Atom

O Nature, and O soul of man! how far beyond all utterance are your linked analogies! not the smallest atom stirs or lives on matter, but has its cunning duplicate in mind.

Herman Melville, Moby Dick: Kapitel 70 – The Sphynx (1851)

Noch das unteilbarste ἄτομος wird bis ans Ende ein ›gerissenes Duplikat‹ mit sich führen – und umgekehrt.

Peter Plener, Kapitel 70 – The Sphynx: Schizo-Sphinx oder Das Duplikat, in: Neue Rundschau H. 1/2023

Atom-Theorie, Verbindungen, Duplikate, … sowieso Demokrit, Brown und Einstein; man ahnt es und lese doch weiter, Stichwort »komplexe Situation« (und das Wortspiel von der ›Whiteness of the Whale‹, eben: Kapitel 42 des MD, muss hier angebracht worden sein, geht es doch um kaum weniger als eine der wunderbaren Weltformeln und Generalerklärungen da oben wie im Folgenden):


There is no tidy atom and no embracing world, only complex situations, long strings reptating as in a polymer goo, or in a mineral before it hardens.

Harrison C. White, Identity and Control: A Structural Theory of Action (1992)
Dirk Baeckers aufgeschlagene Doppelseiten-Darbringung der Reptilienbewegung in Whites Polymeren zum Zwecke des Nachrufs auf die Komplexität.

Man ist versucht, »reptating« für einen Druckfehler zu halten und »repeating« zu lesen, zumal die selbstähnliche Wiederholung bestimmter Strukturen für Polymere typisch ist, aber es ist tatsächlich »reptating« gemeint, denn Reptation ist ein Fachterminus aus der Polymerforschung, der laut Wikipedia die »schlangenartige Bewegung eines Polymers aus einem Polymernetzwerk (Diffusion)« bedeutet. […] Mit der Ablehnung einer Vorstellung von aufgeräumten Atomen in einer umfassenden Welt und der Option für komplexe Situationen bewegt sich White auf dem vertrauten Gelände der soziologischen Tradition. Im nächsten Schritt sprengt er die Tradition, wird er bahnbrechend. Er erläutert die komplexe Situation durch Vergleich mit einem Polymerschleim, ‑glibber oder ‑klebstoff beziehungsweise nicht mit diesem Schleim, Glibber oder Klebstoff selbst, sondern mit der schlangenartigen Bewegung (Reptation) dieses Polymers aus einem Polymernetzwerk.

Dirk Baecker, Harrison Whites Beitrag zur Soziologie, in: FAZ v. 19.8.2024

(Cf. hier notwendigerweise zum Schlangenritual Warburgs [sic] bzw. Kreuzlingener Prometheus: »Den Überwinder des Schlangenkults und der Blitzfurcht, den Erben der Ureinwohner und gold-suchenden Verdränger des Indianers, konnte ich auf der Straße in San Francisco im Augenblicksbilde einfangen. Es ist Onkel Sam mit dem Zylinder, der voll Stolz vor einem nachgeahmten antiken Rundbau die Straße entlanggeht. […] Telegramm und Telephon zerstören den Kosmos.« Die Rede ist tatsächlich immer noch von derselben Geschichte; und schon wieder weiter:)

Und [White] ergänzt, das Soziale […] befindet sich unhintergehbar in einem Zustand des Übergangs, sei es der Bewegung in einem Netzwerk oder dem Aufschub einer Verhärtung. Mit dem aus der Physik der Polymere gewonnenen soziologischen Blick wird die Komplexitätshierarchie der Wissenschaften unterlaufen[.] Polymere, jene verwickelten Netzwerke von Makromolekülen, sind mindestens so spezifisch und daher komplex wie soziale Situationen. Dank der Quantenphysik gilt dasselbe auch für atomare Teilchen. [/] Komplexität ist die Einstiegsformel in jegliche Art von Wissenschaft. Im Gewand der Komplikation (im doppelten Sinne des Wortes: als Kompliziertheit und als, etwa in der Medizin, unerwartete/unerwünschte Entwicklung ei­nes Zustands) entdeckt die Soziologie eine Komplexität, die sich seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts auch in den Naturwissenschaften herumspricht. Komplikation bedroht die Phänomene nicht nur, sondern konstituiert sie, indem sie ihre Komplexität begründet. Schlangenartig, wie Reptilien, bewegen sich die Phänomene aus ihrem Netzwerk in ihr Netzwerk. [/] Harrison C. Whites Soziologie […] verdanken wir wichtige Einsichten in die bewegliche Struktur von Netzwerken, die für die Identität ihrer heterogenen Elemente (Leute, Geschichten, Praktiken, Techniken, Institutionen) verantwortlicher sind, als der gesunde Menschenverstand es sich träumen lässt.

Dirk Baecker, Harrison Whites Beitrag zur Soziologie, in: FAZ v. 19.8.2024