Fließband, Willkür und Rhythmus

Dass der Einrichtung des Fließbands seit Ford (et al.) und den damit einhergehenden Produktionsprozessen, den dafür notwendigen Abläufen, die Signatur der Entfremdung und unmittelbaren, steten Gefahr mit heißer Nadel eingeschrieben ist, so ungefähr sie mitunter auch zu dechiffrieren sein mag, ahnt man. Die Idee, derartige Arbeiten durch Roboter-Bataillone erledigen zu lassen, hat wesentlich mit deren monotoner Zuverlässigkeit und der gegenüber dem menschlichen Leib auf Null gesenkten Empfindlichkeit gegenüber Arbeitsunfällen zu tun. Das geahnte Wissen um die Bedrohung der in Assembly Lines gestellten Humankörper speist sich aus einem vorerst so zu nennenden ›unsichtbaren Kanal‹, der sich blutrot von den Disassembly Lines her speist, von den Schlachthöfen und, früher noch, den Walfangschiffen. (Diese Verbindung habe ich bereits einmal angedeutet.)

Sofern nun das Fließband in sich stets auch den – nur scheinbar paradoxen –Verweis auf seine ursprünglich zerteilende Funktion mitführt und die Automatisation von Arbeitsprozessen mit ihrer notwendigen Logistik von Funktionseinheiten also Verfahren kontinuierlicher Bedrohung bedingt, lässt sich für diese Zusammenhänge auch an eine fortlaufend stattfindende Wiederkehr von Zerstückelungen, Unfällen und Mord denken. Etwas davon findet sich – fast zwingend nur erzählt und nicht verfilmt – in einer Idee wieder, die Hitchcock betreffend die Arbeit an »North by Northwest« gesprächsweise Truffaut (der Anfang der 1960er Jahre eingestand, noch nie ein Fließband gesehen zu haben – und der, das Buch von Grafe und Patalas ins Deutsche übersetzt!, mit einem Satz Cocteaus über Proust sein eigenes Bild von Hitchcock auf den Punkt brachte: »Sein Werk lebt weiter wie die Uhren am Handgelenk gefallener Soldaten.«) anvertraute:

Noch zu North by Northwestund meiner Neigung zur Willkür. Ich will Ihnen eine Szene erzählen, an der ich gearbeitet habe, die ich aber nie unterbringen konnte. Immer wieder das Prinzip der Schweizer Schokolade und der holländischen Windmühlen. Mir fiel ein, dass wir nordwestlich von New York waren und über Detroit kommen mußten, wo die großen Fordwerke sind. Haben Sie schon einmal ein Fließband gesehen?
Nein, nie.
Das ist phantastisch. Ich wollte eine lange Dialogszene machen zwischen Cary Grant und einem Vorarbeiter am Fließband. Sie gehen und reden dabei über einen Dritten, der vielleicht in irgendeiner Beziehung zum Werk steht. Hinter ihnen wird ein Auto Stück um Stück zusammengesetzt, es wird aufgetankt und geschmiert, und als sie ihre Unterhaltung beendet haben, ist das Auto, das anfangs ein Nichts war, abfahrbereit, und sie sagen: »Ist das nicht toll?« Und dann machen sie eine der Autotüren auf, und heraus fällt eine Leiche!
Das ist eine irre Idee!
Woher kommt die Leiche? Aus dem Auto kaum, das war am Anfang nur eine Schraubenmutter. Die Leiche ist aus dem Nichts gefallen, verstehen Sie? Und wahrscheinlich ist es die Leiche des Mannes, über den die beiden sprachen.
Das ist die absolute Willkür.

Alfred Hitchcock/François Truffaut. In: François Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? Aus dem Französischen von Frieda Grafe und Enno Patalas. Hg. v. Robert Fischer. München: Heyne 2003, S. 250f.

Wovon hier gehandelt worden wäre, ist wesentlich, dass hinter jeder Assembly line eine Disassembly line steckt. Hitchcock weist sehr präzise auf ein Verfahren von Spannungs-, Horror- und Aufdeckerfilmen bis hin zu Thrillern: wesentlich ist das nur halb bewusste Wissen – eine Form des mittelbaren kulturellen Wissens –, um die dunklen Hintergründe aufzudecken. Es ließe sich vielleicht unter Bezugnahme auf diese nicht verfilmte (serielles Material, Kamerafahrten, lange Einstellungen und Cuts …) Szene eine aufsatzweise und hier nur skizzierbare rote Linie ziehen vom Flensen des Wals in Kapitel 67 des »Moby-Dick« – den wir in der Alphabet-Maschine ebenso von links nach rechts lesen, wie Hitchcock seine Filmfließbandbewegung hätte ablaufen lassen – ,in dessen Verlauf die Mannschaft der Pequod in einen Rhythmus des Zerlegens//Verwertens gerät, hin zu den Schlachthöfen in Paris, Wien und Chicago, zu den Fordwerken, Fließbändern an Supermarktkassen und algorithmisch gesteuerten Produktionsstraßen.

(Vielleicht ist die Geschichte noch älter und hat mit dem Rhythmus zu tun. Im Anfang war der λόγος und der λόγος war bei der Trommel und sie wurden Rhythmus und brauchten angeblich die μηχανή nicht. Aber daraus wurde natürlich nichts und Mary had a little lamb…)

»Der Buchstabe ist eine Waffe wie die Trommel«
(Karl Bruckmaier: The Story of Pop. München: Heyne 2015)