Kreuzlingener Prometheus

Wenn ich jetzt an Kreuzlingen zurückdenke, erscheint es mir wie ein vollkommenes Wunder, dass dieser Vortrag zu Stande gekommen ist.

Fritz Saxl an Paul Warburg, New York, 5. 8. 1926

1896 war Aby Warburg durch die USA gereist, am 21. April 1923 brachte er im Kreuzlingener Sanatorium (NB: im Haus Bellevue) den berühmt gewordenen Reisebericht über das »Schlangenritual« der Hopi zum (Bild-) Vortrag. (Es gibt mit A Kind of World War einen Filmessay [2021] von Anselm Franke & Erhard Schüttpelz, den man sich in einer ruhigen Stunde ansehen kann; darauf sei verwiesen, an qualifizierter Literatur zu diesem Vortrag und seinen Implikationen wie Ausführungen, seiner Bedeutung, ist viel zu finden und zu lesen.)

Ernst Gombrich leitet in Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie den Schluss dieses Vortrags wie folgt ein:

Als Warburg seinen Vortrag hielt, hatte er sich freilich weit von der optimistischen Deutung der geistigen Entwicklung des Menschen entfernt, die er in seinen frühen Studententagen akzeptiert hatte. Jetzt legte er sogar Wert darauf, das Polaritätsprinzip ausdrücklich auch auf diese Entwicklung anzuwenden. Nachdem er den Schlangentanz in seiner doppelten Funktion als eine Handlung primitiver Magie und als Ausdruck des Strebens nach Aufklärung interpretiert hatte, wollte er seinen Vortrag nicht beenden, ohne darauf hingewiesen zu haben, daß die technologische Herrschaft des Menschen über die Mächte, die den Blitz verursachen, für ihn auch einen negativen Aspekt hatte. Diesen Aspekt sah er in den Gefahren, die der Menschheit aus dem erwuchsen, was er die »Zerstörung der Distanz« nannte.
Die gezähmte Elektrizität in der Form des Telegraphen vernichtet den Raum.
Es kann kaum bezweifelt werden, daß diese pessimistische Diagnose auf einige seiner Zwangsvorstellungen zurückging. Er, der immer wieder von Angstzuständen heimgesucht wurde, benötigte die Sicherheit der Distanz. Im Gegensatz zur Welt der Zauberei und Magie konnten in der rationalen Welt voneinander entfernte Dinge nicht ohne Zwischenglieder aufeinander wirken.
Der Mensch braucht keine Angst zu haben, weil er die Ursachen aus der Distanz heraus begreifen und isolieren kann, indem er sozusagen einen Schritt zurücktritt und die ganze Ereigniskette betrachtet. Diese Möglichkeit der Reflexion nannte Warburg Denkraum, und es war diese Gelegenheit zum Nachdenken, die er von der »Lichtgeschwindigkeit‹ der elektrotechnischen Information bedroht sah. Er hat das Radio nie akzeptieren können, weil es eben diese Distanz zu vernichten drohte. Was hätte er wohl zu Fernsehaufnahmen vom Mond gesagt?
Die Schlußfolgerung seines Vortrags verrät daher bis zu einem gewissen Grade einen Durchbruch seiner Krankheit; und doch bezeugt sie auch sein Streben nach einer widerspruchsfreien Kulturphilosophie, die den bequemen Optimismus progressiver Philosophien verwirft, ohne das Recht aufzugeben, die menschliche Kultur in Vergangenheit und Gegenwart zu beurteilen und zu kritisieren:

Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, übers. v. Matthias Fienbork. Hamburg: Philo Fine Arts 2012 [EA: Aby Warburg. An Intellectual Biography. London: The Warburg Institute / University of London, 1970; dt.spr. EA: zuerst 1981 in der Europäischen Verlagsanstalt (Europäische Bibliothek Bd. 12)], S. 430f.

Der überlieferte Aby Warburg-Text bzw. -Vortrag endet also wie folgt, als Abb. 28 dürfte dazu Uncle Sam in San Francisco projiziert worden sein:

