Das Buch; oder Das Gesetz der Serie

Das Buch stellt sich als materiell fassbares Resultat einer Produktion dar und bedarf gleich welcher Gestaltung auch immer einiger der folgenden seriellen Merkmale, um tatsächlich kenntlich und benennbar zu werden: Seitennummerierung, dadurch und vermittels der Bindung eine feste Seitenabfolge, bei autobiografischen Textsorten kommen im Sinne sortierter Folgen die Datumsangaben hinzu (die zusätzlich das chronologische Maß hineinbringen). Sind weitere Inhalte (Schrift, Druckbild) gegeben – verlaufen diese von links nach rechts oder von rechts nach links, von oben nach unten – verstärken sie auf Grund zwingender Vorgaben (d.h. Ordnungsrufe) der Abrufbarkeit und grundsätzlich Verstehbarkeit den dem Buch fest eingeschriebenen Charakter des Ablaufs an sich. (Ein scheinbares Gegenbeispiel wie etwa Franz Kafkas diaristische Nutzung seiner Notizbücher widerspricht dem nicht, denn die Abfolge der Zeichen erfolgt dann eben in kleineren Ordnungseinheiten – Absatz für Absatz, Satz für Satz, mittels des Datumseintrags Zusammengehörendes etc.; das Notizbuch enthält in sich die Verweissysteme und bindet diese zusammen.)

Es geht beim Buch um eine mehrfach ausgewiesene Form der Abfolge (bzw. um Verschränkungen, denkt man etwa daran, wie Arno Schmidt seine Parallelitäten in »Zettels Traum« organisiert). Dieses Prinzip geben die Erfordernissen der Reproduktion vor und u.a. daraus leitet sich die Serie ab.

Die Serie im bewegten Bild ist heute die neue Erzählform dessen, was bis vor kurzem noch das Kino zu leisten sich anheischig machte. Aus unterschiedlichen Gründen stellte sich mit Ende des 20. und Beginn des 21. Jahrhunderts eine neue narrative Form auf den Bildschirmen ein, die bis dahin v.a. in Comic-Heften, Fortsetzungsromanen, im Kitsch, in der Trivialkunst sowie in der Bildenden Kunst und ihren Ausprägungen vielfache Aufmerksamkeit und großen Erfolg erfahren hatte. Zugespitzt ließe sich sagen: Was die Telenovela vorbereitete, ist heute das große Heimkino der Feuilletonisten. Doch wie bei allen medialen Wandlungen gilt der Grundsatz, dass nie eine vollständige Ablöse gegeben ist, sondern es vielmehr eine Aufnahme des Vorangegangenen ins Erscheinungsbild und in die Wirkungsformen des Nachfolgenden festzustellen gilt. Die längeren Erzählstrecken, die Inanspruchnahme großer narrativer Bögen, die neue Dialogizität und Komplexität der Serien hat ihren Ursprung in der erfolgsorientierten Vorgabe und ist wesentlich Ausfluss einer Strategie. Auf der Metaebene wird stets davon gehandelt, wie und zu welchem Zweck sie geplant und gebaut wurde. Es gibt ein Fabrikationsmuster, einen formalen Bezugsrahmen für die noch so divergent scheinen wollende Vielfalt und damit ein Verweismuster (auch in »Twin Peaks«).

Dies ist auch dann der Fall, wenn es mitunter notwendig ist, eine Leerstelle aus Eigenem zu überbrücken, den spectator in seria zu geben – denn bei allen Vorleistungen des Seriellen hat die Serie an sich neben dem Referenzrahmen auch noch etwas zu bieten, das sich als »Entwicklung« bezeichnen lässt (wie beim Fortsetzungsroman und formal analog zu den abfolgenden Kapiteleinheiten). An diesem Punkt der Rezeption kommen somit das maschinell Serielle und die individuelle Lesart zusammen und ist die Wahrung einer Gesamtsicht möglich. Das ist beim Buch nicht anders. So wie die Bögen dereinst der Kustoden bedurften, damit die richtigen Seiten sich finden und binden lassen, so bedurfte und bedarf es des lector in fabula, der aus der seriellen Abfolge sich einen Reim zu machen versteht.

