Paraakten

Betr. Paragraphen und Akten: Parallelaktionen, Paratexte und Paraakten.

Der SFB 1472 »Transformationen des Populären« Populäre Kulturen veranstaltet von 4.–6. Oktober 2023 die Jahrestagung über Paratexte des Populären; der Call for Papers ist publiziert – bis zum 15. Februar 2023 sind Vorschläge/Einreichungen erbeten. (Das Ganze gibt es auch auf Englisch nachzulesen.) Das gegenständliche Projekt meinerseits, die Arbeit, hat nicht wenig mit Kooperationen – auch und gerade mit der Universität Siegen – zu tun. Das zur Vorbemerkung (und die CfP-Lektüre empfiehlt sich m.E., eine Einreichung ohnehin; in Siegen kann man noch etwas lernen – und selber beizutragen versuchen).

Es geht in der Folge nicht um eine Parodie (Para Ode), schon eher um eine Parallelaktion, die Erprobung eines Gedankengangs (die laufende Selbstbefragung, ob man das jetzt wirklich weitermachen wolle, Absatz für Absatz, als Kritikfähigkeit erster Ordnung), jedenfalls um ein Weiterdenken von Gesprächen (in gewisser Weise auch dies Paratexte) im Zusammenhang mit bzw. im Umfeld von Akte/n 1. (Akte/n 2 2./3.2. in Siegen [sic], Akte/n 3 9./10.2. in Berlin.) Kultur- und Medientechniken, Medientheorien betreffend die Verwaltung, die Zentralstellen, das Amt. Worüber nicht gesprochen und geschrieben wird (außer in der Literatur, auch der Film kann davon erzählen etc.) ist das Informelle, das was nicht sein darf und doch unabwendbar gewesen sein wird, solange es das Personal gibt. (Sind dann erstmal die Techniker:innen allein am Werk, die eine KI wie eine Sonde in die Aktenberge schicken, wird die Rechtssicherheit zur Unkenntlichkeit verschrammt worden sein, aber hey!, Digitalisierung!)

Was ich mir denke (dachte, als ich da mutierte und montierte – zu vergleichen sind der CfP [für den ich dankbar bin und den ich usurpiere; Blutsaugen ist die erste Amtspflicht nach Stokers Dracula, der viel mehr Bürokratieroman war als Kittler noch provozierend zu formulieren suchte] und die nachstehende Textierung), setzte und einfügte (möglichst ohne es zu verändern, was da ganz richtig ausgegeben wurde): das Informelle. Wie lässt sich das Informelle, das mit eines der wesentlichen Schmiermittel des Verwaltungsapparats ist, beschreiben, wie kann darüber nachgedacht werden (ohne dass jemand auszuckt, weil entweder Betriebsgeheimnis verraten oder es kann nicht sein was nicht sein darf)? Der CfP des SFB Populäre Kulturen legt den Gedanken an eine Lösung nahe. Paratexte bzw. Paraakten. (Ich gehe nicht so weit, umfänglich an Musil und die Parallelaktion einschließlich deren vice-versa-Prinzipien erinnern zu müssen … das mit zu bedenken versteht sich ja von selbst.) Dazu fügt sich das, was im Aktenlauf sonst noch passiert bzw. passieren wird und worüber dann niemand mehr reden kann, weil eine Oberfläche versiegelt wurde (derart, dass alles bisher erlebte seit Xerox’ Star-Programm wie ein müder Witz der Digitalisierungsgeschichte sich ausnimmt): was in den neuen Dokumentenmanagementsystemen, bei den Verknüpfungen von Datenbanken und Algorithmen der Fall sein wird: kein Subtext, kein Paratext, keine Unterentscheidung. Was dort mit KI und DMS wie CMS vom Dashboard der Vertragsbediensteten aus scheinbar gesteuert laufen soll, wird zwangsläufig eine Spezifik entwickeln, die neue Rätseln aufwerfen wird. Das Reden darüber hatten wir bei Akte/n 1 noch mitbekommen (etwa in den Vorträgen von Dirk Baecker und Robert Schlee). Noch haben wir also Paratexte (und natürlich wäre da medientheoretisch erheblich mehr zu sagen und ist Spannendes zu heben!) als Rede darüber, noch können wir über das Informelle als (versuchte) Einflussnahme auf (beispielsweise) Aktenläufe sprechen. Stichwort ›kurze Amtswege‹, zusätzliche Recherchen, Einfluss von Sozialgefügen auf Personal, Kanzlei- und Geschäftsordnung vs. polit. Versuche der Einflussnahme, Resilienz und Resistance, Bestechung, nicht protokollierte Anweisungen, Pausengespräche, Kaffeerunden, Vieraugengespräche, Amtsgeheimnisse und Veraktungspflichten, die Entstehung von Entscheidungen etc.


Konferenz des Sonderforschungsbereichs »Transformationen der Verwaltung« (SFB 1492), Universitätenverbund Siegen-Wien, 4.–6. Oktober 2023 – ff. 

