Der Prozeß ohne Gesetz

Johann Peter Hebel: Der Prozeß ohne Gesetz. In: Ders.: Gesammelte Werke Bd. 3: Kalenderbeiträge 1903 bis 1819. Hg. v. Jan Knopf, Franz Littmann u. Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Göttingen: Wallstein 2019, S. 335–337.

Nur weil es unter allen Ständen einfältige Leute gibt, gibt es solche auch unter dem achtungswerthen Bauernstand, sonst wär es nicht nöthig. Ein solcher schob eines Morgens einen schwarzen Rettig und ein Stück Brod in die Tasche, und »Frau«, sagte er, »gib Acht zum Haus, ich gehe jezt in die Stadt.« Unterwegs sagte er von Zeit zu Zeit: »dich will ich bekommen. Mit dir will ich fertig werden«, und nahm allemal eine Prise darauf, als wenn er den Taback meinte, mit ihm woll er fertig werden; er meinte aber seinen Schwager, den Oelmüller. In der Stadt gieng er gerades Wegs zu einem Advokaten und erzählte ihm, was er für einen Streit habe, mit seinem Schwager, wegen einem Stück Reben im untern Berg, und wie einmal der Schwed am Rhein gewesen sey, und seine Voreltern drauf ins Land gekommen seyen, der Schwager aber sey von Enzberg im Wirtembergischen, und der Herr Advokat soll jetzt so gut seyn und einen Prozeß daraus machen. Der Advokat mit einer Tabackspfeife im Mund, sie rauchen fast alle, that gewaltige Züge voll Rauch, und es gab lauter schwebende Ringlein in der Luft, der Adjunkt kann auch machen. Dabei war er aber ein aufrichtiger Mann, als Rechtsfreund und Rechtsbeistand natürlich. »Guter Mann«, sagte er, [»]wenns so ist, wie Ihr mir da vortragt, den Prozess könnt ihr nicht gewinnen«, und holte ihm vom Schaft das Landrecht hinter einem porzellinen Tabackstopf hervor. »Seht da« schlug er ihm auf, »Capitel so und so viel Numero Vier, das Gesetz spricht gegen Euch unverrichteter Sachen.« Indem klopft jemand an der Thüre, und tritt herein, und ob er einen Zwerchsack über die Schulter hängen hatte und etwas drinn, genug der Advokat geht mit ihm in die Kammer abseits. »Ich komm gleich wieder zu euch.« Unterdessen riß der Bauersmann das Blatt aus dem Landrecht, worauf das Gesetz stand, drückte es geschwind in die Tasche und legte das Buch wieder zusammen. Als er wieder bei dem Advokaten allein war, stellt er den rechten Fuß ein wenig vor, und schlotterte mit dem Knie ein paarmal ein- und auswärts, theils weil es dortzuland zum guten Vortrag gehört, theils damit der Advokat etwas sollte klingeln hören oben in der Tasche. »Ihr Gnaden«, sagte er zu dem Advokaten, »ich hab mich unterdessen besonnen. Ich meine, ich wills doch probieren, wenn Sie sich der Sache annehmen wollten«, und machte ein verschlagenes Gesicht dazu, als wenn er noch etwas wüßte, und sagen wollte: Es kann nicht fehlen. Der Advokat sagte: »Ich habe aufrichtig mit euch gesprochen, und euch klaren Wein geschenkt«; der Bauersmann schaute unwillkührlich auf den Tisch, aber er sah keinen. »Wenn ihrs wollt drauf ankommen lassen«, fuhr der Advokat fort, »so kommts mir auch nicht drauf an.« Der Bauersmann sagte: »Es wird nicht alles gefehlt seyn.«
Kurz, der Prozeß wird anhängig und der Advokat brauchte das Landrecht nicht mehr weiters dazu, weil er das Gesetz auswendig wußte, wie alle. Item was geschieht? Der Gegenpart hatte einen saumseligen Advokaten, der Advokat verabsäumt einen Termin, und unser Bauersmann gewinnt den Prozeß. Als ihm nun der Advokat den Spruch publizirte, »aber nicht wahr«, sagte der Advokat, »diesen schlechten Rechtshandel hab ich gut für euch geführt«? – »Den Gukuk hat er«, erwiederte der Bauersmann und zog das ausgerissene Blatt wieder aus der Tasche hervor, »Sieht er da«. Kann er gedruckt lesen?« Wenn Ich nicht das Gesetz aus dem Landrecht gerissen hätte, Er hätt’ den Prozeß lang verlohren. Denn er meinte, wirklich, der Prozeß sey dadurch zu seinem Vortheil ausgefallen, daß er das gefährliche Gesetz aus dem Landrecht gerissen hatte, und auf dem Heimweg, so oft er eine Prise nahm, machte er allemal ein pfiffiges Gesicht und sagte: »Mit dir bin ich fertig worden, Oelmüller«.
Item. So können Prozesse gewonnen werden. Wohl dem, der keinen zu verlieren hat.

Hebels Quelle ist (entspr. Anm. d. Hg.): Der junge Antihypochondriakus oder etwas zur Erschütterung des Zwerchfells und zur Beförderung der Verdauung, Lindenstadt 1803.

Bei aller scheinbaren Unzuverlässigkeit der Kommasetzung ist doch bemerkenswert, dass in ebendiesem Band der Kommentierten Lese- und Studienausgabe nun steht: Wenn Ich nicht das Gesetz aus dem Landrecht gerissen hätte, Er hätt’ den Prozeß lang verlohren. – der Satz ohne Anführungszeichen, d.h. nicht als Teil des an sich beschreibenswerten Dialogs, mithin wertbar als eine Aussage des (Ich; Großschreibung!) Verfassers respektive Erzählers, der hier aktiv in die von ihm ausgefeilte Handlung eingreift. Indem zudem und folglich unbestimmt Er angesprochen wird (was der Bauer sonst gegenüber dem Rechtsanwalt nicht tut), winkt sozusagen Hebel zwischen den Zeilen mit dem Zaunpfahl hervor. (Der Autor, ein rheinländischer Hausfreund, vermag wahrscheinlich sogar dies, wenn er denn will.) Zu annotieren bleibt fernerhin, dass hier natürlich der Witz mit dem gedruckten Gesetz gegeben wird, da der Bauer übersieht, dass ein gedrucktes Buch stets auch eine Kopie ist. Ein gedrucktes Buch kommt selten allein.


Cf. für einen möglichen Zshg. mit Kafka (wiewohl nicht bis ins Letzte überzeugend):
Cornelia Vismann: Von der Poesie im Recht oder vom Recht in der Dichtung – Franz Kafka und Johann Peter Hebel. In: Fremdheit und Vertrautheit. Hermeneutik im europäischen Kontext, hg. v. Rainer Enskat u. Hendrik J. Adriaanse. Leuven: Peeters 2000, S. 275–282. [NB: ad Hebel nur die letzten zwei Seiten!]