Sobald der Äquator der Geschichte überschritten ist, muß das bisher Verschwiegene in allen Einzelheiten aufs eindringlichste ausgesprochen werden, ja, eigentlich sollte nur noch darüber gesprochen werden. Jetzt tritt es isoliert und strahlend in Erscheinung. So, wie das geschwätzige Protokoll Sades die hierogame Wolke verdrängt, so tritt die Schlachtung des Wals an die Stelle der Stummheit des Brahmanen angesichts des erdrosselten Opfers. Die Pornographie hat weniger mit dem Eros als mit einem gottgegebenen Auftrag zu tun: Alles Versteckte muß enthüllt werden, die geheimen Sprachen müssen wieder unlesbar werden, allerdings nicht aufgrund ihrer Verborgenheit, sondern weil sie vor aller Augen ausgebreitet und inzwischen beinahe ein Teil der Landschaft geworden sind. Die 120 Tage von Sodom legen eine Reihenfolge fest, die im kombinatorischen Himmel des Begriffs die weitestgehende Annäherung an die Periodizität des Tierkreises darstellt. Auch die Such nach Moby Dick durchläuft wieder den Zyklus der Konstellationen, bis sich Ahab auf den letzten Akt der Jagd vorbereitet, als er voller Wut auf den Quadranten und damit auf das letzte Zeichen der Himmelsabhängigkeit tritt. Im Mittelpunkt dieser beiden frevelhaften Kreise steht die Epiphanie der Tötung. Bei Sade werden die durch die Exzesse der Libertins verunstalteten Mädchen von Minski, dem Ungeheuer aus Moskau, in den Hof der wilden Tiere geworfen und dort »in weniger als drei Minuten verschlungen«. Juliette, die dabei zuschaut, versichert: »Je n’ai de ma vie perdu de foutre plus lubriquement.« Melville geht weit darüber hinaus. Während Sade nur flüchtig auf das versehrte Fleisch hinweist, um dann sogleich auf seine ruchlosen, wortreichen und vom erlebten Anblick zusätzlich erhitzten Tiraden zurückzukommen, erhebt Melville die Literatur zur Schlächterei, läßt sie eine unerhörte Schwelle überschreiten und drängt dem Papier ein Geschehen auf, von dem wir immer schon gewußt, aber stets gemeint haben, es spiele sich außerhalb des Blickfelds und jenseits der Worte ab. »Die elfenbeinfarbene ›Pequod‹ wurde in ein Schlachthaus verwandelt, und jeder Seemann in einen Metzger.« Die Literatur war zwar dem Opferkult entsprossen, aber den Akt der Schlächterei hatte sie noch nie geschildert, sondern war stets als um diese Leere gewundene Labyrinth-Girlande aufgetreten. Bei Melville wird die Abschlachtung sogar in den Mittelpunkt des Buches gerückt. Die tayloristische Fabrik, die schon von Sade durch die Ordnung der gräßlichen Rhythmen seiner 120 Tage beschworen wird, tritt jetzt bei der Arbeit der Zerteilung des Wals wieder zutage und wird mit der gleichen gierigen Aufmerksamkeit geschildert, mit der Marcel den festlichen Ball der Guermantes beschreibt, nur daß sich das Geschehen hier unter südlichem Licht und inmitten des Gestanks und der betäubenden Düfte des riesigen Kadavers abspielt. Meer und Himmel mit ihrer Gleichgültigkeit umgeben nun ebenso wie die grenzenlose Unermeßlichkeit des Raums die Schlächterei, die sich in der Stadt hinter Zementmauern verbirgt und nun wieder zu einer sorgsamen Trennung der kosmischen Elemente wird. Sogar das Ursprungsprinzip, die Arché, wird hier greifbar, als der wilde Tashtego in Todesgefahr gerät und beinahe »erstickt im weißesten und erlesensten der duftenden Walrate – eingesargt, aufgebahrt und begraben im geheimsten Innenraum und Sanctum sanctorum des Wales«. Dieser Sturz in das »Honighaupt Platons« ist ein Bild des süßesten Todes. Nach Beendigung der Zerlegungsarbeit und sobald dem getöteten Tier alles Verwendbare entnommen und sein kopfloser Rumpf von neuem dem Wasser überlassen wurde, ist das, was schließlich wieder zum Vorschein kommt, etwas Unerschöpfliches, Untilgbares, ein »weißes Gespenst«, dem die Messer der Menschen nichts mehr anhaben können, ja nicht einmal die Schnäbel der Vögel und die Zähne der Haifische, die sich sonst mit den Menschen abwechseln in der ewigen »Aasgeierei dieser Welt«. Das weiße, kopflose Gerippe entfernt sich auf dem Wasser, bald sehen wir es unter dem Namen Moby Dick wieder […].
Roberto Calasso: Der Untergang von Kasch. Übers. v. Joachim Schulte u. Reimar Klein. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2016 (stb 4699), S. 252–254.