Zentralzeit

Während der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts ging die Londoner Zeit gegenüber derjenigen Readings vier Minuten vor, überholte diejenige von Cirencester um sieben Minuten und dreißig Sekunden und schlug vierzehn Minuten früher als die Glocke in Bridgewater. […] Wenige Jahre später trat die Standardisierung auf den Plan […], wobei diese aber nur jeweils für eine Linie galt – jede Eisenbahngesellschaft definierte ihre eigene Zeit und zwar auf zeremoniöse Weise. In London überbrachte ein Bote der Admiralität dem Wachhabenden auf der von Euston nach Holyhead abgehenden Irischen Post jeden Morgen eine Uhr mit der korrekten Zeit. Bei der Ankunft in Holyhead wurde die Zeit an Beamte auf dem Kingstown Boot übergeben, die sie nach Dublin hinübertrugen. Auf der nach Euston zurückgehenden Post wurde die Uhr dem in Euston wartenden Boten der Admiralität wieder zurückgebracht. 
Schon in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts begannen Charles Wheatstone und Alexander Bain in England und bald danach Matthias Hipp in Württemberg sowie eine Unmenge weiterer Erfinder damit, elektrische Verteilersysteme zu konstruieren, die es erlaubten, weit voneinander entfernte Uhren an eine einzige Zentraluhr anzubinden, die man je nach Nationalität als horloge mère, Primäre Normaluhr und master dock bezeichnete.

Peter Galison: Einstein’s Clocks: The Place of Time. In: Critical Inquiry 26 (Winter 2000) 2, S. 355-389, hier S. 361. (Übersetzung: Wolf Kittler)

Daß für den inneren Betrieb der Eisenbahnen eine Einheitszeit ganz unentbehrlich ist, ist allgemein anerkannt und wird nicht bestritten. Aber, meine Herren, wir haben in Deutschland fünf verschiedene Einheitszeiten. Wir rechnen in Norddeutschland, einschließlich Sachsen, mit Berliner Zeit, in Bayern mit Münchener, in Württemberg mit Stuttgarter, in Baden mit Karlsruher und in der Rheinpfalz mit Ludwigshafener Zeit. Wir haben also in Deutschland fünf Zonen; und alle die Unzuträglichkeiten und Nachtheile, denen wir befürchten an der französischen und russischen Grenze zu begegnen, die haben wir heute im eigenen Vaterlande. Das ist, ich möchte sagen, eine Ruine, die stehen geblieben ist aus der Zeit der deutschen Zersplitterung, die aber, nachdem wir ein Reich geworden sind, billig wegzuschaffen wäre.
Meine Herren, es ist von geringer Bedeutung, daß der Eisenbahnreisende bei jeder neuen Station eine neue Zeitangabe findet, die mit seiner Uhr nicht übereinstimmt. Aber von großer Wichtigkeit ist, daß alle diese verschiedenen Eisenbahnzeiten, zu welchen nun noch sämmtliche Ortszeiten hinzukommen, eine wesentliche Erschwerung für den Betrieb der Eisenbahnen sind, ganz besonders bei den Leistungen, welche für militärische Zwecke von den Eisenbahnen gefordert werden müssen.

Graf Helmuth von Moltke: Dritte Berathung des Reichhaushaltsetats: Reichseisenbahnamt. Einheitszeit. Reichstagssitzung vom 16. März 1891 (Moltkes letzte Rede im Reichstag.). In: Ders.:Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten, Bd. 7: Reden des General-Feldmarschalls Helmuth von Moltke. Berlin 1892, S. 38f. (Zit. nach Wolf Kittler)

Wie, so fragt Einstein, sollten wir Uhren koordinieren?»Wir könnten uns allerdings damit begnügen, die Ereignisse dadurch zeitlich zu werten, daß ein samt Uhr im Koordinatenursprung befindlicher Beobachter jedem durch den leeren Raum zu ihm gelangenden Lichtzeichen, das ein zu wertendes Ereignis bezeugt, die entsprechende Uhrzeigerstellung zuordnet.«Da das Licht aber, so bemerkt Einstein, sich, ach, mit endlicher Geschwindigkeit bewegt, ist dieses System nicht unabhängig von dem Beobachter mit der Zentraluhr. Zwei Ereignisse, die mit Bezug auf ein und denselben Ursprung als gleichzeitig zu bewerten sind, werden nicht mehr gleichzeitig sein, wenn der Ursprung sich bewegt. Dieser epistemische Strohmann wird also kein gutes Zeitmaß abgeben […].
Der junge Einstein hatte eine bessere Idee: Man lasse einen Beobachter Aein Lichtsignal an einen zweiten Beobachter über eine Entfernung senden. Bstellt seine Uhr auf zwölf plus der Zeit, die das Lichtsignal braucht, um bei anzukommen, also auf zwölf + d/c, wobei cdie Lichtgeschwindigkeit notiert. Wenn man in dieser Weise in allen Richtungen fortfährt, werden alle Beobachter und ihre Uhren miteinander synchronisiert sein. Dieses System kennt keinen Ursprung, keine Zentraluhr.

Peter Galison: Einstein’s Clocks: The Place of Time. In: Critical Inquiry 26 (Winter 2000) 2, S. 355-389, hier S. 358. (Übersetzung: Wolf Kittler.) Das Einstein-Zitat findet sich unter Albert Einstein: Zur Elektrodynamik bewegter Körper. In: Annalen der Physik, 4. Folge, Bd. 17, Leipzig 1905, S. 891-921, hier S. 893.

Eine kaiserliche Botschaft
Der Kaiser – so heißt es – hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten hat er beim Bett niederknieen lassen und ihm die Botschaft ins Ohr zugeflüstert; so sehr war ihm an ihr gelegen, daß er sie sich noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er die Richtigkeit des Gesagten bestätigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines Todes – alle hindernden Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs – vor allen diesen hat er den Boten abgefertigt. Der Bote hat sich gleich auf den Weg gemacht; ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann; einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend schafft er sich Bahn durch die Menge; findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne ist; er kommt auch leicht vorwärts, wie kein anderer. Aber die Menge ist so groß; ihre Wohnstätten nehmen kein Ende. Öffnete sich erst freies Feld, wie würde er fliegen und bald wohl hörtest Du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an Deiner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos müht er sich ab; immer noch zwängt er sich durch die Gemächer des innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müßte er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor – aber niemals, niemals kann es geschehen – liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. – Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt.

Franz Kafka: Eine kaiserliche Botschaft. In: Drucke zu Lebzeiten, Bd. 1. Hg. v. Hans-Gerd Koch, Wolf Kittler u. Gerhard Neumann. New York, Frankfurt/M. 1994, S. 280-282.

Franz Kafka hörte am 24. Mai 1911 einen Vortrag Albert Einsteins über die Relativitätstheorie. Dieser war knapp davor auf den Prager Lehrstuhl für theoretische Physik berufen worden.