweit scheint klar, gerade im Reigen der Erzählungen über sein Leben, seine Heldentaten, dass die Geschichte vom Minotaurus eine Episode darstellt, auf die wegen eines kleinen Lapsus eine Herrschaftsübernahme folgt, die selbstverständlich von zahlreichen Reformen und klugen Zurichtungen des Gemeinwesens gekennzeichnet ist. 

{NB: Natürlich sind das zunächst bloße Erzählungen, mythologisch überhöht (auch im Sinne einer Beglaubigung des Wahrheitsgehalts durch die übernächsthöhere Ebene), es sind aus nur bedingt (und wenn dann zumeist über erheblich längere Zeiträume) historisch festzumachenden Verläufen kondensierte Darstellungen mit zahlreichen Höhepunkten, kurzum: Zuschreibungen. Zudem ist die Überlieferungsgeschichte durchaus komplex, Details weichen voneinander ab, unterschiedlichste Medien (Träger und Speicher) sind über Jahrhunderte mit im Spiel, bevor es einen Plot gibt, auf den man sich zur Not verständigen kann. Anders gesagt: das sind Übersetzungen von Annahmen, Tradierenden von Erzähltem. Dass die mitverhandelten Geschichtsläufe nicht ansatzweise so linear gewesen sein können, wie es nun zugerichtet erscheinen mag, ist evident. Zuviel Komplexität, Zufälle, … Kontingenz. Aber eben auch ein Plot, um den herum die Storylines gewoben werden. Darum geht es hier: um das, was (neben vielem anderen) aus all dem resultiert (haben soll). Die Übersetzung ist ein Destillat. Herrschaft und gute Verwaltung werden übernommen und installiert, das eine bedingt das andere. (»Wo Übertragung war, soll Überlieferung werden.« [Vismann, Akten, S. 83])}

Was an der ganzen Geschichte – etwa bei berufsbedingter Beschäftigung mit Verwaltung, mit ihren Medien und Kulturtechniken – stutzig macht, soll in der Folge (Anmerkungen, Thesen und Spekulationen zur Frage Was passierte hier eigentlich und was passiert dann noch?) kurz skizziert werden.

Notationen und Assoziationen

Woher kommt das alles, was Theseus plötzlich umsetzen kann, sobald er den Thron bestiegen hat? – Er kann das, lautet der Vorschlag, weil sein Weg sich mit denen der Einführung des Alphabets auf Kreta (Linear A, Aufkommen der Linear B, die Anbindung an den phönikischen Handels- und Kulturraum), der Herrschaft des Minos, dem Stierkult um den Minotaurus (der wie ein zu erschlagender Leviathan des Alphabets erscheint, denn aus Ɐ wird A), der Europa-Geschichte (die eine von den Vorzügen der entführten und vergewaltigten Königstöchter ist und überdies einen Kulturimport des Phönizischen symbolisiert), mit Dädalus und den Handwerks- wie Architekturkünsten etc. kreuzt. Das alles ist kondensiert in einem lange (die Tributfahrt ist die dritte, sie findet alle neun Jahre statt) so erfolgreichen minoischen Regierungswissen auf Kreta; bei der Alphabet-Geschichte spielt natürlich auch noch Kadmos von der Seite herein, der seine vom stierhaften Zeus entführte Schwester suchend – ebenso als Symbolfigur erzähltechnisch operationalisiert – ebenfalls Schriftgut (phönizische Schriftkultur Folge zwo, Mykene und die Linear B) in den alsbald hellenisch-hegemonialen Raum einschleust.

Vgl. dazu die einschlägige Geschichte wie hier bereits erzählt: – diese überschneidet sich mit der des Theseus wesentlich. Im Grunde geht es auch um die Übernahme einer Kulturtechnik, des Verwaltungsschreibens, zum Zweck stabiler Ausübung von Macht.

Es finden hier aus und nach verschiedenen Richtungen (von Ost nach West und von Nord nach Süd und wieder zurück) ziehend Europa und der Stier (die neue Religion der sich durchsetzenden Festlandgriechen), das »Gestell« und damit die Technikkünste des Dädalus (irgendwann fummelt Heidegger dran herum) und das Schiff des Theseus, die auch nautisch zentrale Technik der Ortung und des Navigierens in unbekannten und zudem unübersehbaren Räumen, die Machtablöse der minoischen durch die mykenische und später Hegemonie der attischen Kultur (einschließlich aller Mitnahmeeffekte, darunter: wie Herrschaft zu verwalten sei) zu einem Knoten geschürzt.

Theseus lernt, um einige Punkte lose verbunden hervorzuheben, in der Erzählung das Labyrinth kennen, beherrschen – und lässt nach Rückkehr und mit Macht Verwaltungsgebäude errichten (vgl. im Asterix-Film aus 1976, »Asterix erobert Rom«, »das Haus das Irre macht« – und vgl. dazu ausführlicher Plener: Fanta sunt servanda, in: Das Formular [.pdf], S. 56ff.). 

