Die als Metonymien gedachten Metaphern von Formularen als »Fließbänder« oder »Interviews«, taugen jedoch allenfalls für ein Teilverständnis dieses Werkzeugs, wie Peter Becker 2009 zu zeigen versuchte. Insofern ist auch seine Einordnung des Formulars als »Textsorte« zu hinterfragen, denn dieses Arbeitsmittel erweist sich vielmehr als ein Verwaltungs-Gestell, mit dem verschiedene Textsorten (kleine Formen!) je strukturiert verbunden werden. Es bedarf zudem, das macht Becker deutlich, einer mehr als dreimaligen Übersetzungsleistung (1. Fachbegriffe und Datenerfordernisse übertragen, 2. Übersetzung des Formular-Anliegens durch die ausfüllende Person bei gleichzeitig passgenauer Transformierung der eigenen Verhältnisse, 3. die getätigten Angaben in den Schreibfeldern verstehen und für die Routinen des Verwaltungshandelns zurichten) in einem asymmetrisch strukturierten Verhältnis von Behörde und Bürger. Das konnte nicht ausbleiben, nachdem im Zuge der Einrichtung von Wohlfahrtsstaaten nach 1945 und damit drastisch gestiegener Erfordernisse im Sinne der zweckdienlichen Verteilung von Mitteln gemäß Ansprüchen (d.h. es geht um eine administrativ grundsätzlich bewältigbar bleibende Realität) die bis dahin bürokratieintern zirkulierenden Formulare als standardisierte Vordrucke ausgeteilt werden mussten – die Kopfzahlen für amtliche Übersetzungshilfen waren nicht mehr zu halten. Dadurch erlangte die ein Formular strukturell konstituierende Leerstelle – der »Platz des Konkreten« nannte das Vismann[1] – besondere Bedeutung.[2] Es geht dabei nicht allein um bestmögliche Verständlichkeit der Ausfüllaufgabe durch die Zielgruppe – im Sinne einer zweckmäßigen Komplexitätsreduktion nach vorangegangener -abstraktion, das bedeutet auch: Kontingenzreduktion – und diverse ›Übersetzungsleistungen‹, es handelt sich auch nicht bloß um die Frage optimaler Gestaltung von Farben/Typografie/Formen/Symbole.[3] Formulare stellen als eine Form verwaltungstechnischer »Aufschreibesysteme« per se derartige Schreibflächen zur Verfügung und reglementieren deren Nutzung. So wie, mit dem für Medienwissenschaften fruchtbar gemachten Nietzsche-Verdikt, »unser Schreibzeug mit an unseren Gedanken [arbeitet]«, haben auch die Schreibflächen – nota bene: normierte! – und ihre Beschriftungserfordernisse im Sinne angewandter kleiner Formen wesentliche Bedeutung für das, was entsteht. Daraus – dieser Gefahr administrativer Autopoiesis des Bürgers – leitet sich ein Bemühen der Behörden ab, bei den Vordrucken möglichst geringe Interpretationsspielräume zu lassen und nur bestmöglich, tendenziell konkret zum Verwaltungsvorgang passende Daten anzugeben. (Dass das erste und zumeist nicht aufzulösende Problem die juristischen Ausgangstexte sind, aus deren Grammatologie heraus Schwierigkeiten entstehen müssen, ist klar.)
Es braucht also die Berücksichtigung von Asymmetrien im Verhältnis Behörde/Staat und BürgerIn. Es bedarf einer Theorie für die unterschiedlichen Formen des Übersetzens und Transformierens. Das medientheoretische Potenzial von – gleichwohl normierten, reglementierten – Schreibflächen wäre wie das aller anderen zum Einsatz gelangenden Mittel auszuloten. Fragen der Gestaltung von »marked« und »unmarked spaces« sind zu beantworten. Unterschiedliche Sprachsysteme müssen ebenso unweigerlich aufeinandertreffen, wie die organisierten Abläufe des Amtes mit konkreten Umständen auf Seiten der BürgerInnen. Schließlich spielen zwingend die technischen Umgebungen der Formularfelder (und die ebenso bedingten Möglichkeiten ihrer Auswertung) eine entscheidende Rolle.
