Techné – Schwebende Urteile

Zusätzlich zur Grammatologie des Akts – die Rekursion entsprechend Cornelia Vismann (Akten, 2000) – lässt sich für die hierbei nicht selten angewandte Rede von den Steuerungsalgorithmen eines solchen, seinem Regelwerk des Verlaufs, feststellen, dass es jeweils um die geordnete Inszenierung eines Prozesses im Rahmen eines je eigenen Zeitrahmens geht.  Der Akt bedient sich einer spezifischen Verfahrensordnung  – die er im Gegenzug  durch seine Anwendung an sich bzw. den Vollzug der vorgesehenen Abläufe bestätigen muss –, die auch auf so etwas wie eine bürokratische Praxeologie durchschlägt. (Ein an sich simples wechselseitiges Bedingungsgefüge.) Seine Verlaufszeit, d.h. die Dauer von der Anlegung bis zur Ablage – und im Normalfall letztlich Skartierung (d.h. Kassation) – bemisst sich jedoch nicht allein durch notwendige (vorzusehende) Schreib- und Weiterleitungsakte, sondern sehr wesentlich auch durch Entscheidungsprozesse. Diese auf der Papierebene einfachen Formen des Urteils unter Anwendung des Prinzips der Rekursion lassen sich wiederum als schwebende Verfahren (»suspended judgements«; McLuhan 1964 unter Berufung auf Bertram Russel in Understanding Media) charakterisieren, deren Dauer nicht apriori mit einer Stoppuhr sich begrenzen lässt, sondern höchstens von Verwaltungspraxis, Gegenstand und zusätzlichen äußeren Normen eingegrenzt wird. Eine Abneigung der BürgerInnen gegenüber den ebenso ›Angewandten wie Bildenden Verwaltungstechniken‹ lässt sich auch aus derart von außen – im doppelten Wortsinn – nicht einsehbaren, notwendigerweise (sui generis – das meint hier: ex legebegründet und damit für die Anwendung der Form konstitutiv) zunächst in der Schwebe befindlichen Urteilsbildungen ableiten.

Dieses Unbehagen an den schwebenden Urteilen (dabei wird deutlich gemacht, dass es nicht einfach um eine schwebende Unwirksamkeit geht, die an die Vorlage aller notwendigen Genehmigungen, Fristabläufe oder Beschlüsse gekoppelt ist; das Urteil an sich scheint gefällt, es ist lediglich noch nicht ausgesprochen) und der Uneinsehbarkeit eines »Processes« ist es, das dann beispielsweise einige der Schriften Kafkas auszeichnet. Nicht vor dem Gesetz ist man ohnmächtig, sondern vor dessen Vollzug (u.a. deshalb werden Figuren zur Verdeutlichung herangezogen: der Maler Titorelli [☞ 1] erklärt, wie ein Erhebungsakt aufgebaut ist und funktioniert; der Türhüter verdeutlicht den Wert und die Herausforderung einer Präambel; der Prediger personifiziert die Exegese; etc. – dies alles sind Elemente der Urteilsfindung, ohne dass K. eingreifen und den Schwebezustand beenden könnte).

Joseph Vogl hat (2014) – unter besonderer Bezugnahme u.a. auf Das Schloss– eine Textur des »Zauderns« ausgemacht. Dies würde sich auch anhand der schwebenden Urteile bestimmen lassen. Ein solches »Zaudern« ließe sich Vogl zufolge auch für den Mann ohne Eigenschaftenals Schreibstrategie Musils ausmachen. [Was hier in einem Satz zu referieren wäre; Anm.] 

Musil interessieren abgesehen von der Uneinsehbarkeit administrativen Handlungsvollzugs die Parallelverläufe und Beeinflussungen der Steuerungsmechanismen im Hintergrund. Ulrich, dieser Mann ohne Eigenschaften, wird erst im »Zweiten Buch/Dritten Teil/Kapitel 38: Ein großes Ereignis ist im Entstehen. Aber man hat es nicht bemerkt« aus der Parallelaktion und allen ihren Zusammenhängen herauszutreten beschließen: »Ulrich lachte. ›Weißt du, was ich jetzt tue? Ich komme nicht mehr her!‹, antwortete er glücklich.« Koppelte man dieses letzte zu Lebzeiten gedruckte und publizierte Kapitel des MoEan die Realzeit 1914, wird man wenige Tage vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs das Kreuz machen können. Zaudern, schwebende Urteile und Grammatologien des Verfahrens werden von normativen Kräften des a.a.O. geschaffenen Faktischen überrollt. Nicht Ulrich wird der Mann der Tat sein, sondern Sektionschef Tuzzi, bürgerlicher Karrierediplomat. »Ins Tausendjährige Reich (Die Verbrecher)« – darum geht es nun. Musils Textverfahren MoEist auch Ausdruck einer Rekursion, eines umfassenden Detailblickens darauf, wie es dazu kam.

Dabei gibt es ein Leben nach dem Schließen der Akte, das je nach Bedeutung des Gegenstands unterschiedlich verlaufen mag. Während ein Großteil entsprechend der vorgesehenen Fristen vorschriftsmäßig verwahrt und nach Ablauf vernichtet wird, gibt es solche, die im Rahmen eines übergeordneten Begründungszusammenhangs Bedeutung haben und mit anderen Akten zu einem zusammengeführt bewahrt werden. Wieder andere werden aus dem Archiv geholt (etwa von einem Robert Musil im Kriegsarchiv, als Angestellter einer liquidierenden Behörde) um entlang ihrer rekursiven Grammatik neuerlich untersucht zu werden. Akten sind für Externe als ›Black Boxes of Bureaucracy‹ so lange in der Schwebe, bis sie geschlossen und ad acta, zu vergleichbaren Konvoluten gelegt werden. Je nach Bedeutung ihres Gegenstands sind sie dann allenfalls noch – über die Adresse der Geschäftszahl – Gegenstand von Zugriffen unterschiedlicher Art.

Bedeutungserscheinungsapparate.


☞ 1: Malcolm Pasley hat auf Kafkas enge Anbindung der Titorelli-Passage an – u.a. – Freuds Der Moses des Michelangelo-Schrift (GW X, S. 172–201) verwiesen (cf. Malcolm Pasley: Zwei literarische Quellen zu Kafkas ›Der Proceß‹. In: Ders.: »Die Schrift ist unveränderlich…« Essays zu Kafka. Frankfurt/M.: Fischer 1995, S. 35–45, insb. 40ff.) Das wird nicht falsch sein, die Querbezüge sind soweit auch erlesbar. Allerdings lässt sich hierzu – NB: Kafka ohne seine Fertigkeiten und Routinen der Verwaltung zu lesen erscheint ho. als etwas unterkomplex – eben auch die allmähliche Verfertigung eines Aktes und seiner weiteren Beförderung/-arbeitung (der Aktenlauf in nuce und an sich) mitlesen. Das eine ist mit dem anderen in Zusammenhang zu stellen.