So deutlich ein Einfluss im herrschaftlichen Sinn für Kreta/Minos weit über das Inselreich – die Thalassokratie! des Minos – hinaus nachzuweisen ist (eben auch das Theben des Kadmos etc. umfassed), was sich mit der Erzählung von den Tributpflichten zur Deckung bringen lässt, so wenig gibt es an einschlägigen Spuren von Verwaltung zu finden. Das wiederum macht die Erzählung von der Etablierung der Bürokratie durch Theseus und seine neu verbindliche Einrichtung einer Gesellschafts- und Verwaltungs- weil Gesetzesordnung weit über die Grenzen des neuen Athen hinaus (mehr durch Aushandlung als durch kriegerische Akte) noch einmal so interessant. Hier ist – das Eindringen ins Labyrinth und der Tod des Minotaurus (Minos hat dann nur mehr das Potenzial, sich an Dädalus schadlos halten zu wollen und wird dabei sterben) – ein Wendepunkt in den Machtsphären markiert. Athens Aufstieg beginnt. (NB: Die minoische Linear A [cf. Diskos von Phaistos] wird durch die mykenische Linear B – frühe Form des »Griechischen« abgelöst, der Keramikstil auf Kreta gleicht sich jenem des griechischen Festlands an; auch diese ein, zwei Übergänge sind wichtige Indizien für einen stattgehabten und grundlegenden Wandel im Kultur- und Herrschaftsgefüge.) Die Geschichte von Theseus und seinen Reformen nach dem kretisch-minoischen Abenteuer ist somit auch eine davon, dass die Zurichtung einer Gesellschaftsordnung und die Etablierung eines Verwaltungssystems sich wechselseitig bedingen, Hand in Hand gehen.

Das sog. »Theseusmosaik« (Inhaltsbeschreibung) aus der römischen Spätantike des 4. Jhdt. »n. Chr.«, 410×420 cm, befindet sich in der Antikensammlung des Kunsthistorischen Museums Wien. Zentrale Motive sind das vom roten Faden durchzogene Labyrinth, die Übergabe des Garns (die Appropriation der Technik), die Tötung des Minotaurus, die auf Naxos zurückgelassene Ariadne, die Heimkehr des Theseus mit dem Schiff unter schwarzen Segeln nach Athen. // ⒸKHM-Museumsverband (Lizenz CC BY-NC-SA 4.0; Nutzungsbedingungen [.pdf])

Der Umstand, dass Antonio Canovas Theseus-Skulptur (Theseus erschlägt im Zuge der Kentauromachie einen Kentaur, 1810–19), seit 1890 bis heute im Kunsthistorischen Museum aufgestellt, ursprünglich im dafür errichteten und ebenso genannten Theseustempel (Peter v. Nobile als Architekt, 1819–23) – dessen damalige Lage man sich vergegenwärtigen sollte und die eben nichts mit der nunmehrigen Anlage zu tun hat – im heutigen Wiener Volksgarten eingestellt wurde (eine nach unten skalierte Nachbildung des Athener Theseios [aka Hephaisteion – und mit dem Gott der Schmiedekunst ist eine Fußnote für Dädalus gesetzt], das neben anderen Namen auch diesen trägt, weil man einst annehmen wollte, dass hier die Gebeine des Theseus begraben wären (das wäre der nächste lieu de mémoire in Sachen Theseus), in unmittelbarer Nähe des damaligen wie heutigen ›Regierungsviertels‹ und zahlreicher Zentralstellen der österreichischen Bundesverwaltung steht, ist ein der Kontingenz geschuldeter Treppenwitz. (Zudem kann man, wenn man schon den Theseus im KHM besuchen geht, in der Antikensammlung das Theseusmosaik aus dem 4. ›vorchristlichen‹ Jhdt. besichtigen.)

Dass Theseus Erzählungen zufolge von Minos Frau Pasiphaë – jene, die mit Hilfe von Dädalus-Heideggers »Gestell« vom Kretischen Stier des Poseidon sich ficken lassen konnte – gebeten wurde, ›ihren‹ Sohn Minotaurus zu verschonen, dass sie ihn zudem begehrt hätte, ist das eine. Dass er das eine wie das andere abwies, um dem Begehren von Minos Tochter Ariadne sich zu ergeben und von ihr auch den Faden gehalten zu bekommen das andere; ebenso, dass er diese bei der Abreise von Kreta mitnimmt – und auch ihre jüngere Schwester Phaedra. Ariadne wird (mit Zwillingen schwanger) auf Naxos geparkt und die Gattin des Dionysos, Phaedra kommt mit nach Athen und wird ihren Stiefsohn Hippolytos lieben (den Theseus mit einer Amazonenkönigin zeugt). Das geht für beide nicht sehr gut aus. Dass Theseus die Frau des Minos schmähen kann und dann beide beide Königstöchter desselben zur Frau auf Zeit nimmt, ansatzweise Klaus Theweleits Landnahme-These (CA – Pocahontas Bd. 2; ein wesentlicher Auszug daraus auch in der Neuen Rundschau 04/2016) bestätigt, bleibt auch noch festzuhalten. Denn das würde die Annahme, dass Theseus Taten auf Kreta einen Machtwechsel im ›griechischen‹ Raum einläuten (von Kreta zu Athen), dass hier eine ganze Kultur gekapert und neu aufgesetzt wird, stärken. (Es ließe sich übrigens alternativ auch André Gides Erzählung »Theseus«, 1946, lesen.)

