Amtsdiener und Bureaukretinismus

Zu lesen ist:
Karl Kraus: Der Amtsdiener. In: Die Fackel H. 208 v. 4.10.1906, S. 9–13, hier S. 9–12.

Der Amtsdiener.

Der »Übermut der Ämter«, über den Hamlet klagt, [☞] steht hierzulande im umgekehrten Verhältnis zur »Rangsklasse«. So unerträglich der österreichische Bureaukretinismus im Ganzen ist, am unerträglichsten ist er dort, wo der Machtwahn, von schlechter Bezahlung üppig genährt, sich in unmittelbarer Reibung mit dem Publikum austoben kann — in den subalternen Regionen. Einen Minister kann man anschreien; von einem Amtsdiener muß man sich anschreien lassen. Das österreichische Dogma, daß das Publikum eine zur Unbequemlichkeit der Bureaukratie erschaffene Einrichtung ist, zeitigt die groteskesten Erscheinungen. Man glaubt, daß der grobe Amtsdiener ein antiquiertes Possenrequisit sei, mit dessen Benützung sich ein moderner Bühnenschreiber blamieren müsse. Im Wiener Leben will die Figur nicht nur nicht aussterben, sie strotzt von Lebensfülle und Gesundheit. Der dreisteste Hausfriedensbruch wird hier tagtäglich zahllosemale von Exekutionsbeamten begangen, von Wachmännern fortwährend Einmengung in eine Privathandlung verübt. »Amtsehrenbeleidigung« heißt jenes Delikt, dessentwegen man verurteilt wird, wenn man von einer Amtsperson beleidigt wurde, und Strafprozesse, in denen der »Amtseid« eine die Wahrheit paralysierende Wirkung hat, stehen auf der Tagesordnung. Für jeden Vollsinnigen ist es klar, daß eine Amtsperson, die sich in einem Privathause pöbelhaft benimmt, keine Amtsperson ist und getrost hinausgeworfen werden kann. Nur für unsere Staatsanwälte ist dies nicht klar, die noch immer »Amtsehrenbeleidigungsklagen« in Arbeit nehmen, und für unsere Richter, die noch immer verurteilen. Noch immer wird eine Amtsehre geschützt, die man straflos mit einer Nickelmünze in Versuchung bringen kann. […] »Euch Kerlen werde ich schon zeigen!« soll sie gerufen haben, »Morgen seid ihr keine Beamte mehr, und wenn ich zum Minister gehen müßte!« Ist sie dessen überwiesen, so hat sie ein gutes Wort zur rechten Zeit gesagt. Ganz abgesehen davon, daß jeder österreichische Minister jede Soubrette jedem Amtsdiener opfert. Natürlich wurde die Dame zu einer Geldstrafe verurteilt … Wenn ein Amtsdiener im Hause eines Barons zu exzedieren wagt, welche Orgien der Frechheit müssen dann erst bei Exekutionen gegen arme Leute gefeiert werden! Kein Napoleon kann das Hochgefühl des Triumphs nachfühlen, den ein k. k. Exekutionsdiener in einer Dachbodenkammer erlebt, wenn er eine rechtskräftige Forderung von zwei Kronen fünfzig in der Hand hält und eine ausgehungerte Armee von Familienangehörigen eines vazierenden Hilfsarbeiters ihm zu Füßen liegt: »Zahlts, ös Bagasch!«
In »besseren« Häusern ist der Amtsdiener in der Regel nicht tyrannisch, nur frech. Auch meine Wohnung sollte in diesem Sommer vom Siegertritt eines k. k. Exekutionsorgans widerhallen. Ich war einer Zierde des Barreaus ein paar Kronen schuldig, hatte die gerichtliche Vorschreibung erst als ich von einer Reise heimkehrte, gefunden und sandte den Betrag durch die Post ab. Mit dieser Sendung kreuzte sich das Exekutionsgesuch des Advokaten, und ich mußte die Kosten der amtlichen Störung meiner Nachtruhe bezahlen. Um acht Uhr morgens vollzog sich die advokatorische Großtat. Auf das Aperçu des k. k. Amtsdieners: »Man hat um 8 Uhr auf zu sein«, das mir ans Bett gemeldet wurde, ward ich sogleich munter und eröffnete dem Mann, der noch einige Aussprüche didaktischer Natur nebst ein paar persönlichen Pointen zum besten gab und sich dabei fortwährend auf seinen Amtscharakter berief, daß ich auch den Ministerpräsidenten, der sich in meiner Wohnung flegelhaft benähme, hinauswürfe. Nicht ohne vorher ausdrücklich erklärt zu haben, daß mir die Amtshandlung mit der ersten frechen Bemerkung beendet scheine. Nach der Duplik: »Schwalbeln Sie mir nichts vor!« öffnete ich die Tür und ersuchte den k. k. Exekutionsdiener, dessen privater Verkehr mir nicht erwünscht sei, meine Wohnung zu verlassen. Ich hatte die ganze Nacht am Schreibtisch verbracht und mußte es ertragen, nach einstündigem Schlaf vom Staat, der die Forderung eines Advokaten pathetisch nimmt, geweckt zu werden. Das freche Benehmen seines Dieners brauchte ich mir nicht gefallen zu lassen. Ich begab mich ins Exekutionsgericht und schilderte dem Vorsteher mein Erlebnis. Nach einigen Tagen erhielt ich die folgende Zuschrift: »Wohlgeboren Herrn Karl Kraus, Herausgeber der ‚Fackel‘, Wien. Ihre Beschwerde über das Benehmen eines Vollstreckungs-Organes, das bei Ihnen eine Amtshandlung vorzunehmen hatte, hat mich veranlaßt, dem betreffenden Organ das Unpassende seines Benehmens vorzuhalten und es daran zu erinnern, daß durch § 82 Geschäfts-Ordnung sämtlichen bei Gericht angestellten Personen ein anständiges, ruhiges und höfliches Benehmen zur Pflicht gemacht ist. Ich glaube damit Ihren hier geäußerten Intentionen entsprochen und hiedurch den bedauerlichen Vorfall beigelegt zu haben. [/] K. k. Exekutionsgericht Wien, am 23. Juli 1906. Der Amtsleiter …«
Ich schämte mich. Warum ward mir diese amtliche Ehrenerklärung und anderen (die sich freilich nicht beschwert hatten) die Verurteilung? Einfach: weil ich die ‚Fackel‘ herausgebe. Ein klarer Fall von Korruption, an dem ich beteiligt bin. […]


☞ Zu »Hamlet« und dem »Übermut der Ämter«: die Stelle findet sich im mutmaßlich bekanntesten Monolog der Figur (3. Aufzug, 1. Szene; ja, das mit dem To be, or not to be, that is the question; nein, nicht mit dem Totenschädel – das ist die Rede auf York, 5. Aufzug, 1. Szene).

The oppressor’s wrong, the proud man’s contumely,
The pangs of despised love, the law’s delay,
The insolence of office and the spurns
That patient merit of the unworthy takes,
When he himself might his quietus make

Des Mächtigen Druck, des Stolzen Mißhandlungen,
Verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub,
Den Übermut der Ämter und die Schmach,
Die Unwert schweigendem Verdienst erweist,
Wenn er sich selbst in Ruhstand setzen könnte

Übersetzung: August W. v. Schlegel