Wiener Lochung

Der in der Folge wiedergegebene Beitrag »Mit der Stoppuhr hinter dem Schaffner« aus 1923, von August Winter, wurde ursprünglich in der »Taylor-Zeitschrift, Monatschrift für wissenschaftliche Betriebsführung und rationelle Wirtschaft mit besonderer Berücksichtigung des Taylor-Systems« (Verlag R. Lotties in Wien, XIII—2, Penzingerstraße Nr. 30) publiziert. Ho. wird er nach dem Wiederabdruck in »Der Straßenbahner. Organ zur Wahrung und Förderung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen der Straßenbahner Wiens« (Nr. 12 v. 11. August 1923, S. 1–3), einer Schrift mit dem »Motto: Aussprechen, was ist!« bereits auf der ersten Seite, zitiert. Das Blatt stand im Eigentum des Vereins »Organisation der Straßenbahner Wiens« (Obmann: Karl Babiniec, Wien, X. Erlachgasse 129), als verantwortlicher Redakteur wird Karl Babiniec, Wien X., angegeben. (Therese Garstenauer machte in ihrem Beitrag zur Tagung über Moderne Bürokratie und Innovation auf diese bemerkenswerte Abhandlung aufmerksam.)
Bewahrenswert ist diese Zusammenfassung von »Zeitstudien bei der Ausgabe von Straßenbahn-Fahrscheinen« nicht allein wegen der skurril anmutenden Anwendung Tayloristischer Methoden (die mehr als 100 Jahre später offensichtlich nichts an Attraktivität für Diskussionen zur Zeitersparnis durch Robotik-Einsatz etwa in der Lagerhaus- und Versandhandel-Logistik verloren haben), sondern auch als Quelle zur Kulturtechnik der Manipulation von Fahrscheinen durch die Schaffner – man beachte das »Wörtchen ›bitte‹« –, zur Stanzung/Lochung an sich und unterschiedlichen Normierung des je vorgesehenen Arbeitsgeräts respektive der zur Lochung durch Menschenhand vorgesehenen Karte sowieso. (& gewiss sind auch die Angaben zum Tarifsystem von Interessen für das p.t. Publikum.)

Mit der Stoppuhr hinter dem Schaffner. Zeitstudien bei der Ausgabe von Straßenbahn-Fahrscheinen.
Von Ing. August Winter, Ober-Inspektor der Wiener städtischen Straßenbahnen.

Die Zerlegung von Arbeitsleistungen in Verbindung mit Zeitstudien haben auf verschiedenen Gebieten interessante Aufschlüsse gebracht. Diese Methode wurde mit Erfolg auch zur Beantwortung einiger Fragen verwendet, die für die Fahrscheinausgahe in einem großen Straßenbahnbetriebe von Bedeutung sind.

In Wien sind die Straßenbahnwagen zu gewissen Zeiten dicht mit Fahrgästen besetzt und es wurden deshalb schon im Jahre 1919 zur Erleichterung der Fahrscheinausgabe sogenannte Vorverkaufs-Fahrscheine eingeführt, bei denen die Geldgebarung für den Schaffner vollkommen wegfällt. Insgesamt verausgaben die Schaffner aber noch immer doppelt soviel Fahrscheine, als im Vorverkauf gelöst werden.

Es sollte nun festgestellt werden, in welchem Ausmaße die Behandlung der Vorverkaufs-Fahrscheine zeitsparender ist, als die Gebarung mit den Fahrscheinen des Schaffners. Außerdem sollte die Behauptung überprüft werden, daß der Schaffner durch gleichzeitiges Lochen mehrerer Fahrscheine seiner Ausrüstung nicht mehr Zeit benötige, als zur Behandlung der gleichen Anzahl Vorverkaufs-Fahrscheine. Zu diesem Zweck wurden auf den Wagen während des Betriebes viele Hunderte von Zeitstudien durchgeführt und dabei die Dauer der einzelnen Arbeitsabschnitte mit der Stoppuhr gemessen. In Gruppen zusammengefaßt ergeben sich folgende Zeiten:

Der Straßenbahner. Organ zur Wahrung und Förderung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen der Straßenbahner Wiens. Nr. 12 v. 11. August 1923, S. 2

Daraus ergaben sich folgende Feststellungen:

1. Die Behandlung eines vom Schaffner verausgabten Fahrscheines einschließlich der Geldgebarung erfordert doppelt soviel Zeit als die Behandlung der Vorverkaufs-Fahrscheine durch den Schaffner.