Dass Theseus das schwarze Segel gesetzt lässt, kann man auch als Trick lesen, an die Macht zu kommen. Wozu sonst lässt man die Zeichen auf Tod stehen, wenn man nicht davon ausgeht, dass ihre Signalwirkung ohne weitere Eingriffe umgehend Folgen zeigt, noch bevor man am Zielort ankommt? Tod durch Übertragung, Fernwirkung … das wird auch bei Tristan und Isolde und der V2 ganz gut klappen. Dass die fortgesetzte Hissung der schwarzen Segel ein Lapsus gewesen wäre, aufgrund des feierlichen Besäufnisses auf Naxos und Delos (die beiden Zwischenstationen der Heimfahrt) mit den Jünglingen und Jungfrauen, mit Ariadne (Frau I, die gleich dem Dionysos überlassen wird) und Phaedra (Frau II), ist – ich spekuliere weiter – auszuschließen. Bacchantisch wird gefeiert, Opfer werden gebnracht, Theseus unternimmt einen Ausdruckstanz um darzustellen, wie er ins Labyrinth und wieder herauskam, wie er den Minotaurus erschlug etc. – hier auf der Heimfahrt erfolgt die Ablöse von einer dionysischen Welt, einer voralphabetischen Kultur; die apollinische, alphabetische setzt sich durch und Herrschaftstechnik wird neu definiert. (Nicht gemeint ist hier die apollinisch-dionysische Paarung, wie sie bei Winckelmann, Schlegel, Schelling, Bachofen, Nietzsche et al. operationalisiert wird; die Zuschreibungen mache ich mir zunutze, mir geht es jedoch um eine Ablöse der einen Herrschaftskunst durch die andere.) Die Segel bleiben schwarz, der Vater wird per Remote control aus dem Weg geräumt, Theseus landet im eben erst entstandenen Herrschaftsvakuum an und übernimmt die Macht, Athen wird zu seiner Vormachtstellung finden, Verwaltung und Gesellschaft werden neu aufgebaut – das Alphabet schreibt seinen Siegeszug in die Welt. Dass sein »Schiff« in Ehren gehalten wird, verwundert kaum (ist es mit schwarzen Segeln das gleiche wie unter weißen Segeln oder ist es schlankweg dasselbe?); dass es zu einem – über 800 Jahre hinweg! – immer wieder zu renovierenden lieu de mémoire ist zumindest interessant.

Vgl. zum nüchternen Theseus auch Shakespeare; würde man das mit hereinnehmen, Shakespeare und diesen im Zitat modellierenden Freud, dann ist Theseus auch hinsichtlich dieser Lesarten ein planvoller Techniker der Macht und der Liebe nebst Schrifttum davon. Denn die im »Sommernachtstraum« etc. angegebene Rede ist eine, die er der Amazone Hippolyta gegenüber führt. (In Sachen Arno Schmidt vgl. weiters 1 und 2)

Die Ausfahrt des Theseus nach Kreta und die Rückkehr nach Athen, einschließlich aller Handlungen, erzählt von kalkulierten Machtübernahmen (zuhause, Festlandgriechenland, ägäischer Raum), der Aneignung von Kulturtechniken und Machtmitteln der Verwaltung (einschließlich Gesetzgebung und Zentralverwaltung), der Einführung alphabetisch stabilisierter (und stabilisierender) Kontrollmechanismen. Es ist auch eine Geschichte davon, wie Macht ergriffen wird – und wie sie sich etablieren, erhalten lässt. Die Tötung des Minotaurus in einem Labyrinth markiert den Wende- bzw. Kipppunkt und das, was erfahren und gelernt wird, steht sprichwörtlich zwischen den Zeilen. Für die Philosophie würde sich vielleicht eine neue Aufgabe stellen, wenn die Frage nach demselben oder dem gleichen Schiff des Theseus gelöst ist: verliert ein Staatswesen seine Gestalt, wenn mit der Zeit viele oder gar alle seine Buchstaben und Paragraphen ausgetauscht werden?