Niederschlag

In den Jahren, in welchen Lord Byron in Venedig wohnte, umgab die Steine dieser Stadt (unter österreichisch-ungarischer Verwaltung) eine gewisse Morbidität. Die hohen Palazzi, die differenzierte Landschaft aus See und Gebäuden, war für eine Bezirksstadt des Habsburgerreiches eine Übertreibung. Und doch ging für den Dichter ein mächtiger Atem aus von den (scheinbar intakten) Ruinen. Das antike Rom hat, so definiert es Byron, in Venedig 1500 Jahre überlebt. Eine Republik aus Wasserstraßen, Statuen und Gesetzen. In dieser Zeit entstand aus der agrarisch-soldatischen Macht Roms eine städtisch-kaufmännische Zentrale: voraus die Schiffe, ihnen folgt Buchhaltung, dieser das PRINZIP SCHRIFTLICHKEIT, zuletzt folgen Wissenschaft, Poetik und Philosophie.

Alexander Kluge: Venedig, das vierte Rom (nach Byzanz, Moskau). In: Ders., Ben Lerner: Schnee über Venedig. Leipzig: Spector Books 2018, S. 254

Was Kluge bündig zusammenfasst, ist – siehe Spanien und die Americas – das Prinzip der Kolonialverwaltung meerschäumender und wellenbrechender Mächte (zumal der westliche ›Zivilisation bringenden‹). Bei landtretenden Kolonisatoren geht es anders her (und nicht selten sind hierbei die Übernahme von Buchhaltungen und die Zerschlagung von Schriftlichkeit Prinzipien des als ›eigen‹ definierten ökonomisch-militärischen Auswertungssysstems).