2. Die Geldgebarung nimmt die Hälfte der Zeit für die Gesamtbehandlung eines Fahrscheines in Anspruch, die eigentliche Lochung weniger als ein Drittel. Dabei ist es selbstverständlich nicht gleichgültig, ob für das Fahrgeld eine passende Geldnote vorhanden ist oder das Zusammenlegen kleinerer Noten sowie häufiges Wechseln erforderlich ist. Alle Zeiten beziehen sich auf den 1500 Kronen-Fahrpreis, der nicht so günstig ist, wie seinerzeit der 1000 Kronen-Fahrpreis oder der 2000 Kronen-Abendfahrpreis. Der Einfluß der Geldnote ist so weitgehend, daß beim Abendtarif die für die Geldgebarung erforderliche Zeit auf die Hälfte des Tagesfahrscheines sinkt.

Um die Zweckmäßigkeit des gleichzeitigen Lochens mehrerer Fahrscheine zu erkennen, wurden Päckchen zu 5 Stück Fahrscheinen gemeinsam vom Block abgetrennt, gelocht und an die Fahrgäste verabfolgt. Es ergibt sich für einen Fahrschein einschließlich der gesamten Geldgebarung eine Zeitdauer von 13•3 Sekunden, also um die Hälfte mehr als beim Vorverkaufs-Fahrschein. Diese Zeit läßt sich annähernd auch aus den früher erwähnten Teilarbeitszeiten errechnen. Es ist somit nicht möglich, auf diese Art den Vorteil der Vorverkaufs-Fahrscheine wettzumachen. Außerdem ist es auch mit Rücksicht auf die Teilstreckengrenzen und die Unsicherheit des Bedarfes nicht immer möglich, 5 Fahrscheine auf einmal zu lochen. Mehr Fahrscheine auf einmal zu lochen, ist schon wegen der Unsicherheit der Lochung ausgeschlossen.

Abgesehen von den Zeitunterschieden, die auf das langsame oder rasche Arbeiten je nach der Eigenart verschiedener Schaffner zurückzuführen sind, zeigen sich auch auffällige Abweichungen in der für die Geldgebarung nötigen Zeit bei gleichwertigen Arbeitern. Die Ursache liegt in der Art der Verwahrung des übernommenen Geldes. Eine Gruppe von Schaffnern pflegt die Geldnoten sofort in die Schaffnertasche zu stecken, woraus auch das Wechselgeld entnommen wird; ein Teil behält die Hundertkronen-Noten in der linken Hand unter dem Fahrscheinblock und versorgt nur die Tausendkronen-Noten in der Tasche; andere wieder sammeln alle vereinnahmten Geldnoten in der Hand und verwahren sie erst in einem geeigneten Augenblick in der Schaffnertasche. Da der Tagesfahrpreis von 1500 Kronen beim Schaffner — im Vorverkauf kostete es nur 1440 Kronen — vielfach mit einem Tausender und 5 Stück Hundertkronen-Noten bezahlt wurde, richteten sich manche Schaffner darauf ein, diese 500 Kronen als vorbereitetes Päckchen den Fahrgästen beim Wechseln größerer Geldnoten auszufolgen. Durch diese verschiedene Arbeitsweise wird die für die Geldgebarung erforderliche Zeit wesentlich beeinflußt und bei der zweiten Gruppe um 16 Prozent, bei der dritten Gruppe um 39 Prozent vermindert. Dadurch verringert sich auch die für das gleichzeitige Lochen mehrerer Fahrscheine benötigte Zeit; ohne aber die kurze Zeit der Gebarung des Vorverkaufs-Fahrscheines erreichen zu können. Alles bisher Ausgeführte bezieht sich auf den einfachen Fahrschein.

Nun gibt es aber auch ermäßigte Vorverkaufs-Fahrscheine für die Hin- und Rückfahrt; es war auffällig, daß zu deren Lochung um ungefähr eine Sekunde mehr Zeit als für einfache benötigt wurde, wenn sie erstmalig in der Fahrtrichtung zur Stadt — der: häufigste Fall — benützt wurden, trotzdem auch sie dabei wie die einfachen dreimal gelocht werden müssen. Die Ursache des langsameren Arbeitens liegt in der um 14 Millimeter größeren Breite des Vorverkaufs-Fahrscheines für die Hin- und Rückfahrt. Die Maulweite der Lochzange ist nicht ausreichend und der Schaffner, der die linke Randspalte lochen muß, dreht den Fahrschein. Schiebt er aber die Zange von rechts wie gewöhnlich über den Fahrschein, so muß er ihn zur Erreichung dieser entfernter gelegenen Felder mit dem Ende des Zangenmaules etwas zusammenschieben, wodurch die Treffsicherheit eingeschränkt ist und die Zeitdauer des Lochens wächst.

Durch die Methode der Arbeitszerlegung und Zeitstudien mit Hilfe der Stoppuhr ist es also nicht nur möglich gewesen, Antwort auf die beiden eingangs gestellten Hauptfragen zu erhalten, sondern es sind außerdem noch einige interessante und lehrreiche Nebenergebnisse gewonnen worden.