Noch sind wir im 19. Jahrhundert, das (mit Hobsbawm gesprochen) ein äußerst langes gewesen sein soll. Während Vernetzung und Universalsprache unmittelbar einsichtig scheinen wenn es um eine kleine Vorgeschichte der Digitalisierung gehen mag, werden zumindest zwei Aspekte etwas abseits davon gehandelt, ohne dass die Wechselwirkung als solche bedacht wird: die Entwicklung der Bildproduktion und die der Fließbandproduktion. Letztere wird mit der Robotik und Prothetik sich zusammendenken und an die Rechnereinheiten schließen lassen, erstere eine bedeutungstragende Rolle für alternative Anschauungsmuster und insgesamt Medienverbundmaschinen (bis hin zu den Geistererscheinungsbedürfnisanlagen der Sozialen Medien heute) spielen.
Was im 19. Jahrhundert möglich wird, sind wesentlich die Immersionseffekte der Bildkonsumation, wie sie mittels Panoramen und Dioramen erzielt werden können. Die Photographien kommen ins Bild und die Diskussion der Echtheit respektive der Manipulation sind die beiden ab diesem Moment untrennbar verbundenen Nebeneffekte. Dass die Bilder sich schließlich auch noch bewegen (bevor sie knapp 30 Jahre später auch einen Originalkopie-Ton verpasst bekommen und die gesprochene Sprache ab nun weitaus aufwendiger synchronisiert als zuvor bei den Inserts lediglich übersetzt werden muss, da sie universellere Körpersprache an Attraktivität und Bedeutung verliert, wenn die zauberhafte Öffnung von Tonspeichern unmittelbarere Anklangsnerven trifft …; dies sei nur en passant eingetragen), trug zur Kapitalisierung des Ganzen nicht unwesentlich bei. Wie bei den Weltausstellungen ab Mitte des 19. Jahrhunderts geht es auch hierin um eine Idee der Erfahrung von Welt und ihrer Inbesitznahme.
Währenddessen kommt es tatsächlich zur zunehmenden Ausradierung der weißen Flecken von den Landkarten (das Weiß ist nicht nur die ›Farbe‹ des einen Wals, sondern an sich eine der Unbeschreibbarkeit und mithin des Schreckens); die einstigen Entdeckungsfahrten mit ihren waghalsigen Pionieren zu Wasser und zu Land (Meerschäumer und Landtreter eines Sinns) mutieren nun zu Erzählsträngen der Literatur, wissenschaftlichen Kartographierungsunternehmungen und in die Tat umgesetzten Kolonialisierungsavancen. Das Geschäft wandelt sich, wird ausdifferenziert und unter Effiziendruck gesetzt. Zumindest verwiesen sei hier auch auf den zunehmend systematisierten Walfang. Denn das Licht war mit dem Wal in die Welt geschwommen, man hatte ihm nur das seine möglichst umfassend ausknipsen müssen. Beinahe wäre das umfassend gelungen, da entdeckte man eine Möglichkeit, wie sich in noch viel größerem und effizienterem Maße fossile Brennstoffe in die Atmosphäre abfeuern ließen. (Obendrein eher risikobefreit, denn von den großen Waljagden kamen nicht immer alle Schiffe zurück. Liest man.) Hier im Walfang findet man zum ersten Mal eine umfassende arbeitsteilige Kinetik – eine dissassembly line an Bord (um den Wal abzuflensen und alles an ihm in möglichst kurzer Zeit zu verarbeiten, was hier verwertbar schien) und später in den Schlachthöfen als Vorlauf für die assembly line der Fließbänder, akkompagniert von den notwendigerweise einzurichtenden Optimierungsfotografien Muybridges et al.: erst aus einer Systematisierung von Zerlegung und Verwertung entsteht jene im Zusammenbau zwecks beschleunigter Kapitalisierung; was dem einen die Symbolfarbe Weiß ist (Moby-Dick), ist dem anderen die Symbolfarbe Japan Black (Ford).
