Wenn wir uns grundsätzlich vom Begriff des determinierten Systems trennen, so wird damit zugleich deutlich, daß die funktionale Systemtheorie keineswegs den maschinenartigen oder apparatehaften Aspekt der Bürokratie betont. Die Ablehnung des Maschinenmodells ist zwar heute ein geläufiger Programmpunkt der Organisationswissenschaft. Sie wird aber gewöhnlich entweder aus sozialphilosophischen oder humanitären Gründen vorgebracht, oder weil sich bei sorgfältiger empirischer Beobachtung herausstellt, daß Organisationen tatsächlich nicht so gut wie Maschinen funktionieren. Demgegenüber vollzieht die funktionale Systemtheorie die Abkehr vom Maschinenmodell innerhalb der Rationaltheorie der Verwaltung. Der Prototyp Maschine ist aus ihrer Sicht gesehen als System nicht rational, weil er den Problemen umweltoffener Handlungssysteme nicht annähernd gerecht wird. Verwaltungen müssen nach Maßgabe völlig anderer Vorstellungen geleitet und rationalisiert werden.
Niklas Luhmann: Die Grenzen der Verwaltung [1963/64]. Hg. v. Johannes F. K. Schmidt u. Christoph Gesigora. Mit einem Nachwort v. André Kieserling u. Johannes F. K. Schmidt. Berlin: Suhrkamp 2021, S. 52.
Mit oberflächlichen Analogien zwischen Chefzimmern und heiligen Orten, Organisation und Maschine, Autorität und Befehl oder den Pedanterien der Aktenführung und den Ritualien des Fruchtbarkeitszaubers ist es freilich nicht getan. Äquivalenzen lassen sich überzeugend und begründbar nur aufdecken, wenn die Bezugsprobleme hinreichend abstrahiert und klar verstanden sind. Das Recht zu malerischen und konkreten Ausarbeitungen muß auf einem langen Umweg durch eine hochabstrahierte Theorie sozialer Handlungssysteme verdient werden.
Luhmann, Niklas: Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Dunkler & Humblot 1964, S. 20.
Determinierte Systeme waren das Ideal des ontologischen Denkens, weil sie nur je einen Seinszustand annehmen können (und alle anderen ausschließen). Auf Änderungen der Umwelt, die sie betreffen, können sie in nur einer und daher stets vorhersehbaren Weise reagieren. Sie lassen sich somit von außen präzise steuern. Ihr Prototyp ist die Maschine. [FN ☟] Durch ihre Determiniertheit sind sie jedoch unelastisch. Sie setzen eine eindeutig auf sie zugeschnittene Umwelt voraus, die ihnen in genau vorgezeichneter Weise betriebsnotwendige Unterstützung liefert. In einer indifferenten oder gar feindseligen Umwelt können sie nicht bestehen.
Luhmann, Niklas: Zweck – Herrschaft – System. Grundbegriffe und Prämissen Max Webers. In: Der Staat 3 (1964), S. 129–158 — hier zit. nach: Luhmann, Niklas: Zweck – Herrschaft – System. Grundbegriffe und Prämissen Max Webers. In: Schriften zur Organisation 1: Die Wirklichkeit der Organisation. Hg. v. Ernst Lukas u. Veronika Tacke. Wiesbaden: Springer 2018, S. 153–184, S. 174.
[☝︎ FN:] Gegen die Analogie von sozialen Systemen und Maschinen (oder Apparaten), die auch bei Weber zumindest im bildhaft-metaphorischen Sprachgebrauch anklingt, ist man viel zu Felde gezogen, um die Menschlichkeit des Menschen zu retten. Der fehlerhafte Angelpunkt der Analogie ist aber selten erkannt und deshalb selten verworfen worden. Er liegt nicht im Mechanischen der Bewegung, sondern darin, daß alle Teile der Maschine einem einzigen Zweck zugeordnet sind, während soziale Systeme multifunktional gebildet und rationalisiert werden müssen.
Ibid.
