Inflation

Musil – Ringelspiel auf Usedom / Die fliegenden Menschen – oder die Möglichkeit zu schreiben. Benjamin grätscht in der Einbahnstraße dazwischen, die Berliner Kindheit um Neunzehnhundert wird er nicht mehr erleben. Kinderrausch und der ›Phall‹, die Mutter. Musil verliert derweil das ehemals ererbte Vermögen durch die Inflation; es bleibt ein Nachlass zu Lebzeiten. Niemand überlebt das.

Inflation
Es gab einstmals eine bessere Zeit, wo man auf einem holzsteifen Pferdchen pedantisch wiederkehrend im Kreise ritt und mit einem kurzen Stöckchen nach kupfernen Ringen stieß, die ein Holzarm ruhig hinhielt. Diese Zeit ist vorbei. Heute trinken die Fischerjungen Sekt mit Kognak. Und es hängen an dreißigmal-vier eisernen Kettchen kleine Schaukelbrettchen im Kreis, ein Kreis innen und einer außen, so daß man sich, wenn man nebeneinander fliegt, an Hand oder Bein oder an den Schürzen fassen kann und dazu fürchterlich schreit. Dieses Ringelspiel steht auf dem kleinen Platz mit dem Ehrenstein für die gefallenen Krieger; neben der alten Linde, wo sonst die Gänse sind. Es hat einen Motor, der es zeitgemäß antreibt, und kalkweiße Scheinwerfer über vielen kleinen warmen Lichtern. Der Wind wirft einem, wenn man in der Dunkelheit nähertappt, Fetzen von Musik, Leuchten, Mädchenstimmen und Lachen entgegen. Das Orchestrion brüllt schluchzend. Die Eisenketten kreischen. Man fliegt im Kreis, aber außerdem, wenn man will, aufwärts oder hinab, auswärts und einwärts, einander in den Rücken oder zwischen die Beine. Die Burschen peitschen ihre Schaukeln an und kneifen die Mädel, an denen sie vorbeifliegen, ins Fleisch oder reißen die Aufschreienden mit sich; auch die Mädel haschen einander im Flug, und dann schreien sie zu zweit erst recht so, als ob eine von ihnen ein Mann wäre. So schwingen sie alle durch die Kegel der Helle ins Dunkle und werden plötzlich wieder in die Helligkeit gestürzt; anders gepaart, mit verkürzten Leibern und schwarzen Mündern, rasend bestrahlte Kleiderbündel, fliegen sie auf dem Rücken oder auf dem Bauch oder schräg gegen Himmel und Hölle. Nach einer ganz kleinen Weile dieses wildesten Galopps fällt aber das Orchestrion rasch wieder in Trab, dann in Schritt zurück, wie ein altes Manegepferd, und steht bald still. Der Mann mit dem Zinnteller geht im Kreis, aber man bleibt sitzen oder wechselt höchstens die Mädchen. Und es kommen nicht wie in der Stadt ein paar Tage lang zu dem Ringelspiel wechselnde Menschen; denn es fliegen hier immer die gleichen, vom Einbruch der Dunkelheit an, zwei bis drei Stunden, durch alle acht oder vierzehn Tage hindurch, so lange bis der Mann mit dem Zinnteller ein Nachlassen der Lust spürt und eines Morgens weitergezogen ist.

Robert Musil: Inflation. In: Ders.: Gesamtausgabe Bd. 8, hg. v. Walter Fanta. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2019, S. 415 f. [Teil von Nachlass zu Lebzeiten (1935), ebd., S. 401–545]

Eine Vorstufe zu »Inflation« des NzL ist »Ringelspiel auf Usedom«; diese frühe Fassung steht einem »Tagebuch«-Heft, wird im August 1922 entworfen (H. 21/S. 64 & 66; der Text ist mit Korrekturnotizen zum späteren »Mann ohne Eigenschaften«, hier noch zu Zeiten der Vorstufe »Der Erlöser«, verschränkt) und 1922/23 in Berliner Börsen-Courier, Der Tag, Prager Presse abgedruckt. Titel: »Ringelspiel auf Usedom.« Mit Bleistift daneben eine Variante: »Die fliegenden Menschen.«

Musil, Nachlass, H. 21, S. 64 f.

