phantasma

Jacques Derrida: Das Kino und seine Phantome. Gespräche mit Antoine de Baecque u. Thierry Jousse [Paris, 10.7.1998 u. 6.11.2000] In: Ders.: Denken, nicht zu sehen. Schriften zu den Künsten des Sichtbaren. 1979–2004. Hg. v. Ginette Michaud, Joana Masó u. Javier Bassas. Übers. V. Hans-Dieter Gondek u. Markus Sedlaczek. Berlin: Brinkmann & Bose 2017, S. 269–287. (Erstveröffentlichung : »Jacques Derrida et les fantomes du cinema.« In: Cahiers du cinéma [No. 556, April 2001], S. 74-85.)

Cahiers du cinéma: In einem Buch, Échographies – de la télévision, sprechen Sie direkt vom Kino. Mehr allgemein von Bildern, genauer vom Fernsehen, aber auch vom Kino mittels des Films, bei dessen Dreh Sie dabei waren. Sie verbinden dann das Kino mit einer besonderen Erfahrung, der Erfahrung der Phantomhaftigkeit …

Jacques Derrida: Die kinematographische Erfahrung gehört durch und durch zur Gespenstigkeit, die ich mit all dem verbinde, was man in der Psychoanalyse über das Gespenst zu sagen vermochte – oder mit der Beschaffenheit selbst der Spur. Das Gespenst, weder lebendig noch tot, steht im Zentrum einiger meiner Schriften, und genau darin dürfte für mich ein Denken des Kinos vielleicht möglich sein. Im Übrigen sind die Verbindungen zwischen Gespenstigkeit und Kinematographie heutzutage Anlass zu einer Vielzahl von Schriften. Das Kino kann die Phantomhaftigkeit in Szene setzen, gewiss, beinahe frontal, wie eine Tradition des phantastischen Kinos, die Filme über Vampire und Wiedergänger, einige Werke von Hitchcock … Man muss dies von der durch und durch gespenstischen Struktur des kinematographischen Bildes unterscheiden. Jeder Zuschauer setzt sich während einer Vorstellung mit einer Arbeit des Unterbewussten in Verbindung, die per definitionem mit der Arbeit der Heimsuchung gemäß Freud verglichen werden kann. Er nennt dies die Erfahrung <des> »Unheimlichen«. Die Psychoanalyse, das psychoanalytische Lesen, ist im Kino zu Hause. Zunächst einmal sind Psychoanalyse und Kinematographie wahrhaftig Zeitgenossen: zahlreiche mit der Projektion, dem Schauspiel und der Wahrnehmung dieses Schauspiels verbundene Phänomene besitzen psychoanalytische Äquivalente. Walter Benjamin ist das sehr schnell bewusst geworden, er, der fast von Beginn an die beiden Prozesse, die kinematographische und die psychoanalytische Analyse, miteinander in Verbindung gebracht hat. Selbst das Sehen und die Wahrnehmung des Details in einem Film stehen in einer direkten Beziehung mit den psychoanalytischen Verfahren. Die Vergrößerung vergrößert nicht nur, das Detail gibt Zugang zu einem anderen Schauplatz, einem heterogenen Schauplatz. Die kinematographische Wahrnehmung hat kein Äquivalent, aber sie ist die einzige, die durch die Erfahrung zu verstehen geben kann, was eine psychoanalytische Praxis ist: Hypnose, Faszination, Identifizierung, all diese Termini und Verfahren sind dem Kino und der Psychoanalyse gemeinsam, und das ist daran das Zeichen für ein »Zusammendenken«, das mir grundlegend zu sein scheint. Im Übrigen ist eine Kinovorstellung nur ein klein wenig länger als eine Analysesitzung. Man kann sich im Kino analysieren lassen, indem man alle seine Gespenster erscheinen und sprechen lässt. Sie können sich kostensparend (im Verhältnis zu einer Analysesitzung) die Gespenster auf die Leinwand zurückkommen lassen.