Dabei überrascht es kaum, dass ein Formular Wortbilder wie jenes vom »Fließband« triggert. Alfred Hitchcock hat im Gespräch mit François Truffaut die sehr prekären Zusammenhänge angedeutet, die über dessen Vorgängermedien zwingend mit eingeschrieben sind; cf. dazu Fließband, Willkür und Rhythmus:
Ich wollte eine lange Dialogszene machen zwischen Cary Grant und einem Vorarbeiter am Fließband. Sie gehen und reden dabei über einen Dritten, der vielleicht in irgendeiner Beziehung zum Werk steht. Hinter ihnen wird ein Auto Stück um Stück zusammengesetzt, es wird aufgetankt und geschmiert, und als sie ihre Unterhaltung beendet haben, ist das Auto, das anfangs ein Nichts war, abfahrbereit, und sie sagen: »Ist das nicht toll?« Und dann machen sie eine der Autotüren auf, und heraus fällt eine Leiche!
Alfred Hitchcock
Vgl. weiterführend Bilder, Fließbänder und Formen der Ordnung, Filet № 67) – Hitchcock und seine braven Bürgerfiguren, die so unversehens wie unverschuldet in gröbere Kalamitäten rutschen, der Walfang und die Schlachthöfe, Herr Ford und der Umstand, dass die assembly nicht ohne der disassembly line zu haben ist. Das alles lässt sich verwalten, kennt ZuseherInnen, Beteiligte, Ordnende und Verordnende. (Cf. weiters Friedrich Kittler: Von der Letter zum Bit. In: Gutenberg und die Neue Welt. Hg. v. Horst Wenzel in Zusammenarbeit mit Friedrich Kittler u. Manfred Schneider. München: Fink 1994, S. 105–117 – Kittler sieht v.a. die Einrichtung der Waffenproduktion von Frankreich her über die USA als Beginn jener assembly line, Zitat dazu in Kanzleiordnung (1923)).
Das Wort vom »Fließband«, das wie angedeutet allenfalls Rückschlüsse auf die Umstände seiner Verwendung, nicht jedoch eine taugliche Umschreibung der komplexen Formelanwendung an sich geben kann, bezieht sich noch am ehesten auf eine interne Dimension bürokratischen Handelns nach formalisierten Kriterien der Arbeitsteilung, während die Rede vom »Interview« (ob es nun zwischen zwei Personen zum Zweck der korrekten Ausfüllung der Felder oder einen Fragebogen geht) bereits die nach wie vor notwendige Schnittstelle mit meint, mithin eine externe Dimension anspricht.
Das Formular steht in seiner Produktion, Beschriftung, Ausfüllung und Auswertung, den Fließbändern ebenso wie als Interview/Fragebogen, für Standardisierung, d.h. Berechenbarkeit bzw. mit Turing/Kittler »Computability«:
Schon bei Platon konnte das Schöne mit dem Wahren nur darum eins sein, weil Platons Akademie alle Schüler, die im Wahren nicht das geometrisch Konstruierbare erkannt hatten, von vornherein ausschloss. Schönheit heisst also, um Turings nicht sehr anderes, aber leider nie historisch gemünztes Wort zu missbrauchen, computability, Berechenbarkeit.[4]
Friedrich Kittler
Formulare also mit Turings Begriff von »computability« als Formen der Organisation/Berechenbarkeit von Gesellschaften? – Nach Shannon, Turing und der Digitalisierung haben wir es mit neuen Bedeutungen von Computability zu tun (etwa der, die Kittler meint, aber noch viel mehr), aber die Formulare gibt es immer noch. Die Frage stellt sich, wie eine Alternative zu Formularen aussehen würde, wenn man bspw. unterstellt, dass es keine neuen Formulare gibt, sondern stets nur neue Varianten eines zu bestimmenden Urtypus. Digitalisierung hilft, Formularfelder und Datensätze neu und interessanter – aus der Sicht der Datenverwertung weitaus prekärer – zu verknüpfen, aber sonst?!
