Staatscharakter

Der Staatscharakter Kakaniens war ein sanfter und gemäßigter. Ein Kranz von Pulvertürmen umgab jede größere Stadt, in denen die Armee ihre Schießvorräte aufbewahrte, groß genug, um bei einem Blitzschlag ein ganzes Stadtviertel in Trümmer zu legen; aber bei jedem Pulverturm war durch eine Schildwache und einen schwarzgelben Schlagbaum dafür vorgesorgt, daß die Bürger kein Unheil anrichteten. Die Polizei war mit Säbeln ausgestattet, die so lang waren wie die der Offiziere. In die neuen Stadtviertel hatte der Staat, schon ehe sie so weit ausgedehnt waren, weit vorausblickend, Militärspitäler, Monturdepots und Trainkasernen gelegt, deren riesige Rechtecke der städtischen Ordnung einen gewissen Halt gaben, und eine Beamtenarmee in langschössigen Uniformen amtierte in großen Amtskasernen oder früheren Klöstern. Man darf alles das nicht für Militarismus halten, dessen man Kakanien bezichtigt hat, es war nur Ordnung. Diese Ordnung, irgendwann, unter Franz I. oder Ferdinand I. planmäßig entstanden, aber inzwischen zu einer Landschaft und Natur geworden, gab der Franzisko-Josephinischen Ära ihr Gepräge. Ganz bestimmt hätten bei längerer Dauer auch noch die Geistlichen Säbel bekommen, da die Universitätsprofessoren doch schon welche hatten; aber man sah eben im Säbel nichts anderes als eine unentbehrliche geistige Waffe.
Trotzdem war dieser gemäßigte Staat der Schauplatz erbitterter Kämpfe. Bisher ist nur von den deutschen Bewohnern die Rede gewesen, aber es gab, wenn man von den Offizieren und Beamten absieht, beinahe ebensoviel Tschechen wie Deutsche in B. und außerdem war es die Hauptstadt einer Provinz, in der doppelt soviel Tschechen wie Deutsche lebten. Es ist nicht üblich, in einer Dichtung von solchen Fragen in Zahlen zu sprechen, denn wenn es überhaupt geschieht, daß man die Politik berührt, so spricht man nur von ihren Leidenschaften; allein, am Grund der Leidenschaften ruhen sehr oft Zahlen, und besonders bei Politikern. Und schließlich ist das dauernde Unvermögen der Deutschen und Tschechen, sich miteinander zu vertragen, zwar nicht mit den anderen großen Weltspannungen zu vergleichen gewesen, wohl aber hat es hauptsächlich dazu beigetragen, in Österreich jenen Krankheitszustand zu schaffen, der den Kriegspolitikern außerhalb und innerhalb Kakaniens Mut zu dem großen chirurgischen Eingriff machte, oder wenn man es so lieber hat, sie vor den ernsten Entschluß zu einem solchen stellte. Die geschilderte Stadt hatte also nicht nur die Ehre, der Geburtsort des friedliebenden Lyrikers Feuermaul zu sein, sondern man darf ihr auch nachrühmen, daß sie ein Herd des Weltkriegs war.

Robert Musil: Die Stadt B. In: Gesamtausgabe Bd. 6: Der Mann ohne Eigenschaften Bd. 6. Hg. v. Walter Fanta. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2018, S. 547–558, hier: S. 552–554.
Nachlassblätter: VII/1/54 (1. Absatz, den Musil mit dem Bleistift und »provokáce!« beschließt) und VII/1/58. (Vorstufe dazu u.a.: II/8/233)