Luhmann zieht gegen die Maschinen-Metaphorik der beiden Weber vom Leder. (Vgl. zu den entsprechenden Passagen und seiner Grundlage, einer Arbeit Harvey Leibensteins: Maschinenstrickmuster verwalten!)Beide waren mit der Apparat/Maschinen-Metaphern für Verwaltung und Bürokratie 1909 aufgefallen. Natürlich in Wien. (cf. Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik in Wien, 1909, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 132, Leipzig 1910: Max W. S. 282–287, Alfred W. S. 238–248)
Alfred Weber: Der Beamte. In: Die neue Rundschau, Jg. XXI, H. 10, Oktober 1910, S. 1321–1339
Max Weber: [Bürokratismus.] In: Wirtschaft und Gesellschaft, Teilband 4: Herrschaft. Tübingen: Mohr 2009, S. 12–45.
Bei einer der anschließenden Debatten machte sich Max W. für seinen Bruder Alfred stark und rieb wie folgt auf:
Dann knüpfe ich an einige Ausführungen meines Bruders an. Wenn wir auch in manchen Dingen verschiedener Meinung sind, in diesem Punkte kann ich nur sagen, ist die Uebereinstimmung vollkommen. Mein Bruder ist sicherlich ebenso wie Herr Geheimrat Wagner und ebenso wie ich überzeugt von der Unaufhaltsamkeit des Fortschritts der bureaukratischen Mechanisierung. In der Tat: Es gibt nichts in der Welt, keine Maschinerie der Welt, die so präzis arbeitet, wie diese Menschenmaschine es tut – und dazu noch: so billig! Es ist z. B. notorisch ein Unsinn, zu sagen: die Selbstverwaltung müsse doch billiger sein, weil sie im Ehrenamt erledigt werde. Wenn man in einer rein technisch tadellosen Verwaltung, in einer präzisen und genauen Erledigung sachlicher Aufgaben das höchste und einzige Ideal sieht – ja, von diesem Gesichtspunkt aus kann man sagen: Zum Teufel mit allem anderen, und nichts als eine Beamtenhierarchie hingesetzt, die diese Dinge sachlich, präzis, »seelenlos« erledigt, wie jede Maschine. Die technische Ueberlegenheit des bureaukratischen Mechanismus steht felsenfest, so gut wie die technische Ueberlegenheit der Arbeitsmaschinen gegenüber der Handarbeit. Aber als der Verein für Sozialpolitik gegründet wurde, war es die Generation, der Herr Geheimrat Wagner angehört, die damals ebenso verschwindend an Zahl war, wie wir anders Denkenden heute es Ihnen gegenüber sind, welche nach anderen als solchen rein technischen Maßstäben rief. Sie, meine Herren, haben damals gegen jene Beifallssalve für die rein technologischen Leistungen der industriellen Mechanisierung, wie sie die Manchesterlehre damals darstellte, zu kämpfen gehabt. Mir scheint, Sie sind beute in Gefahr, sich selbst in eine ebensolche Beifallssalve für das Maschinenwesen auf dem Gebiete der Verwaltung und Politik zu verwandeln. Denn was ist es letztlich anders, was wir von Ihnen gehört haben? Stellen Sie sich die Konsequenz jener umfassenden Bureaukratisierung und Nationalisierung vor, die wir bereits heute im Anzuge sehen. In den Privatbetrieben der Großindustrie sowohl, wie in allen modern organisierten Wirtschaftsbetrieben überhaupt reicht die »Rechenhaftigkeit«, der rationale Kalkül, heute schon bis auf den Boden herunter. Es wird von ihm jeder einzelne Arbeiter zu einem Rädchen in dieser Maschine und innerlich zunehmend darauf abgestimmt, sich als ein solches zu fühlen und sich nur zu fragen, ob er nicht von diesem kleinen Rädchen zu einem größeren werden kann. Nehmen Sie als Spitze die autoritäre Gewalt des Staats oder der Gemeinde in einem monarchistischen Staatswesen, dann erinnert das lebhaft an das Aegyptertum der Antike, das von diesem Geist des »Pöstchens« durchtränkt war von oben bis unten. Es hat nie eine Bureaukratie gegeben, bis heute nicht, die an die ägyptische Bureaukratie herangereicht hätte. Das steht für jeden fest, der ägyptische Verwaltungsgeschichte kennt und es steht ebenfalls felsenfest, daß wir heute unaufhaltsam einer Entwicklung entgegeneilen, die recht