Es erscheint von bestehender Folgerichtigkeit, dass nun an einem der vielen Kreuzungspunkte dieser Geschichten, Jahrzehnte vor Freuds Apostrophierung des Menschen als »Prothesengott« und noch ein weiteres Stück mehr vor McLuhans Nachdenken über die Prothetik, Ernst Kapp (1808-1896) Nervensysteme, Eisenbahnen, Vernetzung in seinen Grundlinien einer Philosophie der Technik von 1877 zusammenführt. Damit erhält die Technik zusätzliche philosophische – und durchaus auch körperbezogen zu verstehende – Komponenten. Er verglich diese Verbindungslinien im Sinne seiner Prothesentheorie, als Organprojektion, mit Nervenbahnen wie Blutgefäßen – und so besehen lag es auch nahe, dass er einen einschlägigen Zusammenhang von Bewegungen festhielt: »Die machinale Kinematik ist die unbewusste Übertragung der organischen Kinese ins Mechanische […]«. Wie bewusst oder unbewusst die Übertragung auch einzustufen sein mag, wird doch deutlich, dass an das Empfinden einer außerordentlichen Unmittelbarkeit zu denken ist, und so »folgte der Eisenbahn auf dem Fuße – auf der Schiene – der elektrische Telegraf. [/] Seine Vergleichung mit der Funktion des Nervensystems gilt als selbstverständlich.«
(Und: Gerade in den medial-prothetischen Darstellungen der neuesten Prothesen für Versehrte werden sich im 20. Jahrhundert alle kriegführenden Mächte unter dem Signum des »Fortschritts« zu überbieten suchen. Nie zuvor war die scheinbar problemlose Ersetzbarkeit von Körpergliedern Gegenstand einer derart offensiven, breit angelegten Darstellung in Anzeigen, schriftlichen Ausfertigungen, Plakaten, Zeitungsfotos wie Filmen. So wie die Versehrten braucht auch das Informationssystem des militärisch-industriellen Komplexes seine Prothesen.)
Jetzt braucht es noch ein bisschen Ordnung. All diese Neuheiten müssen in einen Zusammenhang gebracht werden (währenddessen wird, so Kittler, gerade im 19. Jahrhundert deutlich, wie sehr sich durch die Anwendung unterschiedlicher Aufschreibsysteme und medialer Anwendungsformen an sich die textuellen Produktionen basal verändern und die Konsumationsformen von neuen Begehrlichkeiten getragen werden; es ist davon auszugehen, dass zumindest so eindrucksvoll sich das mit den Bildmedien des 19. Jahrhunderts belegen lässt, die andere wie das Theater oder Singspiele mit sich reißen [werden]). Einen, der im Foucaultschen Sinne massenhaft Sinn macht. For the few, not the many; sozusagen. Da macht es meistens (damals ganz bestimmt) Sinn, sich deutscher Ingenieurskunst zu bedienen. Wie 1890, als Herman Hollerith und der amerikanische Zensus zusammenfanden: seine Maschinen ›übersetzten‹ die Lochkarten in elektrische Impulse, die verschaltet mechanische Zähler triggerten. So, ein wenig sehr verkürzend, wie die Zahnräder die Filmrollen transportierten, nur eben mit Zählmechaniken dahinter und entsprechend geschalteten Operatoren. Es war jedenfalls einfach; jetzt: 1896 wurde die Tabulating Machine Company gegründet, später Computing Tabulating Recording Company genannt (Geschäftsführer war Thomas J. Watson, der dem Erdball bis heute die Geschichte von den 5 weltweit benötigten Computern vermachte – dabei war das nur folgerichtig, denn die Firma vermietete ihre Rechenmaschinen; bis zu 43 Maschinen: mehr brauchte wirklich niemand) – 1924 International Business Machines (IBM).
Währenddessen gab es einen deutschen Spin off (und die Geschichte der Spinnereien und Webereien, der Webstühle, der mechanisierten Werkbänke mit den sausenden Schiffchen, dem wiederholten Schuss, den Sozialrevolutionen, den Lochkarten, den immobilen Fließbändern an einem Ort wird noch einzuweben sein), der ab 1910 die Deutsche Hollerith Maschinen Gesellschaft (DEHOMAG) war und 1933 sowie 1939 Volkszählungen durchführte, auf deren Basis dann systematisierter Massenmord und Raub möglich wurden. Die Zahlenlogik der KZs und der Tätowierungen werden – nachvollziehbar (worauf Martin Burckhardt für den Merkurhinwies) – nicht zuletzt auf dem Prinzip auch der Hollerithschen Zählkarten beruhen. Dafür bedarf es jedoch neben den technischen Schritten und Entwicklungen auch einer Zusammenführung und Weiterentwicklung von Gedankengängen (nebst Mordabsichten).
Soweit sind wir noch nicht (ganz). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Hat sich die Elektrifizierung hat als Antriebsprinzip für Unmittelbarkeit durchgesetzt, die Nachfrage nach neuer Echtzeit wurde entwickelt, neue Produktionsformen sind im Anrollen. Die Bilder haben laufen gelernt, die Waren- umspannt die ganze (kolonialisierte) Welt, Öl und Kohle helfen die Zeichen der neuen Zeit in den Himmel zu malen (durch den für viele unsichtbar die Freunde der Fährnis ihre Bahn ziehen). Die Kontinente werden von Dampfschiffen zusammengehalten, manche Flugapparate wollen starten, Telegrafenleitungen schnüren die Vorformen eines globalen Dorfs zusammen. Erste Theorien der Vernetzung und Digitalisierung wurden erarbeitet und umgesetzt. Kapital ist in bis dahin nicht vorstellbarem Ausmaß akkumuliert. Was fehlt ist die gewaltsame Zusammenführung all dessen und ein Markt zur laufenden Rekapitalisierung. Trotz aller anderen Voraussetzungen: Ohne Krieg wird das nicht zu schaffen sein.