Organisationspolitik

Es ist eine alte und wie mir scheint recht unfruchtbare Streitfrage, wie man Kultur und Zivilisation unterscheidet. Ich glaube, wenn man unterscheiden will, ist es am besten, Kultur zu sagen, wo eine Ideologie herrscht und eine noch einheitliche Lebensform, Zivilisation dagegen als den diffus gewordenen Kulturzustand zu definieren. Jeder Zivilisation ist eine Kultur voraufgegangen, die in ihr zerfällt; jede Zivilisation ist ausgezeichnet durch die gewisse technische Beherrschung der Natur und ein sehr kompliziertes – sehr viel Intelligenz forderndes, aber auch schluckendes – System sozialer Beziehungen.
Es wird der Kultur fast immer eine unmittelbarere Beziehung zu den Wesenheiten zugeschrieben, eine Art schicksalhafte Sicherheit der menschlichen Haltung und noch instinktive Sicherheit, der gegenüber dann der Verstand, das Zivilisationsgrundsymptom, eine etwas klägliche Unsicherheit und Indirektheit besitzen soll. Man kennt die Symptome, worauf sich das stützt. Der große, besonders aus der Ferne geschlossen wirkende Gestus von Mythos und Religion, andrerseits die Umständlichkeit, mit dem Verstand das zu sagen, was ein Blick, Schweigen, ein Entschluß viel besser ausdrücken. Der Mensch ist eben nicht nur Intellekt, sondern auch Wille, Gefühl, Unbewußtheit und oft nur Tatsächlichkeit wie das Wandern der Wolken am Himmel. Die aber nur das an ihm sehn, was die Vernunft nicht bewirkt, müßten schließlich das Ideal in einem Ameisen- oder Bienenstaat suchen, gegen dessen Mythos, Harmonie und intuitive Taktsicherheit alles Menschliche vermutlich nichts ist.
Wie schon gesagt, halte ich das Wachstum der Anzahl daran beteiligter Menschen für die Hauptursache des Übergangs von Kultur in Zivilisation. Es ist klar, daß hundert Millionen Menschen zu durchdringen ganz andre Aufgaben stellt als hunderttausend. Die negativen Seiten der Zivilisation hängen zum größten Teil damit zusammen, daß diesem Volumen des sozialen Körpers seine Leitfähigkeit für Einflüsse nicht mehr entspricht. Man betrachte den Höhepunkt vor dem Krieg; Eisenbahn, Telegraph, Telephon, Flugmaschine, Zeitung, Buchhandel, Schul- und Fortbildungssystem, Wehrpflicht: alles völlig unzureichend. Der Unterschied zwischen Großstadt und schwarzgeistigem Land ist größer als der zwischen Rassen. Vollkommene Unmöglichkeit, selbst in der eigenen Schicht in die Voraussetzungen eines andren Gedankenkreises einzudringen außer unter ungeheurem Zeiteinsatz. Folge: schmale Gewissenhaftigkeit oder impetuose Oberflächlichkeit. Mit dem Wachstum der Zahl hält die geistige Organisation nicht Schritt: darauf sind achtundneunzig vom Hundert aller Zivilisationserscheinungen zurückzuführen. Keine Initiative vermag den sozialen Körper auf weitere Strecken zu durchdringen und empfängt Rückwirkung von seiner Totalität. Man kann tun, was man will, Christus könnte auf die Erde wieder niedersteigen: es ist ganz ausgeschlossen, daß er zur Wirkung käme. Die Frage auf Leben und Tod ist: geistige Organisationspolitik. Das ist die erste Aufgabe für Aktivist wie Sozialist; wird sie nicht gelöst, so sind alle andren Anstrengungen umsonst, denn sie ist die Voraussetzung dafür, daß die überhaupt wirken können.

Robert Musil: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind. [März 1921]
In: Ders.: Gesamtausgabe Bd. 9 (2020), S. 388–414, hier S. 411ff.