Heimaten

Für Psychoanalytiker hat Heimat die Bedeutung einer seelischen Plombe. Sie dient dazu, Lücken auszufüllen, uner­träg­li­che Traumen aufzufangen, seelische Brüche zu überbrücken, die Seele wieder ganz zu machen. Je schlimmer es um einen Menschen bestellt ist, je brüchiger sein Selbstgefühl ist, desto nötiger die Heimatgefühle, die wir darum eine Plombe für das Selbstgefühl nennen.

Paul Parin: Heimat, eine Plombe. Rede am 16. November 1994 beim 5. Symposion der Internationalen Erich Fried Gesellschaft für Literatur und Sprache in Wien zum Thema »Wieviel Heimat braucht der Mensch und wieviel Fremde verträgt er«. Mit einem Essay von Peter-Paul Zahl. Hamburg 1996 (EVA-Reden 21), S. 18

Paul Parin nennt Heimatgefühle ›eine Plombe für das Selbstgefühl‹. Gesetzt, das ist wahr und wirklich, was ist dann jener Zahn, ehe er kariös wurde, vor der Plombierung? Das Selbst­gefühl? Mag sein. Aber, wie kommt es zustande? Und wo?

Peter-Paul Zahl: Die Stätten meiner Kindheit. In: Paul Parin: Heimat, eine Plombe, S. 19

Das dem Kapitalismus innewohnende Prinzip, hat Heiner Müller richtig erkannt, ist Selektion. Das genaueste Symbol für diese ist: Auschwitz. [–] Der Kampf [um] Heimat und Selbstbestimmung ist mithin Kampf gegen Ausbeutung, Ausplünderung und Selektion, ist der – oft verzweifelte – Versuch zu verhindern, daß sich die ganze Welt in ein einziges Auschwitz verwandelt. Auschwitz steht ja für beides: ist Symbol äußerster Heimatlosigkeit und, gleichzeitig, Ausrottung derer, die man heimatlos gemacht hat.

Ibid., S. 55

Arkadisches ist im Original kein Spießerglück, und am schändlichsten war seine Deutung auf »Blut und Boden«; nur so aber stünde es in Alternative zur Konstruktion, vielmehr zu der an­deren Verkommenheit, die den Geist eines Welt­um­baus gänzlich in Hohlheit, Kälte, Künst­lichkeit setzt. Statt dessen ist das Arkadische, wie bemerkt, ein Korrektiv, mit sel­ber denkendem Vergißmeinnicht dazu; das genau im Plus ultra des Umbaus, des blauen Reiters ins Blaue, Konsti­tu­tiv-Arkadisches gilt nicht geringer auch als Ko­rrek­tiv gegen allzu planende und verhei­zende Sozialutopie, die wirklich zum Bau gekommen ist.

Ernst Bloch: Exkurs: Arkadia und Utopia. In: Ders.: Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs. Werkausgabe Bd. 14. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 266f.

[I]n aller Natur fühlte ich mich selber; wenn ich auf meiner Jagdhütte die schäumende laue Milch in mich hineintrank, die ein struppiges Mensch einer schönen, sanftäugigen Kuh aus dem Euter in einen Holzeimer niedermolk, so war mir das nichts anderes, als wenn ich, in der dem Fenster eingebauten Bank meines studio sitzend, aus einem Folianten süße und schäumende Nahrung des Geistes in mich sog; das eine war wie das andere; keines gab dem anderen weder an traumhafter überirdischer Natur, noch an leiblicher Gewalt nach […]

Hugo v. Hofmannsthal: Ein Brief. In: Ders.: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Gesammelte Werke Bd. V. Hrsg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M.: Fischer 1979, S. 464

Dort, in Kakanien, diesem seither untergegangenen, unverstandenen Staat, der in so vielem ohne Aner­ken­nung vorbild­lich gewesen ist, gab es auch Tempo, aber nicht zuviel Tempo. So oft man in der Fremde an dieses Land dachte, schwebte vor den Augen die Erinnerung an die weißen, breiten, wohl­ha­ben­den Straßen aus der Zeit der Fußmärsche und Extraposten, die es nach allen Richtungen wie Flüsse der Ord­nung, wie Bänder aus hellem Soldatenzwillich durchzogen und die Länder mit dem papier­weißen Arm der Verwaltung um­schlangen. Und was für Länder! Gletscher und Meer, Karst und böh­mi­sche Kornfelder gab es dort, Nächte an der Adria, zirpend von Gril­lenunruhe, und slowakische Dörfer, wo der Rauch aus den Kaminen wie aus aufgestülpten Nasenlöchern stieg und das Dorf zwischen zwei kleinen Hügeln kauerte, als hätte die Erde ein wenig die Lippen geöffnet, um ihr Kind dazwischen zu wär­men. 

