Bauwelsch

»Die Stadt B.« – Nachlass: VII/1/52–54, VII/1/58–60 und VII/1/57

Zitate zum Vortrag »Vom Bauwelsch auf der B-Side. Die Stadt B. der Kapitelgruppen (1928); Ursprung des kakanischen Trauerspiels und ›Herd des Weltkriegs‹« (5. Juni 2021), im Rahmen Tagung Architektur erzählen. Es wird um ein Kapitel aus dem Nachlass Robert Musils gegangen sein (sofern nicht anders angegeben, sind die Zitate diesem demselben entnommen, vgl. Gesamtausgabe Bd. 6, hg. v. Walter Fanta, Jung & Jung 2018, S. 547–558):

Das beste Mittel gegen einen anzüglichen Mißbrauch dieses weltanschaulichen Werkzeugs ist es, an seine Theorie zu denken. Sie heißt Isolierung. Man sieht Dinge immer samt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsmäßig für das, was sie darin bedeuten. Heben sie sich aber einmal heraus, so sind sie schrecklich und unverständlich, wie es der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein muß, ehe sich die Erscheinungen aneinander und an uns gewöhnt hatten. Sie werden zwar auch deutlicher und größer unter dem Blick des Triëders, aber das ist nur eine Hilfe; vor allem werden sie ursprünglicher und bestialischer. 

Musil, Triedere [1926], in: GA 11, S. 120

Die geschilderte Stadt hatte also nicht nur die Ehre, der Geburtsort des friedliebenden Lyrikers Feuermaul zu sein, sondern man darf ihr auch nachrühmen, daß sie ein Herd des Weltkriegs war.

Es ist nicht üblich, in einer Dichtung von solchen Fragen in Zahlen zu sprechen, denn wenn es überhaupt geschieht, daß man die Politik berührt, so spricht man nur von ihren Leidenschaften; allein, am Grund der Leidenschaften ruhen sehr oft Zahlen, und besonders bei Politikern.

Mit anderen Worten, es war eine gute kakanische Stadt, und man sah es ihr auch an. 
Unter ihren zehn Klöstern waren manche Zeugen aus alter Zeit, am höchsten Punkt thronte ein Gefängnis; am zweithöchsten eine Bischofsresidenz, darunter hatten die Macht der Landstände und der Fleiß der Bürger manches Gebäude hinterlassen, das in der Sprache der Renaissance oder gar der Gotik dem Vorübereilenden ein Wort aus dem Grabe ins Ohr flüsterte. Merkwürdig, das wird ja anders werden; wenn dereinst unsere Stimmen von 1929 aus versenkten Grammophonplatten den im Jahre 2179 vorbeieilenden Menschen ins Ohr rufen werden, wie und namentlich was wir gesprochen haben, so werden die erschreckt zusammenzucken! Das optische Grammophon der Baukunst hatte trotz der aufgewandten Steinmassen diese Wirkung nicht erreicht. Wir haben uns niemals durch schöne alte Häuser abhalten lassen, sie zu benützen, so wie wir sind. Das hatte seine Ursache freilich auch darin, daß die alte Bausprache viel lebendiger erhalten geblieben ist als die alte Schriftsprache und Mundart, und wenn ein historisch unbefangener Mensch die gotische Jakobskirche sah mit ihrem Nadelturm oder vor den barocken Brunnen am Krautmarkt stand, so konnte er nur dadurch auf ihr Alter kommen, daß er eigens eines der neueren Häuser seiner Vaterstadt anblickte, in deren Schauseiten sich dem Fortschritt der Zeit entsprechend sowohl Gotik wie Barock wie Renaissance wie Romanik und Empire gemischt hatten. Unter den großen Städten Kakaniens hatte B. die zeitgemäßeste Architektur, ein reiches Bauwelsch, das die roten Türmchen, Dächerchen und schieferblauen Mansardendächer seiner Villen als Träger der Kultur in die Wälder hineinschob, die es auf einer Seite »umkränzten«.

Nun ist über die Ursachen sowohl des Kriegs wie der Eintracht, die seither am gleichen Orte zwei Völker friedlich vereint, die sich ehedem gehaßt haben, schon soviel Kluges und Wohlbegründetes verbreitet worden, daß die größte poetische Gabe, Dinge zu erzählen, die niemals gewesen sind, neben dem gleichen Talent der Wirklichkeitsmenschen erblassen mußte. Trotzdem haben Menschen damals in Kakanien gelebt, die noch heute, in der seither verbesserten Welt, leben; ja sie machen nach wie vor ihre Geschäfte oder reiten ihre Steckenpferde; dazwischen aber haben sie Weltgeschichte gemacht, sind einem Weltgericht unterworfen worden, das ihre Nationen hob und senkte, und es bleibt eine ungemein fesselnde, ja sogar eine eminent moralische Frage, wie man eigentlich zu so etwas kommt.