Der Umgang mit Formularen gemäß ebenso althergebrachter wie bewährter Computability = techné, Kulturtechniken. Die mediale Eigenmächtigkeit der Formularfelder, das was dann mit in der Digitalisierung angelegt ist, aber niemand mehr zu kümmern scheint = mechané, (nunmehr: selbständige!) Werkzeuge.[5]
Formulare sind gestaltete und medientechnisch komplex besetzte Oberflächen mit Schnittstellen und Anschlussfähigkeiten (dabei sind nicht alle einsichtig – cf. algorithmengesteuerte[6] Datenströme: Diese Steuerungsprozesse unter den hinterleuchteten Schreiboberflächen des 21. Jahrhunderts[7] bedingen andere Formen von Schnittstellen und Anschlussfähigkeiten als die analoge Datenverwaltung. So wie aus Einzelmedien durch Verschaltungen Medienverbünde entstanden, sind es heute statt im historischen Wortsinn manipulierbarer Registraturen zunehmend ohne weitere Eingriffe kanalisierte Datenverbundströme, die funktional diverse mit dem Formularfeld verschaltete Datenbanken bespielen. Formulare stellen Schreibflächen zur Verfügung – Erstellung, Bemessung und Ausfüllung erfolgt entsprechend Regeln und idealerweise sind Ersteller und Ausfüller sowie Auswerter perfekt für derartige Mittel und Techniken geeignet.
Es sind normierte Dispositive, ausgelegt auf die Standardisierung einer Serienschaltung: Institutionalisierte Lü__entexte.
tbc
[1] Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt/M.: Fischer 2000, S. 161.
[2] Beachte dazu auch Vismann 2000: S. 127 betr. formulaeals Verwaltungshandeln, S. 212 betr. Erhebungen und Auflistungen sowie Bertillons Innovationen.
[3] Zu beachten ist eine grundsätzliche Warnung, allein die Oberflächengestaltung im Blick zu haben: »Diese Selbstbeschränkung auf linguistische und technische Fragen von Design, Semantik und Syntax geht von der Vorstellung des Bürgers als einem kompetenten Nutzer dieser Technologie aus. Ihm wird unterstellt, inputin die Verwaltungsprogramme leisten zu können, wenn er erfolgreich zu einem programmkonformen Verhalten angeleitet wird. […] Formulare konzipieren ihre Klientel als kompetente Teilnehmer an einem verständigungsorientierten Diskurs, in dem die Deutungs- und Entscheidungsmacht der Behörde nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. […] Die Partnerschaft zwischen Beamten und Bürgern ist jedoch strukturell asymmetrisch und durch Mißtrauen der Verwaltung gegenüber den Feststellungen der Verwalteten bestimmt.« (Peter Becker: Formulare als »Fließband« der Verwaltung? Zur Rationalisierung und Standardisierung von Kommunikationsbeziehungen. In: Eine intelligente Maschine? Handlungsorientierungen moderner Verwaltung (19./20. Jh.). Hg. v. Peter Collin, Klaus-Gert Lutterbeck. Baden-Baden: Nomos 2009, S. 281–298, hier S. 294)
[4] Kittler 1997, S.25
[5] Für Kittler 1997 fallen die im Altgriechischen in der techné zusammen. Aber was ist dann mit der mechané, dem Werkzeug, der Maschine, allenfalls auch: dem Gestell? Wenn man schon im Altgriechischen Heideggers herumschweift, wäre das Formular die mechané und die Kulturtechniken des Umgangs sind die techné.
[6] »Algorithmen aber, zumindest nach ihrer modernen Definition, haben mit dem Rückkopplungskreis der Sinne nicht notwendig zu schaffen. Algorithmen sind Kombinationen aus Handlungsvorschriften und Kontrollvorschriften, die in jeder geeigneten Materialität vollzogen werden können, im Kopf, auf Papier oder neuerdings in Siliziumchips.« (Ebd., S. 10f.)
[7] »Die Oberfläche ist jetzt der Bildschirm mit extrem beschränkter Inanspruchnahme menschlicher Sinne, die Tiefe dagegen die unsichtbare Maschine, die heute in der Lage ist, sich selbst von Moment zu Moment umzukonstruieren, zum Beispiel in Reaktion auf Benutzung. Die Verbindung von Oberfläche und Tiefe kann über Befehle hergestellt werden, die die Maschine anweisen, etwas auf dem Bildschirm oder durch Ausdruck sichtbar zu machen. Sie selbst bleibt unsichtbar.« (Niklas Luhmann; cf. auch Dirk Baecker: Niklas Luhmann in der Gesellschaft der Computer. In: Merkur 55 (627), 2001, S. 597–609)