CdC: Sie sagten, Sie könnten über einen genau bestimmten Aspekt des Kinos schreiben, und das wäre … 

JD: Wenn ich über das Kino schriebe, würde mich vor allem sein Glaubensmodus und -system interessieren. Es gibt im Kino eine ganz und gar einzigartige Modalität von Glauben: man vor einem Jahrhundert eine absolut neue Erfahrung des Glaubens gefunden. Es wäre eine aufregende Sache, die Ordnung der Glaubwürdigkeit in sämtlichen Künsten zu analysieren: Wie glaubt man an einen Roman, an gewisse Momente einer Theateraufführung, an das, was in das Gemälde eingeschrieben ist, und selbstverständlich, was etwas ganz anderes ist, an das, was das Kino uns zeigt und uns erzählt. Im Kino glaubt man, ohne zu glauben, doch bleibt dieses Glauben, ohne zu glauben, ein Glauben. Man hat es auf der Leinwand – mit den Stimmen oder ohne sie – mit Erscheinungen zu tun, denen – wie in der Platon’schen Höhle – der Zuschauer glaubt, Erscheinungen, die man mitunter vergöttert. Da die gespenstische Dimension weder die des Lebendigen noch die des Toten, weder die der Halluzination noch die der Wahrnehmung ist, muss die Modalität des Glauben, die sich darauf bezieht, auf eine absolut eigenständige Weise analysiert werden. Genau diese Phänomenologie war vor dem Kinematographen nicht möglich, denn diese Erfahrung des Glauben ist an eine besondere Technik, die des Kinos, gebunden; sie ist historisch durch und durch. Mit dieser supplementären Aura, diesem besonderen Gedächtnis, das es uns erlaubt, uns in die Filme aus vergangenen Zeiten zu projizieren. Deshalb ist das Sehen beim Kino dermaßen reichhaltig. Es gestattet, neue Gespenster auftauchen zu sehen und zugleich die Phantome, welche die bereits [déjà] gesehenen Filme heimsuchen/in den bereitsgesehenen Filmen herumspuken, im Gedächtnis zu bewahren (und sie dann ihrerseits auf die Leinwand zu projizieren).

CdC: Als ob es mehrere Schichten von Phantomhaftigkeit gäbe … 

JD: Ja. Und einige Cineasten versuchen mit diesen unterschiedlichen Zeitlichkeiten der Gespenster zu spielen, wie Ken McMullen, der Autor eines Films, Ghost Dance, in welchem ich mitgespielt habe. Es gibt die elementare Gespenstigkeit, die an die technische Bestimmung des Kinos gebunden ist; und innerhalb der Fiktion inszeniert McMullen Gestalten in Szene, die von der Geschichte der Revolutionen, von jenen Phantomen, die aus der Geschichte und den Texten wieder auftauchen (die Kommunarden, Marx etc.), heimgesucht werden. Das Kino erlaubt es so, das zu kultivieren, was man »Pfropfungen« von Gespenstigkeit nennen könnte, es schreibt Spuren von Phantomen in einen allgemeinen Hintergrund, den projizierten materialen Film, ein, der selbst ein Phantom ist. Das ist ein aufregendes Phänomen, und theoretisch würde mich genau das am Kino als Gegenstand einer Analyse interessieren. Als gespenstisches Gedächtnis ist das Kino eine großartige Trauer, eine ins Große übersetzte Trauerarbeit. Und es ist bereit, sich durch all die in Trauer versetzten Gedächtnisse, das heißt durch die tragischen oder epischen Momente der Geschichte, beeindrucken zu lassen. Eben diese mit der Geschichte und mit dem Kino verbundenen aufeinander folgenden Versetzungen in Trauer »bringen« heute die interessantesten Gestalten »zur Vorführung«. Die gepfropften Körper dieser Phantome sind der eigentliche Stoff der Intrigen des Kinos. Doch was häufig wiederkehrt in diesen Filmen, ob nun europäische oder amerikanische, ist das gespenstische Gedächtnis einer Epoche, in der es noch kein Kino gab. Diese Filme sind »fasziniert« vom 19. Jahrhundert, zum Beispiel der Legende vom Westen in den Western von Eastwood, die Erfindung des Kinos bei Coppola oder die Kommune in dem Film von Ken McMullen. In derselben Weise beeinflusst das Kino immer häufiger den referentiellen Bezug eines Buches, eines Gemäldes oder einer Photographie. Keine Kunst, keine Erzählung kann heute das Kino ignorieren. Die Philosophie im Übrigen auch nicht. Sagen wir, dass es sein Gewicht an Phantomen zum Ausdruck bringt. Und diese Phantome werden auf sehr verschiedenartige und oft sehr erfindungsreiche Weise von den »Konkurrenten« des Kinos inkorporiert.