Dieses B. war um das Jahr 1890 herum, wo der junge Feuermaul geboren wurde, eine sonderbare Stadt. Um eine alte, häßliche, auf einem Berg liegende Festung herum, der Kasematten, die von der Mitte des 18. bis zu der des 19. Jahrhunderts als Staatsgefängnis gedient hatten und berüchtigt waren, lag ein alter, wenn auch längst vermauerter Stadtkern, von dem nicht allzu zeitgemäßen Geschäftsbetrieb wohlhabender Bürger erfüllt; um diesen Kern breiteten sich im Ring die Fabriksviertel, große, schmale, schmutzige Häuserschachteln mit unzähligen Fensterlöchern, aufgefädelt längs einiger gewundener, breiter, schlecht gehaltener Straßen und einem Gewirr von Nebengäßchen, hohe graue Kamine ragten als traurige Flaggenmaste darüber weg; und wo sich das ins Land verlor, begann unvermittelt schwarzbraune, fette, fruchtbare Erde, geduckte Dörfer, in einer Zeile die Landstraße begleitend und in den Farben des Regenbogens angestrichen, fremd reizvolles Bauernland, aus dem die Fabriken ihre Arbeiter, Männer und Frauen sogen, und weites Rübenland, das Großgrundbesitzern gehörte.

Eine solche nationale Leidenschaft nennt man Balkanisierung, und sie ist mit der Blutrache verwandt. Was aber Blutrache ist, erkennt man ausgezeichnet, wenn man sich vorstellt, daß man einen Mann, an dem man geschäftlich verdient, erdolchen müßte, weil ein Tunichtgut, mit dem man verwandt ist, von einem Tunichtgut, mit dem er verwandt ist, beleidigt worden ist. Das wäre ja zum Lachen, und so kommt Blutrache nur von dem Mangel an Geschäftsverbindungen, nationaler Geist aber ebenfalls. Den Mangel natürlicher Beziehungen vertreten augenblicklich Ideengespenster, von deren vampyrhaftem Herumfliegen in der heutigen Luft ja schon oftmals die Rede war.

Dies Mittel, die sogenannte Zeitlupe, wird bisher noch fast ausschließlich für den Kunstfilm verwendet, um den Ablauf schneller Bewegungen in ihren Einzelphasen zu zeigen. […] Für künstlerische Zwecke wurde die Zeitlupe bisher noch kaum verwendet, und doch ist sie dafür höchst brauchbar, weil sie erstens dazu dienen kann, die groteske Verlangsamung natürlicher Bewegungen zu zeigen, zweitens aber auch neue Bewegungen schaffen kann, die gar nicht al Verlangsamungen schneller Bewegungen, sondern als eigentümlich gleitende, schwebende, überirdische wirken. Für Halluzinationen und Gespenster müßte sich die Zeitlupe wundervoll verwenden lassen.

Rudolf Arnheim: Film als Kunst, 1932

Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwi ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen. Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung. Und so wenig es bei der Vergrößerung sich um eine bloße Verdeutlichung dessen handelt, was man »ohnehin« undeutlich sieht, sondern vielmehr völlig neue Strukturbildungen der Materie zum Vorschein kommen, so wenig bringt die Zeitlupe nur bekannte Bewegungsmotive zum Vorschein, sondern sie entdeckt in diesen bekannten ganz unbekannte, »die gar nicht als Verlangsamungen schneller Bewegungen sondern als eigentümlich gleitende, schwebende, überirdische wirken.«

Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1935

Zeitlupenaufnahmen tauchen unter die bewegte Oberfläche, und es ist ihr Zauber, daß sich der Zuschauer zwischen den Dingen des Lebens gleichsam mit offenen Augen unter Wasser umherschwimmen sieht. Das hat der Film volkstümlich gemacht; aber es ist schon lange vor ihm auf eine Weise zu erleben gewesen, die sich noch heutigentags durch ihre Bequemlichkeit empfiehlt: indem man nämlich durch ein Fernrohr etwas betrachtet, das man sonst nicht durch ein Fernrohr ansieht. […] Das beste Mittel gegen einen anzüglichen Mißbrauch dieses weltanschaulichen Werkzeugs ist es, an seine Theorie zu denken. Sie heißt Isolierung. Man sieht Dinge immer mitsamt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsmäßig für das, was sie darin bedeuten. Treten sie aber einmal heraus, so sind sie unverständlich und schrecklich, wie es der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein mag, ehe sich die Erscheinungen aneinander und an uns gewöhnt hatten.

Robert Musil: Triëdere [1935], in GA 8, S. 475 & 478f.