Tagebücher liest man am besten wie die unmittelbar damit verwandten Genres der Kriminalromane und Ästhetische Theorien: ordentlich vom Anfang her. Dann setzen die ab 1879 (bis zum Tod 1931) erhaltenen Tagebücher Arthur Schnitzlers mit der Enthüllung bzw. Aufdeckung eines Tagebuchs ein, das nur noch im erinnernden (zum Zeitpunkt der Eintragung vielleicht bereits erinnerten) Notat existiert. Das Bezeichnende überlebt das Bezeichnete, das Signifikat kann nur noch im Signifikanten präsent gehalten werden: »Ein Tagebuch wird gefunden, gerade das letzte (über Emilie). Große Scenen mit meinem Vater.–« (19/III/1879) Damit ist eine Motivation – ein roter Faden – benannt, an dem in der Folge das Tagebuch (sowie die mit dem Aufschreiben verbundene Intention) ausgerichtet wird. Derart programmatische Auftakte, meist weitaus unverhüllter und der Tradition diaristischen Schreibens deutlicher verpflichtet, finden sich zu Beginn zahlreicher Tagebücher, etwa in denen Friedrich Hebbels:
Ich fange dieses Heft nicht allein meinen künftigen Biographen zu Gefallen an, obwohl ich bei meinen Aussichten auf die Unsterblichkeit gewiß sein kann, daß ich einen erhalten werde. Es soll ein Notenbuch meines Herzens sein, und diejenigen Töne, welche mein Herz angibt, getreu, zu meiner Erbauung in künftigen Zeiten, aufbewahren.
Witold Gombrowicz besteht weitaus deutlicher auf einem ästhetischen Subjektivismus der Tagebuchführung, wobei zwar einerseits den gewandelten Vorstellungen moderner Lebensdarstellung Rechnung getragen wird, andererseits jedoch das Element einer ›Bevorwortung‹, die Bekanntgabe ›programmatischer‹ Absichten, nach wie vor zu berücksichtigen ist: »MONTAG [/] Ich. [/] DIENSTAG [/] Ich. [/] MITTWOCH [/] Ich. [/] DONNERSTAG [/] Ich.«
Franz Kafkas an den Anfang des Journals gesetzter Ausweis eines ästhetischen Subjektivismus – »Die Zuschauer erstarren, wenn der Zug vorbeifährt.« –, sein erstes entsprechend eingeordnetes und erhaltenes Tagebuch-Notat, das nach dem 24. Mai 1909 möglicherweise von einem Kinoerlebnis (dem Kurzfilm der Lumières, »L’ Arrivée d’un train à la gare de La Ciotat«) berichtet, könnte ebenfalls in diesem Sinn verstanden werden. Die Eliminierung des ›Ich‹ ist bloß eine scheinbare. Vielmehr heben die Konzentration auf eine Ansammlung und deren Observierung (der Schreibende weiß, dass der Zug vorbeifährt) das ›Ich‹ in den ihm zustehenden Rang.
Etwa 250 Jahre früher entstanden – und geradezu programmatisch mit einem 1. Jänner einsetzend –, präsentieren sich auch die Tagebücher Samuel Pepys’ als Ausweis der Ich-Bezogenheit des Schreibenden wie seiner Protokollierung des Alltagslebens. Noch vor dem Eintrag zum 1. Jänner 1660 hält er wesentliche Ereignisse des vergangenen Jahres und zentrale Parameter seines gegenwärtigen Lebens fest, einsetzend mit: »Gott sei Dank, am Ende des letzten Jahres war ich bei sehr guter Gesundheit, ohne irgendwelche Spuren meiner alten Schmerzen […].«
Pietistisch und aus dem bäuerlich-ländlichen Umfeld einer teilweise illiteraten – bzw. der Buchkultur mit Abneigung begegnenden – Gesellschaft heraus, widmet Ulrich Bräker den Auftakt seiner Tagebücher sowohl dem eigenen Sein und Schaffen, als auch Gott: »was mir mein gott gibt für die hand, [/] das wil ich hier aufschriben. [/] ach Jesu laß in deiner kraft. [/] mich dise arbeit treiben. las Jesu liebe nur allein, [/] das ziel der zwek im schreiben sein.«
Klaus Manns erhaltene Tagebücher setzen im Oktober 1931 mit dem Motiv des Neuanfangs ein:
9.X. […] München. Durch die (übrigens sehr amüsante und aufschlussreiche) Lektüre der alten Tagebücher (1919-20) für Kindheitsbuch auf den Einfall gekommen, wieder Tagebuchartiges aufzuschreiben. Will mich aber an Sachlichstes halten. […]
Weniger »amüsant« (allenfalls »aufschlussreich«) dürften seine Eltern die Lektüre empfunden haben – Thomas Mann notiert im Mai 1920 im eigenen Tagebuch:
Mittwoch den 5. V. […] Gestern abend erschütterndes Vorkommnis mit K. Sie hatte Klaus’ Tagebuch offen liegend gefunden und gelesen. Ohne gerade eigentlich Schlechtigkeit zu offenbaren, zeugt es von so ungesunder Kälte, Undankbarkeit, Lieblosigkeit, Verlogenheit, abgesehen von den literarisch-radikalistischen Flegeleien und Albernheiten, daß das arme Mutterherzchen tief enttäuscht und verwundet war. […]
Robert Musils Tagebuchbeginn wiederum verweist in Form einer Überschrift sowohl eindeutig auf die Reflexion der Gattung wie auch die persönliche Bezugnahme: »Blätter an dem Nachtbuche des monsieur le vivisecteur.«
Neulich habe ich für mich einen sehr schönen Namen gefunden: monsieur le vivisecteur. […] monsieur le vivisecteur ÷ –ich ! [/] Mein Leben: – –Die Abenteuer und Irrfahrten eines seelischen Vivisectors zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ! […] Ich trete ans Fenster um meinen Nerven die schaurige Lust der Isolation wieder einzuflößen.
[tbc]