[…]

CdC: Warum ›funktioniert‹ das Kino einzig dank der Sehergemeinschaft im Vorführsaal? Warum erscheinen die Gespenster eher Gruppen als Individuen?

JD: Beginnen wir damit, dies vom Gesichtspunkt der Zuschauer, der Wahrnehmung und der Projektion zu verstehen. Jeder projiziert etwas Intimes auf die Leinwand, aber all diese persönlichen »Phantome« überkreuzen sich in einer kollektiven Vorstellung. Man muss also vorsichtig vorgehen mit dieser Idee einer Seh- oder Vorstellungsgemeinschaft. Das Kino, das ist sogar seine Definition – die der Vorführung in einem Saal – ruft das Kollektiv, das gemeinschaftliche Schauspiel und die gemeinschaftliche Interpretation auf. Doch zugleich besteht eine grundsätzliche Entbindung: Im Saal ist jeder Zuschauer allein. Das ist der große Unterschied zum Theater, dessen Schauspielmodus und innere Architektur der Einsamkeit des Zuschauers zuwiderlaufen. Das ist der zutiefst politische Aspekt des Theaters: Die Zuschauerschaft bildet eine Einheit und drückt eine kämpferische kollektive Anwesenheit aus, und wenn sie sich aufteilt, so geschieht das um Schlachten, Streitigkeiten und das Hereinbrechen eines Anderen ins Innere des Publikums herum. Genau das macht mich oft unglücklich im Theater und glücklich im Kino: das Allein-sein-können gegenüber dem Schauspiel, die Entbindung, welche die kinematographische Repräsentation voraussetzt.

CdC: Das ist Ihr Bindungsproblem?

JD: Ich mag es nicht, zu wissen, dass es einen Zuschauer neben mir gibt, und ich träume zumindest davon, mich allein oder beinahe allein in einem Kinosaal wiederzufinden. Daher werde ich für einen Kinosaal nicht das Wort »Gemeinschaft« verwenden. Ich werde ebenfalls nicht das Wort »Individualität« verwenden, das zu solitär ist. Der Passende Ausdruck ist der einer »Singularität«, die das soziale Band versetzt, auflöst und anders neu knüpft. Und zwar deshalb, weil es im Kinosaal eine Neutralisierung von psychoanalytischer Art gibt: ich bin allein mit mir, jedoch dem Spiel sämtlicher Übertragungen ausgeliefert. Und mit Sicherheit liebe ich deswegen das Kino so sehr und ist es mir auf eine gewisse Weise, selbst wenn ich wenig dorthin gehe, unerlässlich. Es liegt dem Glauben im Kino eine außerordentliche Verknüpfung zugrunde zwischen der Masse – es ist eine Massenkunst, die sich an das Kollektiv adressiert und kollektive Vorstellungen aufnimmt – und dem Singulären – diese Masse ist gespalten, entbunden und neutralisiert. Im Kino reagiere ich kollektiv, aber ich lerne auch, allein zu sein: eine Erfahrung sozialer Spaltung, die im Übrigen sicher viel der Existenzweise Amerikas verdankt. Diese Einsamkeit gegenüber dem Phantom ist eine große Prüfung der kinematographischen Erfahrung. Diese Erfahrung wurde schon geraume Zeit vor der technischen Erfindung des Kinos von den anderen Künsten, Literatur, Malerei, Theater, Dichtkunst und Philosophie, vorweggenommen, erträumt und erhofft. Sagen wir, dass das Kino erfunden werden musste, um ein gewisses Begehren nach einem Verhältnis zu den Phantomen zu erfüllen. Der Traum davon ist der Erfindung vorangegangen. 

