Ich erinnere mich, wie er Walsers Skizze Gebirgshallen mit ungeheurer Lustigkeit, ja geradezu saftig vortrug. Ich war allein mit ihm, aber er las wie vor einem Publikum von Hunderten. Er unterbrach manchmal: »Jetzt aber höre mal, was nun kommt.« – Eine besondere Redewendung kostete er aus, es machte ihm Freude, sie oft zu wiederholen. […] Hatte er nun das Werkchen auf Details hin vorgelesen, sagte er, am Ende angelangt: »Und jetzt höre einmal das Ganze.« Nun las er ohne Unterbrechung. Er hatte dann Lust, noch ein drittes Mal anzufangen. Sah mich aber quasi bemitleidend an: »Nun hast du genug, nicht wahr?«
Brod, Max: Kafka liest Walser. In: Über Robert Walser. Bd. 1. Hg. v. Katharina Kerr. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1978, p.85f.
Franz Kafka las somit Brod (offen bleibt, ob er genug hatte) zufolge Robert Walsers kongeniale »Gebirgshallen«, die in Ausschnitten u.a. wie folgt sich darstellen:
Kennen Sie die Gebirgshallen unter den Linden? Vielleicht probieren Sie einmal den Gang dorthin. Der Eintritt kostet nur dreißig Pfennige. Wenn Sie die Kassiererin auch Brot oder Wurst essen sehen, so müssen Sie nicht degoutiert umkehren, sondern sogleich bedenken, daß es Abendbrot ist, welches da verzehrt wird. Die Natur fordert überall ihre Rechte. Wo Natur ist, da ist Bedeutung […] In der Seele geschmeichelt, treten Sie näher an den Gletscher heran, es ist dies die Bühne, eine geologische, geographische und architektonische Merkwürdigkeit. […] Wo haben Sie Ihren Bergstock? Zu Hause gelassen? Das nächste Mal müssen Sie wohl oder übel sportmäßig ausgerüstet im Gebirge erscheinen, für alle Fälle. Besser ist besser. […] Nun öffnet sich Ihnen wieder der Bühnen-Gletscherspalt, und eine dänische Liedersängerin wirft Sie mit Tönen und Anmutsschneeflocken an. Sie nehmen gerade einen Schluck von Ihrer kuhwarmen Gebirgsmilch. […] Vielleicht treffen Sie dort auch mich wieder einmal an. Ich aber werde Sie gar nicht kennen, ich pflege dort, von Zaubereien gebannt, still zu sitzen. Ich lösche dort meine Dürste, Melodien wiegen mich ein, ich träume.
Walser, Robert: Gebirgshallen. In: R.W.: Sämtliche Werke Bd. 3: Aufsätze. Hg. v. Jochen Greven. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985, p.42-44.
Stimmen waren für Kafka mit eines der spannendsten, vielseitig einsetzbarsten Medien. Die Techniken der Aufzeichnung und Übertragung optischer und akustischer Reize verbinden sich während seiner Lebens- und Schaffensjahre zu einer neuen Gesamterfahrung der Welt – und ihre Konfusion zeichnet Kafka beispielsweise in einem Tagebucheintrag vom 28. Februar 1912 nach, als er gegen »Flüsterstimmen offenbar von Tagblattredakteuren« mit der Bohemia Kontakt aufzunehmen und das Postfräulein zur Herstellung der Verbindung zu bewegen versucht. (cf. Kafka, Franz: Gesammelte Werke Bd. 10: Tagebücher Bd. 2: 1912-1914. Nach d. Kritischen Ausg. hg. v. Hans-Geerd Koch. Frankfurt/Main: Fischer 1994, hier p.45f.)