Ringelspiel auf Usedom.
Die fliegenden Menschen.
Es gab eine Zeit, wo man auf einem bolzsteifen Pferdchen pedantisch genau im Kreise ritt und mit einem stockgeraden Stäbchen nach kupfernen Ringen stieß, die ein steifer Holzarm im Vorbeifahren hinhielt. Diese Zeit ist vorbei. Heute trinken die Fischerjungen Sekt mit Kognak. Und es hängen an dreißig mal vier eisernen Kettchen kleine Schaukelbrettchen im Kreis, ein Kreis innen und einer außen so, daß man sich, wenn man nebeneinander fliegt, an den Händen oder den Beinen oder den Schürzen fassen kann und dazu fürchterlich schreit. Dieses Ringelspiel steht auf dem kleinen Platz mit dem Ehrenstein für die gefallenen Krieger, neben der alten Linde, wo sonst die Gänse sind. Es hat einen Motor, der es zeitgemäß antreibt und Kalkweiße Scheinwerfer über vielen kleinen warmen Lichtern. Der Wind wirft, wenn man in der Dunkelheit nähertappt, Fetzen von Musik, Leuchten, Mädchenstimmen und Lachen einem entgegen. Das Orchestrion brüllt schluchzend. Die Eisenketten kreischen. Man fliegt im Kreis, aber [Seitenwechsel S. 64/66; Anm.] außerdem wenn man will, aufwärts oder hinab, auswärts und einwärts einander in den Rücken oder zwischen die Beine. Die Burschen peitschen ihre Schaukeln an und kneifen die Madel, an denen sie vorbeifliegen, ins Fleisch oder reißen die Aufschreienden mit sich; auch die Madeln haschen einander im Flug und dann schreien sie zu zweit erst recht so, als ob eine ein Mann wäre. So schwingen sie alle durch die Kegel der Helle ins Dunkle und werden plötzlich wieder in die Helligkeit gestürzt, anders gepaart, mit verkürzten Leibern und schwarzen Mündern, rasendbestrahlte Kleiderbündel, fliegen sie auf dem Rücken oder auf dem Bauch oder schräg gegen Himmel und Hölle.
Aber nach einer ganz kleinen Weile dieses wildesten Galopps fällt das Orchestrion rasch in Trab, dann in Schritt zurück wie ein altes Manegepferd und steht schnell still. Der Mann mit dem Zinnteller geht im Kreis, doch man bleibt sitzen oder wechselt höchstens die Mädchen. Und es kommen nicht wie in der Stadt ein paar Tage lang zu dem Ringelspiel wechselnde Menschen, denn es fliegen hier immer die gleichen, vom Einbruch der Dunkelheit an zwei bis drei Stunden, durch alle acht oder vierzehn Tage hindurch, solange bis der Mann mit dem Ringelspiel und dem Zinnteller ein Nachlassen der Lust fühlt und eines Morgens weitergezogen ist.

Musil, Nachlass, H. 21, S. 66 f.

Man halte diesen Musil-Text in welcher Version auch immer neben Walter Benjamins Abschnitt »Karussellfahrendes Kind« (Teil von »Vergrößerungen« in:) Einbahnstraße. Berlin: Rowohlt 1928, S. 42 f. (und lege späterhin den praktisch deckungsgleichen Text »Das Karussell« aus der »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert« dazu, wie er in den meisten Fassungen – Benjamin stellte den Band immer wieder um [ändert sogar alle Präsensformen ins Präteritum!], dann brachen endgültig die Zeitläufe aus und der Band kam erst posthum heraus – erneut vorliegen hätte sollen):

KARUSSELLFAHRENDES KlND. Das Brett mit den dienstbaren Tieren rollt dicht überm Boden. Es hat die Höhe, in der man am besten zu fliegen träumt. Musik setzt ein, und ruckweis rollt das Kind von seiner Mutter fort. Erst hat es Angst, die Mutter zu verlassen. Dann aber merkt es, wie es selber treu ist. Es thront als treuer Herrscher über einer Welt, die ihm gehört. In der Tangente bilden Bäume und Eingeborene Spalier. Da taucht, in einem Orient, wiederum die Mutter auf. Danach tritt aus dem Urwald ein Wipfel, wie ihn das Kind schon vor Jahrtausenden, wie es ihn eben erst im Karussell gesehen hat. Sein Tier ist ihm zugetan: Wie ein stummer Arion fährt es auf seinem stummen Fisch dahin, ein hölzerner Stier-Zeus entführt es als makellose Europa. Längst ist die ewige Wiederkehr aller Dinge Kinderweisheit geworden und das Leben ein uralter Rausch der Herrschaft, mit dem dröhnenden Orchestrion in der Mitte als Kronschatz. Spielt es langsamer, fängt der Raum an zu stottern und die Bäume beginnen sich zu besinnen. Das Karussell wird unsicherer Grund. Und die Mutter taucht auf, der vielfach gerammte Pfahl, um welchen das landende Kind das Tau seiner Blicke wickelt.

Verwiesen sei zudem auf Benjamins Vortrag »Karussell der Berufe« (am 29.12.1930 vom Südwestdeutschen Rundfunk, Frankfurt/M., gesendet), der wiederum mit »Inflation« und »Fliegenden Menschen« sehr eindrucksvoll sich zu einem semantisch vielfältig durchwobenen Feld ausweitet; in der Sache jedoch all diese: Schwindel, Rausch – und darin präzise zerlegend und zusammensetzen, was in diesen medialen Zuständen passiert, welcher Münze Vorderseite die Karusselle sind.