»Wissen Sie, wie Rundreisebillette aussehen?« fragte mich der kaufmännische Direktor. Erstaunt nickte ich. »ich werde Ihnen unsere Rundreisebillette zeigen.« Wir betreten einen Raum, dessen eiserne Regale unzählige Heftchen bergen, die in der Tat Rundreisebilletten aufs Haar gleichen. Sie enthalten zusammengefaltet alle zur Erledigung des Arbeitsvorgangs erforderlichen Formulare. Der Arbeitsvorgang: das ist die Summe der Verrichtungen, die vom Eintreffen des Auftrags bis zum Abtransport der bestellten Ware auszuführen sind. Leitet der Auftrag eine Reise ein, so wird die innehaltende Route durch die Formulare festgelegt, und gewiß könnte keine Konzertagentur die Tournee eines Virtuosen genauer im voraus bestimmen. Die Apparatur im Büro des Betriebsleiters, der den gesamten Reiseverkehr zu überwachen hat, verhält sich zu der frei erfundenen Büroausstattung im Spione-Film Fritz Langs wie ein phantastischer Sonnenuntergang zu einem echten Öldruck. […]
Eine Menge von Mädchen ist gleichmäßig im Saal der Powers-Maschinen verteilt, locht Karten und schreibt. Die Powers-(oder die Hollerith-)Maschinerie, die zu Buchungen und zu allen möglichen statistischen Zwecken verwandt wird, vollbringt auf mechanischem Wege Leistungen, zu deren Bewältigung es früher der nie mit automatischer Sicherheit funktionierenden Kopfarbeit und einer ungleich längeren Dauer bedurft hätte. Der Träger der maschinellen Verarbeitung ist die mit Ziffernreihen bedeckte Lochkarte, auf der sich die betriebswichtigen Positionen in Zahlen darstellen lassen. Jede Karte wird mit Hilfe der Lochmaschine gelocht und enthält dann den Buchungsvorgang in Lochschrift. Die fertigen Karten wandern in den Nachbarraum zu den Sortier- und Tabelliermaschinen. Jene ordnen im Handumdrehen das Material nach den verschiedenen Positionen, diese schreiben die gelochten Zahlen in der gewünschten Tabellenform nieder und addieren selbsttätig die Kolonnen. Herren bedienen die schweren Ungetüme, deren Radau das eintönige Geklapper der lochenden Mädchen gewaltig übertrift. Ich erkundige mich bei dem Bürovorsteher nach der Arbeitsweise der Maschinistinnen.
»Die Mädchen«, erwidert er, »lochen nur sechs Stunden und sind während der übrigen zwei Stunden als Kontoristinnen beschäftigt. So wird ihre Überanstrengung vermieden. Das vollzieht sich in einem bestimmten Turnus, so daß jede Angestellte an alle Arbeiten kommt. Aus hygienischen Gründen schalten wir überdies von Zeit zu Zeit kurze Lüftungspausen ein.«
Welch eine Konstruktion – sogar die Lüftungsventile vergessen sie nicht. […]Wir gehen dann noch zur Lohn- und Personalabteilung, in der lauter vorgedruckte Formulare durch die Buchungsmaschine getrieben werden.
Wie strapaziös die mechanische Dauertätigkeit in Wirklichkeit ist, geht mittelbar darum hervor, daß etliche mir bekannte Betriebe sie gleich dem oben geschilderten auf einen Bruchteil der Arbeitszeit beschränken und dem Maschinenpersonal fast durchweg Sonderzulagen zahlen. Daß den Maschinen so gern Mädchen vorgesetzt werden, rührt unter anderem von der angeborenen Fingergeschicklichkeit der jungen Dinger her, die freilich eine zu weit verbreitete Naturgabe ist, um ein hohes Tarifgehalt zu rechtfertigen. Als es dem Mittelstand noch besser ging, fingerten manche Mädchen, die jetzt lochen, auf den häuslichen Pianos Etüden. Ganz ist immerhin die Musik nicht aus jenem Prozeß geschwunden, den das Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit wie folgt definiert: »Rationalisierung ist die Anwendung aller Mittel, die Technik und planmäßige Ordnung bieten, zur Hebung der Wirtschaftlichkeit und damit zur Steigerung der Gütererzeugung, zu ihrer Verbilligung und auch zu ihrer Verbesserung.« Ganz ist sie nicht dahin. Ich weiß von einem Industriewerk, das die Mädchen mit einem Gehalt vom Lyzeum wegengagiert und sie durch einen eigenen Lehrer auf der Schreibmaschine ausbilden läßt. Der schlaue Lehrer kurbelt ein Grammophon an, nach dessen Klängen die Schülerinnen tippen müssen. Wenn lustige Militärmärsche ertönen, marschiert sich’s noch einmal so leicht. Allmählich wird die Umlaufgeschwindigkeit der Platte erhöht, und ohne daß es die Mädchen recht merken, klappern sie immer rascher. Sie werden in den Ausbildungsjahren zu Schnellschreiberinnen, die Musik hat das billig entlohnte Wunder bewirkt.
Siegfried Kracauer: Kurze Lüftungspause. In: Ders.: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. [1930] Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971, S. 26–34, hier S. 26f., 27f., 28, 29f.