genau diesem Vorbilde, nur auf anderer Grundlage, auf technisch verbesserter, rationalisierter, also noch weit stärker mechanisierter Grundlage folgt. Die Frage, die uns beschäftigt, ist nun nicht: Wie kann man an dieser Entwicklung etwas ändern? – Denn das kann man nicht. Sondern: Was folgt aus ihr? Wir erkennen ja sehr gern an, daß oben an der Spitze unseres Beamtenturns ehrenhafte und begabte Leute stehen, daß trotz aller Ausnahmen auch solche Leute Chance haben, in der Hierarchie des Beamtentums emporzukommen, ganz ebenso, wie z. B. die Universitäten für sich in Anspruch nehmen, daß trotz aller Ausnahmen sie eine Chance, eine Auslese für die Begabten bilden. Aber so fürchterlich der Gedanke erscheint, daß die Welt einmal etwa von nichts als Professoren voll wäre – wir würden ja in die Wüste entlaufen, wenn so etwas einträte -, noch fürchterlicher ist der Gedanke, daß die Welt mit nichts als jenen Rädchen, also mit lauter Menschen angefüllt sein soll, die an einem kleinen Pöstchen kleben und nach einem etwas größeren Pöstchen streben – ein Zustand, den Sie, wie in den Papyri, so zunehmend im Geiste des heutigen Beamtenturns und vor allem seines Nachwuchses, unseren heutigen Studenten, wiederfinden. Diese Leidenschaft für die Bureaukratisierung, wie wir sie sich hier äußern hörten, ist zum Verzweifeln. Es ist, als wenn in der Politik der Scheuerteufel, mit dessen Horizont der Deutsche ohnebin schon am besten auszukommen versteht, ganz allein das Ruder führen dürfte, als ob wir mit Wissen und Willen Menschen werden sollten, die »Ordnung« brauchen und nichts als Ordnung, die nervös und feige werden, wenn diese Ordnung einen Augenblick wankt, und hilflos, wenn sie aus ihrer ausschließlichen Angepaßtheit an diese Ordnung herausgerissen werden. Daß die Welt nichts weiter als solche Ordnungsmenschen kennt – in dieser Entwicklung sind wir ohnedies begriffen, und die zentrale Frage ist also nicht, wie wir das noch weiter fördern und beschleunigen, sondern was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen haben, um einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bureaukratischer Lebensideale.
Max Weber: Debattereden auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik in Wien 1909 zu den Verhandlungen über »Die wirtschaftlichen Unternehmungen der Gemeinden«. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik. Hg. v. Marianne Weber. Tübingen: Mohr 1924, S. 412–416, hier S. 413f.
Und Max Weber endigt seine Ausführungen:
Sind wir es denn, die vorwärts gekommen sind auf diesem Gebiete oder wer ist es? Demokratisch regierte Länder mit einem zum Teil zweifellos korrupten Beamtentum haben sehr viel mehr Erfolge in der Welt erzielt, als unsere hochmoralische Bureaukratie, und wenn man rein »realpolitisch« urteilen soll und wenn ferner es sich letztlich um die Machtgeltung der Nationen in der Welt handelt – und viele von uns stehen doch auf dem Standpunkt, daß das der letzte, endgültige Wert sei –, dann frage ich: welche Art der Organisation: – privatkapitalistische Expansion, verbunden mit einem reinen business-Beamtentum, welches der Korruption leichter ausgesetzt ist, oder staatliche Lenkung durch das hochmoralische, autoritär verklärte deutsche Beamtentum –, welche Art der Organisation hat heute die größte »efficiency«? – um einen englischen Ausdruck zu gebrauchen –, und dann kann ich vorläufig nicht anerkennen, bei aller tiefen Verbeugung vor dem ethisch korrekten Mechanismus der deutschen Bureaukratie, daß sie heute noch sich fähig zeige, auch nur so viel zu leisten für die Größe unserer Nation, wie das moralisch vielleicht tief unter ihr stehende ausländische, seines göttlichen Nimbus entkleidete Beamtentum, verbunden mit dem nach Ansicht vieler von uns so höchst verwerflichen Gewinnstreben des privaten Kapitals.
Ibid., S. 416.