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Bd. 1. Hrsg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987, S. 32f.

Gut, er ist ausgebildeter Schreibergeselle, er hat eine Schreiberlehre erfolgreich abgeschlossen, er versteht sich auf die Sargtischlerei. Wie er schreibt? Nun, er spricht vor sich hin die Namen Robert Musil, Robert Schneider, und schon schreibt er, schon geht es dahin, die Namen Musil Robert, Schneider Robert vor sich hingesagt, schon schreibt er, schreibt und schreibt, zwischendurch trinkt er Milch und ißt Schokolade, und schreibt, schreibt dahin, trinkt einen Schluck Milch und schreibt, nimmt ein Stück Schokolade und schreibt, sagt: Robert Musil, sagt: Robert Schneider, und Patsch! steht alles geschrieben dar; ein Schluck Milch, ein Stück Schokolade, und noch eines, und Patsch! erledigt sich alles wie von selbst. Wie der schreibt! Der kann aber schreiben, so schreiben können möchte wohl ein jeder gern! […] Wie es nur schreibt, das Bübl, daß einer so schreiben kann! Gewaltig! Lüüt, lüüt!

Werner Kofler: Üble Nachrede. In: Ders.: Üble Nachrede – Furcht und Unruhe. Reinbek bei Hamburg 1997

Nietzsche ist da mit seinen schreienden, schwirren Flugs zur Stadt ziehenden Krähen und dem Winterschnee, der dem Ver­ein­samten droht. Weh’ dem, der keine Heimat hat, heißt es im Gedicht. Man mag nicht exaltiert erscheinen und ver­drängt die lyrischen Anklänge. Was bleibt, ist die nüchternste Feststellung: Es ist nicht gut, keine Heimat zu haben.

Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München 1988, S. 80

Daß rückschrittliche Bärenhäuterei den Heimatkomplex besetzt hat, verpflichtet uns nicht, ihn zu ignorieren. Darum nochmals in aller Deutlichkeit: Es gibt keine »neue Heimat«. Die Heimat ist das Kindheits- und Jugendland. Wer sie verloren hat, bleibt ein Verlorener, und habe er es auch gelernt, in der Fremde nicht mehr wie betrunken umherzutaumeln, sondern mit einiger Furchtlosigkeit den Fuß auf den Boden zu setzen.

Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München 1988, S. 67

[Rosegger] hat in seinem Werk erfolgreiche Mythen der Regression geschaffen, die zu seiner Zeit als überzeugende Gegenbilder zum unübersichtlich gewordenen Fortschritt und der Entfesselung seiner Destruktivkräfte gelesen wurden. Dem Wunsch nach Gegenwelten (erinnerte Kindheitswelt, bäuerlich-ländliche Natur) entsprechen die Topoi seiner kulturkritischen Publizistik, die sich der Radikalisierung des politischen Alltags (Antisemitismus, Nationalitätenstreit) nicht entziehen kann. […] Die Krisen der Modernisierung machen die literarische Konservierung des Zurückgebliebenen zu Roseggers poetischem Hauptgeschäft […]. Roseggers Apologie des bäuerlichen Konservativismus exponiert nicht nur überzeugend die Verwüstungen des Fortschritts, sondern instrumentalisiert ihn auch […] für einen machtpolitischen Konservativismus, der technisch-industriellen Fortschritt stillschweigend voraussetzt und mit rückwärtsgewandten Gesellschaftsentwürfen verknüpft. Im Ersten Weltkrieg werden die Aporien dieser Position offenkundig und potenziert: Harmonie und Gewalt, Idylle und Kampf bleiben auf lange Sicht verhängnisvoll synchronisiert.

Karl Wagner: Die literarische Öffentlichkeit der Provinzliteratur. Der Volksschriftsteller Peter Rosegger. Tübingen 1991 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 36), S. 5f.

Träumte heut Nacht allerlei: Bergpartie mit meinem Bruder oder Sohn (die im Traum selten zu unterscheiden sind), Schafberg (welchen?) Hütte;– draußen eine Wiese, ein Bauernmädchen, bei der ich mich betreffs Roseggers Tod erkundige […].

