Walther Rathenau, der mit vielen Eigenschaften und Gütern versehen bekanntlich nicht wenig mit der Figur des Paul Arnheim in Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« zu tun hat, verfasste am 22. Dezember 1913 (in ebendiesem Jahr hatte sein Buch »Mechanik des Geistes« – dem er ein »Reich der Seele« gegenüberzusetzen empfahl –, erschienen im S. Fischer Verlag, in der »Neuen Rundschau« ebendieses Verlags durch Robert Musil eine am Rande zum Eklat entlang verfasste, negative Rezension erfahren; Musil wird in weiterer Folge in seinem MoE nicht verfehlen, Arnheim Rathenaus Worte und Ulrich seine eigenen Reflexionen & Einwände entsprechend dieser Rezension paraphrasiert bis wortgetreu in die fiktiven Münder zu setzen) in Berlin für die Neue Freie Presse in Wien einen Artikel über »Deutsche Gefahren und neue Ziele«. Paul Arnheim wird – obwohl Preuße und dann gerade auch deshalb – zu diesem Zeitpunkt längst in die Parallelaktion eingebunden sein und seine durchaus vielfältigen, nicht nur ökonomischen Ziele verfolgen. Um diese ist es Rathenau eben bereits 1913 sehr wesentlich auch zu tun, wobei es nicht unwesentlich auch um Maßnahmen zur Stärkung der deutschen Wirtschaft geht, mit der die AEG auf das Engste verknüpft war. Im S. Fischer Verlag wird der Aufsatz im Rahmen der Gesammelten Schriften (1. Bis 4. Auflage) 1918 erneut zum Abdruck gelangen. 1922 wird Rathenau ermordet.
Es bleibt eine letzte Möglichkeit: die Erstrebung eines mitteleuropäischen Zollvereins, dem sich wohl oder übel, über lang oder kurz die westlichen Staaten anschließen würden. Früher als wir, beginnen einzelne unserer Nachbarstaaten, die nicht über unsern gewaltigen Binnenkonsum verfügen, die Unbilden der wirtschaftlichen Isolation zu spüren. Ihre Industrien fristen ihr Dasein auf der engen Grundlage nationaler Syndikate, die sich durch Preisverteuerung im Inland für den Mangel an Ausdehnungskraft und selbständiger technischer Entwicklung entschädigen. Die industrielle Zukunft gehört der schöpferischen Technik, und schöpferisch kann sie nur da sich betätigen, wo sie unter frischem Zuströmen menschlicher und wirtschaftlicher Kräfte sich dauernd im Wachstum erneuert. So wie die einstmals vorbildliche Maschinenindustrie der Schweiz die Führung an die Länder großem Konsums abtreten mußte, so folgen heute zahlreiche Industrien der deutschen Vormacht; aber wir werden dieser Erbschaften nicht froh; auch uns wäre es besser, wenn wir manche Naturkraft, manche begünstigte Produktionsstätte und manchen unerschlossnen Verbrauchskreis unserer Nachbarschaft in das Netz einer allgemeinen Wirtschaft einbeziehen dürften.
Die Aufgabe, den Ländern unserer europäischen Zone die wirtschaftliche Freizügigkeit zu schaffen, ist schwer; unlösbar ist sie nicht. Handelsgesetzgebungen sind auszugleichen, Syndikate zu entschädigen, für fiskalische Zolleinnahmen ist Aufteilung [NFP: »Repartierung«] und für ihre Ausfälle Ersatz zu schaffen [NFP: »besorgen«]; aber das Ziel würde eine wirtschaftliche Einheit schaffen, die der amerikanischen ebenbürtig, vielleicht überlegen wäre, und innerhalb des Bandes würde es zurückgebliebene, stockende [NFP: »stagnierende«] und unproduktive Landesteile nicht mehr geben.
Gleichzeitig aber wäre dem nationalistischen Haß der Nationen der schärfste Stachel genommen. Denn[,] wenn man sich fragt, warum die Staaten zur Erbitterung ihrer Wettkämpfe getrieben werden, warum sie sich Kräfte, Rechte, Bündnisse und Besitztümer neiden, warum das Glück des einen der Schaden des andern ist; es sind längst nicht mehr Religionen, Sprachen, Kulturen und Verfassungen, die sie entfremden. Kulturformen und Zivilisationen vereinigen sich friedlich innerhalb aller bekannten Landesgrenzen; Verfassungen lösen sich ab und hinterlassen leichtbesänftigte Spuren. Was dem Engländer unmöglich macht, in Deutschland heimisch zu werden, was dem Deutschen einen [Einschub 1918: »längern«] Aufenthalt in Frankreich verleidet, sind Formen niederer Verwaltungspraxis, Polizei-, Steuer- und Aufsichtsfragen. Was aber die Nationen hindert, einander zu vertrauen, sich aufeinander zu stützen, ihre Besitztümer und Kräfte wechselweise mitzuteilen und zu genießen, sind nur mittelbar Fragen der Macht, des Imperialismus und der Expansion: im Kerne sind es Fragen der Wirtschaft. Verschmilzt die Wirtschaft Europas zur Gemeinschaft, und das wird früher geschehen als wir denken, so verschmilzt auch die Politik. Das ist nicht der Weltfriede, nicht die Abrüstung und nicht die Erschlaffung, aber es ist Milderung der Konflikte, Kräfteersparnis und solidarische Zivilisation.
Walther Rathenau: Deutsche Gefahren und neue Ziele. In: Neue Freie Presse v. 25.12.1913, S. 4–5, hier S. 5.
Walther Rathenau: Deutsche Gefahren und neue Ziele. In: Ders.: Gesammelte Schriften in fünf Bänden. Band 1. Berlin: S. Fischer 1918, S. 263–277, hier S. 275–277.