[…]

CdC: Was Sie über Ihre Erfahrung des Films sagen, verweist auf allgemeinere Konzepte zum Kino und zum Fernsehen wie die Frage des Gespenstes. 

JD: Das Thema der Gespenstigkeit wird als solches in dem Film ausgestellt. In gleicher Weise wie die Trauer, die Differenz der Geschlechter, die Schickung/Bestimmung und das Erbe. Die Gespenstigkeit ist regelmäßig zurückgekehrt, selbst als Bild, denn man sieht das Gespenst meiner Mutter, man sieht eine Geisterkatze, eine Siamkatze, die der toten Katze wie ein Bruder ähnelt. Dieses Thema wird auf zugleich diskursive und ikonische Weise behandelt. Und andererseits hatte ich in Échographies – de la télévision diese Frage der gespenstischen Dimension des televisuellen oder kinematographischen Bildes, die Frage der Virtualisierung, in Angriff genommen. Das ist ein politischer Einsatz, der gleichermaßen in Spectres de Marx erscheint. All das bildet ein unentwirrbares Netz aus Motiven, die gefilmt werden, wie man das Kino selbst filmt, womit das Kino ein Beispiel für das ist, worum es hier geht. Anders gesagt, es ist, als ob die gespenstischen Bilder kämen und Ihnen sagten: »Wir sind gespenstische Bilder (doch ohne auf/über den Automatismus der Autorität, der spekulären Selbst-Referentialität zu spekulieren).« Wie kann man ein Gespenst filmen, das sagt: »Ich bin ein Gespenst«? Mit, natürlich, der ein wenig beunruhigenden, gar unheilverkündenden Seite des Überlebens. Denn man weiß, dass – wie ein Text – ein Bild überleben kann. Man könnte diese Bilder nicht nur nach dem Tod meines kleinen Bruders, meiner Katze, meiner Mutter etc., sondern auch nach meinem Tod sehen. Und dies würde in derselben Weise funktionieren. Dies hängt mit einem Effekt innerlicher Virtualität zusammen, der alle technische Reproduzierbarkeit prägt, wie Benjamin sagen würde. Es ist ein Film über die technische Reproduzierbarkeit: Man sieht zugleich die wildeste Natur, das Fließen und Zurückfließen der Wellen in Kalifornien, in Spanien oder in Algerien und die Reproduzier-, Aufzeichnungs- und Archiviermaschinen.

CdC: Das Phantom ist zu einem bestimmten Zeitpunkt in die Theorie des Kinos gedacht worden, doch heute geht diese Idee eher gegen die vorherrschende Auffassung von Bild, nämlich dass es eine Beständigkeit des Sichtbaren gäbe, an die man glauben müsse.

JD: In einer spontanen Ideologie des Bildes vergisst man häufig zwei Dinge: die Technik und den Glauben. Die Technik, nämlich dass man da, wo das Bild (die Reportage oder der Film) uns vor die Sache selbst bringen soll, ohne Trickserein und ohne Artefakte, gern vergisst, dass die Technik die Sache vollkommen umgestalten, neu zusammensetzen und artifizialisieren kann. Und dann gibt es dieses sehr eigenartige Phänomen, welches das des Glaubens ist. Selbst bei einem Film mit fiktiver Story wahrt ein Phänomen von Glauben, von »tun als ob«, eine sehr schwierig zu analysierende spezifische Qualität: An einen Film »glaubt« man mehr.  An einen Roman glaub man weniger oder auf <eine> andere Weise. Bei der Musik ist das noch etwas anderes, sie impliziert keinen Glauben. Sobald es romanhafte Darstellung oder kinematographische Fiktion gibt, wird ein Phänomen von Glauben von der Darstellung getragen. Die Gespenstigkeit ist ein Element, in welchem der Glaube weder gesichert noch bestritten ist. Deshalb glaube ich, dass man die Frage der Technik mit der des Glaubens im religiösen und treuhänderischen Sinne, nämlich mit der dem Bild – und dem Phantasma – gewährten Glaubwürdigkeit verbinden muss. Im griechischen und nicht nur im Griechischen bezeichnet phantasma das Bild und den Wiedergänger. Das phantasma ist ein Gespenst.

Photo: Gisèle Freund