Arthur Schnitzler: TB-Notat vom 24/IX/1918

Man kann […] sagen, daß eine dichterische Gestalt ohne den sogenannten Erdgeruch überhaupt ein Unding ist. Und mit zum Kapitel der neuesten Begriffsverwirrungen gehört es, Boden­ständig­keit und Erdgeruch heute hauptsächlich nur solchen Werken zuzu­sprechen, die in bäuerischen oder ländlichen Kreisen spielen.

Arthur Schnitzler: Aphorismen und Betrachtungen Bd. 3: Über Kunst und Kritik. Materialien zu einer Studie, Methoden und Kritisches. Hrsg. v. Robert O. Weiss. Frankfurt/M.: Fischer 1993, S. 80

Im Bauern begegnet sich das irdische mit dem himmlischen, das äußere mit dem inneren Leben des Menschen, der König mit dem Künstler. Der Bauer, als Hausherr, ist ein ökonomischer Künstler im Großen; der bildende und anschauende Künstler steht in der Mitte zwischen beiden: die unwillkürlichen Empfindungen der Volksseele hat er mit dem Bauern, das selbstherrliche Recht ihrer Ausgestaltung mit dem Könige gemein. […] Der König von Gottesgnaden, der Künstler von Geistesgnaden, der Bauer von Volksgnaden stehen gewissermaßen gleich­berechtigt neben einander; und wenn sie zusammenhalten, so sind sie unbesiegbar. […] Kranke Naturen halten es für eine Eigenthümlichkeit des Ideals, das es unendlich fern sei; und es ist doch unendlich nah: die Heimath ist das Ideal. In diesem Sinne ist der Deutsche und, wenn man will, der Niederdeutsche eine vorzugsweise ideale Natur. Bauerngeist ist Heimathsgeist.

[Julius Langbehn]: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. Leipzig 1890, S. 1

Die Masse ist eine matrix, aus der gegenwärtig alles gewohnte Verhalten Kunstwerken gegenüber neugeboren hervorgeht. Die Quantität ist in Qualität umgeschlagen. Die sehr viel größeren Massen der Anteilnehmenden haben eine veränderte Art des Anteils hervorgebracht. Es darf den Betrachter nicht irre machen, daß dieser Anteil zunächst in verrufener Gestalt in Erscheinung tritt. Doch hat es nicht an solchen gefehlt, die sich mit Leidenschaft gerade an diese oberflächliche Seite der Sache gehalten haben.

Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Abhandlungen. Gesammelte Schriften, Band I.2. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Sholem hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 503

Ein Freund des Konditors, der Maler Reinhold Klaus, verwandelte sich in diesem Jahr vom Heimatliebhaber in einen Professor für Deutsches Brauchtum an der Kunstgewerbeschule in Wien und malte Waidhofen im Fahnenschmuck und ganz so, wie der Führer seine Städte gern sah. Das Werk hängt immer noch groß und prächtig im Waidhofener Rathaus; nur die Hakenkreuze wurden, wie so vieles in der Nachkriegszeit, rot-weiß-rot übermalt und mußten seither von einem Restaurator mehrmals abgedeckt werden, weil sie im Lauf der Zeit trotz des kräftigen Auftrags der Nationalfarben wieder und wieder durchschlugen.

Christoph Ransmayr: Die vergorene Heimat

wie kein anderes volk liebt das steierervolk seine heimat. es lebt seine heimat.
es identifiziert sich mit ihr. es ist SELBST die steiermark. 
der bach, der stein, das feld, der fluß, der berg, der wald, die ALPEN, die bäume, der wein, der most, das bier, das obst, das gebirge, die höhlen, der boden, das dorf, die stadt, der busch, die vögel, das tier, der steierer, die kleidung, das eigenartige leben – und die inbrünstige beziehung aller untereinander:
DAS IST DAS STEIRERVOLK.
der steirer, der seine heimat liebt – und es gibt keinen anderen, so sind wir eben – liebt sich selbst, weil er selbst die steiermark ist. daher diese brunst.

