Französisch-deutsche Neuzeit

Zentralisierte Verwaltung, dazu die eine starke Hand am Haupthebel der Maschine – währenddessen wird Deutschland nie fertig; Friedell dreht am Rad:

Man versuche einmal, den französischen Nationalcharakter in seinen wesentlichsten Lebensäußerungen vorurteilslos zu betrachten, und man wird finden, daß ein durchgehender Grundzug der Franzosen die Pedanterie ist, die sich freilich in den höchsten Schöpfungen des Volksgeists zur bewunderungswürdigsten Beherrschung der Form erhebt. Sie haben sich eine Sprache geschaffen, die ganz vorzüglich zum Reden und Schreiben geeignet ist; es ist eine Sprache, in der es unmöglich ist, sich schlecht auszudrücken: man hat nur die Wahl, ein korrektes und schönes Französisch zu schreiben oder ein gänzlich unverständliches, lächerliches und absurdes, also gar kein Französisch. Sie haben die klassische Tragödie hervorgebracht, in der es unmöglich ist, unklar, unübersichtlich, verworren zu dichten. Sie besitzen eine philosophische Terminologie, in der es unmöglich ist, unlogisch und dunkel zu denken. Sie sind die Erfinder einer bis ins kleinste zentralisierenden Verwaltung, ohne die die Revolution in ihren sämtlichen Stadien nicht denkbar gewesen wäre; denn nur dieses System hat es ermöglicht, daß jeder, der zufällig den Haupthebel der Maschine in der Hand hatte, der unbedingte Gebieter ganz Frankreichs war, so daß ein Land von fünfundzwanzig Millionen Bewohnern zuerst von einer völlig untätigen und regierungsunfähigen aristokratischen Oligarchie, dann von einer Handvoll hohlköpfiger juristischer Doktrinäre, gleich darauf von einer Rotte hysterischer Banditen, dann von einem Klüngel diebischer Geldmänner und schließlich von ·dem Gehirn und Willen eines genialen Konquistadors beherrscht wurde. Und auch in ihrer größten Zeit, unter Ludwig dem Vierzehnten, als sie nicht bloß die politische, sondern auch die geistige Vormacht Europas waren, haben sie nur pedantische Schöpfungen monumentalen Stils hervorgebracht: abgezirkelte Hofpoeme, Hofgemälde und Hofphilosophien. Methodik, Programmatik, Mathematik, System, Regel, clarté: das war immer die Hauptstärke des Franzosen, sehr im Gegensatz zum Deutschen, dessen Wesen das Brauende, Schweifende, Tastende, Zentrifugale ist. Aber eben dies ist der Grund seiner steten Entwicklungs- und Regenerationsfähigkeit: der Deutsche wird nie fertig; das ist seine Größe.

Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Frankfurt/M.: Zweitausendeins o.J., S. 572