Entscheidend ist auch, dass sich das Buch über die Bücher bestimmt, in sich bereits den Plural trägt. Edmond Jabés spitzt das noch nach innen hin zu: »Das Buch vervielfacht das Buch«. Das ließe sich auch äußerlich konstatieren: Das Buch ist in seiner medialen Bedingtheit dem Gesetz der Serialität, der Reihung, verpflichtet. (Für den europäisch dominierten Kulturraum spätestens seit Gutenberg, wiewohl es die Tendenz der Vervielfältigung schon zuvor gab: Das war die unzweifelhaft große Leistung des Mannes, von dem noch nicht einmal das Geburtsjahr als gesichert gilt, dies war die Initialzündung: Die Zerlegung des Textes in alle Einzelelemente, die Kombination von Typenguss und Hochdruck sowie vermittels der Optimierung der zahlreichen Einzelkomponenten die Verfeinerung des Gesamtsystems; wobei mit Johann Fust und Peter Schöffer zwei weitere wichtige Personen am Beginn der Entwicklung stehen.) Anders formuliert: Das Buch bedarf, wie man es auch dreht und wendet und durchblättert, seit seiner Einführung im Sinne der Verbreitung von Erzählung und Lehre, der Kopien seiner selbst und zugleich der Ordnung in sich. Der ökonomische Imperativ zur billigen Massenproduktion kann insofern problemlos umgesetzt werden, als dieser auf einer kulturellen Bedürfnislage fußt und die Einrichtung eines stabilen Systems der Handhabung erfordert.

Natürlich wurden bereits Schriftrollen kopiert und wurde mit diesen Abschriften gehandelt (etwas spezieller war die Art und Weise, wie die Bibliothek von Alexandria im Altertum exponentiellen Zuwachs erfuhr). Aber gegenüber der Rolle ist das Buch mit seinem äußerlich-formalen Anspruch auf Vollständigkeit – und natürlich unter Berücksichtigung kultureller Umbrüche und den sich daraus ergebenden Notwendigkeiten, Beweislast schriftlich tragen zu können – noch viel deutlicher ein die Aufforderung zur Kopie in sich tragender Gegenstand.

Das Buch, das die Schriftenrolle ablöst, zeigt mit seinem Erscheinen auf der medialen Bühne (noch vor den beweglichen Lettern Gutenbergs im 15. und noch vor denen des koreanischen »Jikji Simche Yogol« aus dem 14. Jahrhundert, auch noch vor den chinesischen Hochdruckverfahren um 1040) auch das Einsetzen einer neuen Weltordnung an: Nicht mehr der als unendlich zu denkende Text der Rolle (deren revolutionärer Nachfahre die amerikanische Unabhängigkeitserklärung gewesen ist, deren armer, proletarisch vor sich hin hämmernder Nachkomme ein Nadeldrucker mit Endlospapier war und deren reicher, schillernder Erbe nun das E-Book sein will), dessen und deren Verweiskraft immer auf etwas anderes, außerhalb Befindliches (und gerne auch: Höheres) hin orientiert ist, sondern das nunmehr eindeutig und auf einen Blick wie Griff mit einem Anfang und einem Ende versehene Buch liegt nun im Mittelpunkt. Die Verweiskraft ist bereits optisch wie haptisch eine ganz andere, ist nach innen gerichtet, nunmehr wird nicht mehr angerufen und es wird nicht mehr verkündet – denn das, was es zu sagen gibt, ist zwischen den Buchdeckeln und also auf den unwiderruflich aneinandergereihten Seiten zu finden. So lautet das totale Versprechen des Buches an sich. (Und kam das Alte Testament, der Logos, nicht von Gott? Gibt nicht der 2. Vers der 2. Sure des Korans eindeutig Auskunft?)

Wenn die Einheit von Wort und Ding als Beziehungsgefüge sich ansehen lässt, so dürfte die Rede vom Buch und den Büchern kontinuierlich auch eine Beziehungskrise mit verhandeln, die an der Unvereinbarkeit von Metapher und Materialität sich abzuarbeiten beliebt. Denn selten wird so strikt zwischen Buchtext und Buchform unterschieden, wie es die Versuche anstellen, den Gegenstand des Buches an sich zu vermitteln. Dies rührt wohl auch aus den Schwierigkeiten her, dass vom Text zu reden stets die Gefahr mit sich bringt, darüber das Trägermedium außer Acht zu lassen. Und sind es nicht auch zu viele Texte, steht nicht die Aporie der Unüberschaubarkeit selten so deutlich einem vor Augen wie diesfalls?

Aber weder eine textgebundene Zuschreibbarkeit noch eine eindeutig sich gebende Buchform reichten für sich genommen aus. Stets geht es um die Einheit, ungeachtet dessen, dass diese nicht konsequent beachtet wird: sie ist jedoch der von jahrhundertelang eingeübten kulturellen Praktiken her abgeleitete Sinn dessen, was als ›Buch‹ zu betrachten so selbstverständlich zu sein scheint.

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