Gruber, Reinhard P.: Aus dem Leben Hödlmosers. Ein steirischer Roman mit Regie. München: dtv 1988, S. 19

SEKRETÄRIN
Ja, ein Gedicht wäre einmal ein anderer guter Trick.
DICHTER
Also, das Gedicht heißt: Daheim.
Daheim
Von Preiselbeer’n umschlach­tet lag ich da
gestochen wohl vom Brom­beer­strauch
die Schnecke fährt auf ihrem Schleim 
und ich: ich wär’ so gern daheim
Vom Wolf betrachtet lag ich da
die Ameise bekribbelt mich
der Maulwurf gräbt sich in der Erde ein
und ich: ich wär’ so gern daheim
Vom Nadelbaum gepiesackt lag ich da
die Pilze kochen sich ihr Gift
ich stinke wie ein wildes Schwein
und ich: ich wär’ so gern daheim
(Er schweigt bedeutungsvoll)
SEKRETÄRIN
Aber was glitzerst du denn so grantig herum mit deinem Gedicht. Jetzt bist du ja eh daheim.

Werner Schwab: DER REIZENDE REIGEN nach dem Rei­gen des REIZENDEN HERRN ARTHUR SCHNITZLER

Here’s your fifty bucks Mary.
Oh, great, now I can go home.
Home is, where the heart is.
On the Bus…

Frank Zappa: Wet T-Shirt Night

Weiß nicht wohin die Reise geht,
ich glaub nur es ist nie zu spät,
gemeinsam einen Weg zu gehen –
zusammen können wir bestehen.
Austria – verlier’ Deine Seele nicht,
Austria – Du gibst mehr als Du versprichst,
Austria – ich glaub’ an Dich und bau’ auf Dich –
Oh ouwouwouwouwou Austria

Robby Musenbichler. Zit. nach »Muse küßt Musenbichler«. In: Der Standard v. 14/XI/1996, S. 1

I am from Austria. 

Rainhard Fendrich: I am from Austria

Man kann einem wütenden Stier nicht auf diese Art entkommen, das weiß Peter. Er läuft nicht übermäßig schnell, aber seine Kraft ist unerschöpflich. Man muß das Herz haben, den Ansturm ruhig zu erwarten und blitzschnell auszuweichen. Oder man muß versuchen, einen Baum vor sich zu bringen, darin liegt eine ungewisse Möglichkeit, sich vor dem grausigen Schicksal des Zerstampftwerdens zu retten. Rinder töten nicht wie Raubtiere, schnell, aus Blutdurst. Sie sind Mörder ohne Scheu, aus nachhaltiger, blinder Wut, der Tod hält sie nicht auf. Sie ruhen erst, wenn ihr Opfer der Erde gleich geworden ist.

Karl Heinrich Waggerl: Brot. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, S. 225

Das Blut schoß ihm gegen die Schläfen vor Scham über solch batzenweiche Angst, welche er letztlich bekundet hatte. Er bog das Genick wie ein Stier vor dem Sprung. Ging still und schwieg. Gespenstisch schwangen sich die Pappeln an den Sumpfsäumen. Ein paar neue Sterne zitterten durch die Himmelsweite. Itzt steilte sich sacht die Straße bis zum Wetterkreuz, zwischen den Feldern des Schröffel und des Torbäcken. Es war überall schon Umfried der Heimat, die Ruhe der Erbsassen, es war das Gleichmaß eines eng begrenzten Lebens mit vieler Arbeit und wenig Leidenshaft, ganz in sich selbst gefestigt, ganz verschlossen.

Paula Grogger: Das Grimmingtor. Roman. Wien, München, Zürich 1970, p.301

»Heimat ist, wo noch niemand war«, sagt Bloch. Das ist mir die liebste Quintessenz zu diesem Thema.

Jonke, Gert: Individuum und Metamorphose. In: Ders.: Stoffgewitter. Salzburg 1996, S. 30

Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.

Bloch, Ernst: Werkausgabe Bd. 5: Das Prinzip Hoffnung. In fünf Teilen. Werkausgabe Bd. 5.3. Dritte Auflage. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 1628

[…] nun in der wirklichen, in der bebaubaren Erde ein Aas, gut vergraben und auch gut vergessen, doch gerade weil man es so gut vergraben und vergessen hat, hält es sich und stinkt mit jedem Tage ärger. Man riecht es nicht. Aber man atmet es ein und haucht es seinem Nächsten wieder ins Gesicht; man hat den Mund, man hat die Lungen voll davon und bekommt es langsam in den Blutkreislauf. Gott sei Dank! Wir sind gefeit, wir sind immun. Wir sind an unser Klima schon gewöhnt. Wir sagen nur »Heimatluft« und zwinkern uns zu und werden niemals etwas Übles riechen. 