Den Überwinder des Schlangenkults und der Blitzfurcht, den Erben der Ureinwohner und gold-suchenden Verdränger des Indianers, konnte ich auf der Straße in San Francisco im Augenblicksbilde einfangen. Es ist Onkel Sam mit dem Zylinder, der voll Stolz vor einem nachgeahmten antiken Rundbau die Straße entlanggeht. Über seinem Zvlinder zieht sich der elektrische Draht. In dieser Kupferschlange Edisons hat er der Natur den Blitz entwunden.
Dem heutigen Amerikaner erregt die Klapperschlange keine Furcht mehr. Sie wird getötet, jedenfalls nicht göttlich verehrt. Was ihr entgegengesetzt wird, ist Ausrottung. Der im Draht gefangene Blitz, die gefangene Elektrizität, hat eine Kultur erzeugt, die mit dem Heidentum aufräumt. Was setzt sie an dessen Stelle? Die Naturgewalten nicht mehr im anthropomorphen oder biomorphen Umfang gesehen, sondern als unendliche Wellen, die unter dem Handdruck dem Menschen gehorchen.
Durch sie zerstört die Kultur des Maschinenzeitalters das, was sich die aus dem Mythos erwachsene Naturwissenschaft mühsam errang, den Andachtsraum, der sich in den Denkraum verwandelte.
Der moderne Prometheus und der moderne Ikarus, Franklin und die Gebrüder Wright, die das lenkbare Luftschiff erfunden haben, sind eben jene verhängnisvollen Ferngefühl-Zerstörer, die den Erdball wieder ins Chaos zurückzuführen drohen.
Telegramm und Telephon zerstören den Kosmos.
Das mythische und symbolische Denken schaffen im Kampf um die vergeistigte Verknüpfung zwischen Menschen und Umwelt den Raum als Andachtsraum oder Denkraum, den die elektrische Augenblicksverbindung raubt, falls nicht eine disziplinierte Humanität die Hemmung des Gewissens wieder einstellt.

In Gombrichs Buch findet sich das Zitat wie oben, S. 431f.; eine andere Publikation ist etwa: Aby M. Warburg: Schlangenritual. Ein Reisebericht. Mit einem Nachwort von Ulrich Raulff. Berlin: Wagenbach 1995 (EA 1988), S. 55f.

Ebenfalls in den 1920er Jahren entstand (und 1930 im ersten Band des Mann ohne Eigenschaften publiziert wurde) Musils 11. Kapitel, Der wichtigste Versuch. (Ich habe dieses gesondert kommentiert, cf. Peter Plener: Erstes Buch, Kapitel 11: Es war die Amsel und nicht die Nachtigall. In: Eine Art Einleitung. Hg. v. Roland Innerhofer, Maren Lickhardt, Peter Plener u. Burkhardt Wolf. Berlin: Vorwerk 8 2020 [Teilweise Musil. Kapitelkommentare zum Mann ohne Eigenschaften Bd. 1], S. 64–68.) Eine Ausschnitt davon ist hier zu finden. Zu lesen ist dann – neben der Mathematik, die »wie ein Dämon in alle Anwendungen unseres Lebens gefahren ist«, geht Musil im MoE immer wieder auf die Elektrizität ein – auch Kapitel 16, Solche Dinge begann man damals zu sehen (hier ebenfalls nur ausschnittsweise).

Auch Kafka hat hier, früher noch als Warburg und Musil, etwas beobachtet & zu formulieren versucht:

Die Menschheit […] hat, um möglichst das Gespenstische zwischen den Menschen auszuschalten und den natürlichen Verkehr, den Frieden der Seelen zu erreichen, die Eisenbahn, das Auto, den Aeroplan erfunden, aber es hilft nichts mehr, es sind offenbar Erfindungen, die schon im Absturz gemacht werden, die Gegenseite ist soviel ruhiger und stärker, sie hat nach der Post den Telegraphen erfunden, das Telephon, die Funkentelegraphie. Die Geister werden nicht verhungern, aber wir werden zugrundegehen.

F. Kafka → M. Jesenská, 03/1922

Die Briefstelle habe ich hier zu kommentieren versucht. Wir sind schon wieder im Bureau. Kafka – mit hereinnehmen ließe sich sein Prometheus von ca. 1918 – hat ebenso wie Musil jenes Ferngefühl aufzubringen vermocht (es war sogar lebensnotwendig), von dem Warburg spricht. (Alle drei hochgradig qualifizierte Verwaltungspraktiker, deren Handeln darin und theoretisches Wissen davon sich in ihren Schriften niederschlug und – so möchte man meinen; natürlich ein Irrtum – unüberlesbar ist.) In die Dinge, die Medien und den Raum (vom Andachtsraum zum Denkraum), wohl auch die Zeit, sind die Elektrizität und die Mathematik gefahren. Das hat viel mit dem Ersten Weltkrieg zur tun, aber nicht alles. In den Vorträgen, Romanen, Briefen und Akten die Gespenster und geraubten Küsse.


Querverweis: Nicht nur, aber auch um das mit Warburg weitaus klüger eingeordnet lesen zu können, empfiehlt sich Fabian Steinhauers wunderbarer Tumblr-Account Unter dem Gesetz.