Lebert, Hans: Die Wolfshaut. Roman. Mit einem Nachwort von Jürgen Egyptien. Wien, Zürich 1991, S. 451

Kein Museum, keine Kirche kann mich für den unheilvollen Anblick entschädigen, den mir zum Beispiel das Schaufenster einer Buchhandlung in einer kleinen Stadt liefert: eine repräsentative Fülle von Dummheit, lyrischem Dilettantismus, mißverstandener idyllischer »Heimatkunst« und einer phrasenreichen Anhänglichkeit an eine »Scholle« aus Zeitungspapier und Pappendeckel, in der man höchstens einen Zylinder einpacken kann, die niemals ein Gefühl birgt, keinen Keim und keinen Samen. Aus einem gespenstischen, aber über Millionen Volksgenossen verbreiteten Halb­dämmer steigt da eine Literatur ans Tageslicht, mit Namen schreibender Gespenster, die sich großer Auflagen erfreuen und die aller Gesetze gegen Schmutz und Schund spotten dürfen, weil sie die »Keuschheit« im Schilde führen und die vollbärtige »Männlichkeit« und weil sie die gesamte Zukunft des Dritten Reichs vorwegnehmen. Wieviel Gift in veilchenblauen Kelchen! […] Die adligen Porträts längst verwester Kulturträger in den Galerien verschwinden vor der Fülle der lebendigen zeitgenössischen Gesichter, in denen lediglich der Leitartikel des hirnlosen Provinzblättchens seine Spuren eingegraben hat und über denen das unausrottbare, kecke grüne Hütchen wie der Gipfel einer konfektionierten Natur aus wasserdichtem Lodenfilz schimmert. […] Die hurtige Oberflächlichkeit der großen Städte – und der Sno­bis­mus der mittelgroßen – sind mir, wie Sie wissen, verhaßt. Aber die Dumpfheit des öffentlichen Lebens in den kleinen Städten ist tödlich.

Joseph Roth: Brief aus dem Harz. In: Frankfurter Zeitung vom 14. 12. 1930, S. 418 – Jetzt in: Ders.: Werke in drei Bänden. Bd. 3. Köln 1991, S. 274

Soll man dem nationalen Kretinismus ernsthaft auch noch über Prozesse der geistigen Natur Rechenschaft ablegen? […] Nun, man möge zur Kenntnis nehmen, daß ich wirklich das bin, was sie mit der dümmsten, niedrigsten, ungesehensten Metapher zu bezeichnen lieben: Der Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt. Ich frage den Menschen, der die Tierwelt durch den Vergleich mit sich beschimpft, der es wagt, seine schäbige Denkart in die Sphäre freier  Gottesgeschöpfe einzuschmuggeln, und der seine Eitelkeit im wahrsten Sinn des Wortes mit fremden Federn schmückt – ich frage ihn, ob er denn wirklich glaubt, daß ein Vogel es vorziehen wird, das fremde Nest zu beschmutzen, weil der Mensch ihm das zutraut und weil er seinerseits solche Gemeinheit für praktisch hält. Der Mensch, der die Redensart ersonnen hat, in der seine ganze Selbstsucht mit so naiver Schamlosigkeit zum Ausdruck kommt, ist da offenbar in eine falsche Redensart hineingetreten, in die vom Kuckuck, der seine Eier in fremde Nester legt, und hat diesen Akt des Egoismus in der ihm nächsten Richtung des Schmutzes ausgebaut und vertieft. Doch die Seichtig­keit des Anwurfs, der dieser Redensart zugrundeliegt, ist gar nicht auszuschöpfen. Um Schmutz handelt es sich allerdings. Aber weil der Vogel, der sein Nest schmutzig findet, der Vogel, den sein eigenes Nest beschmutzt, es reinigen möchte, weil er Lust und Mut hat zu dieser Metapher, so sagen die anderen Vögel, die sich im Schmutze wohl fühlen, er »beschmutze« das Nest. Der Zusammenstoß zwischen einer Wirklichkeit und einer Metapher ist immer eine Katastrophe: der Zustand der Schmutzig­keit und dessen Darstellung, die ein beschmutzen genannt wird von jenen, die den Schmutz zwar haben, aber verbergen wollen. Nun, ich habe mein ganzes Leben hindurch nichts anderes als dieses Beschmutzen getrieben und mir dafür den Haß der Schmutzigen bis zu einem Grade zugezogen, der […] ohne Beispiel sein dürfte.

Karl Kraus: Der Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt

Doch das Menschenkind hat noch kein Zuhause.

Walter Benjamin: Eine Chronik der deutschen Arbeitslosen. In: Ders.: Kritiken und Rezensionen. Gesammelte Schriften Bd. III. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 536