Paraakte/n bzw. -texte, wiewohl dem Bereich des Informellen und der zusätzlichen Informationsgewinnung zuzurechnen, geben Akten und mit ihnen vergleichbaren kulturellen Produktionen eine für ihre Rezeption, Produktion und Rekursion bis hin zur Zirkulation, kurz: für ihre Kommunikation unabdingbare Kontur. Das macht sie für die Frage nach den Transformationen der Verwaltung interessant. Bereits Gérard Genette hatte darauf hingewiesen, dass Paratextualität – und hierin so unmittelbar wie Verwaltungsgeschichte koppelnd – zusammen mit der Medienevolution variiert und neue Formen etabliert. Die Forschungsdiskussion der letzten Jahrzehnte hat diesen Hinweis insofern aufgenommen, als sie das Konzept erfolgreich auf den Elektronischen Akt, auch auf den die einer Künstlichen Intelligenz zugeschobene Kontingenz der Dokumentenmanagementsysteme hin bezogen und angepasst hat. In vielfältigen Ansätzen wird daher inzwischen erprobt, prägnante Phänomene der digitalen Ära mit paraakttheoretischen Begriffen zu erfassen: Games, Posts, Widgets und Threads verschiedener Umgebungen, Hypertexte aller Art, mittels CMS-Schnittstellen in die virtuellen Schreibtische und Amtsgebahrungen einzuspielen, gleichzeitig aus diesen heraus unterschiedliche elektronische Formate im Sinne der Kommunikationsreproduktion zu nutzen. War Genettes initialer theoretischer Einsatz fast ausschließlich vom Werk-als-Buch-Paradigma bestimmt und entsprechend autorzentriert, so kommen mit medienhistorischer Differenzierung und dem Einsatz administrativer Algorithmen zunehmend alternative Bezugsgrößen in den Blick. So wie in der Literatur- in der Editionswissenschaft und nicht zuletzt in der Erforschung des Populären versucht wird, im Hinblick auf Zeitungen und Zeitschriften, Briefe und Miszellaneen die jeweils gegebene Text-Paratext-Relation begrifflich neu zu fassen, geht auch die kultur- und medientheoretisch orientierte Verwaltungsforschung davon aus, dass die Akt-Paratexte bzw. -akten-Relation begrifflich und strukturell weiter und schärfer zu denken sein wird. Zwischenzeitlich sind vor allem Untersuchungen epitextueller Phänomene im Amt und den Zentralstellen dazu übergegangen, ihrem Gegenstand Aktstatus zuzuschreiben, das heißt auch ihn auf Paratexte zweiter Ordnung – was mit der Rede von Verwaltungsmedien als Medien zweiter Ordnung korrespondiert – hin zu analysieren. Im Zuge solcher Forschungstendenzen löst sich die in der ursprünglichen Konzeption scheinbar ohne weiteres vorausgesetzte Differenz von Text und Paratext in eine relational komplexe paratextuelle Amtsarchitektur und Aktenverlaufsstruktur hinein auf – womöglich bis hin zur Inversion der Unter-, d.h. der Entscheidung.

Entgegen einem Begriffsverständnis, das Paratexte bzw. -akte als umstandslos, das heißt unbeschadet des von ihnen eingefassten Textes ablösbare Randstücke auffasst, empfiehlt es sich, sie als Parerga im Sinne Jacques Derridas ernstzunehmen. Als solche bleiben sie weder in der peri- noch in der epitextuellen Dimension den von ihnen gerahmten Sachverhaltsdarstellungen gegenüber äußerlich. Stattdessen sind sie ihnen eventuell bis in ihre materiale Faktur hinein eingewoben. Wenigstens der Möglichkeit nach prägt also der heteronome paratextuelle Hilfsdiskurs die autonome Gestalt des Aktes ebenso mit wie vice versa. Kurz: selbst wenn sie die Form von Bildschirmoberflächen oder Umschlägen annehmen, wirken Paratexte doch im Innern des Verpackten, des zu entscheidenden Heart of Content. Mögen viele Paratexte wesentliche Funktionen in Strategien und Taktiken des Marketings erfüllen, das wäre mit Luhmann die politische Grenze der Verwaltung, gehen sie darin doch so wenig auf, dass es sich zu fragen lohnt, ob ihnen im Verhältnis zu ihrem Text nicht die Rolle von Teilen im Verhältnis zum Ganzen zukommt. Das allerdings ist eine Frage, für die es keine Passepartout-Antwort gibt. War es Genettes strukturalistischer Ehrgeiz, eine Art allgemeine Grammatik des Paratexts zu entwerfen, so hat er doch der historisch-hermeneutischen Analyse einzelner paratextueller Erscheinungen das letzte Wort eingeräumt. Auch kritisch-prüfende, seinen Ansatz modifizierende Forschungen tun bis auf weiteres gut daran, ihm hierin zu folgen.

Paratexte unterhalten besondere Beziehungen zu Phänomenen der Verwaltung. Denn in der Zone der Paraaktualität wird ausgehandelt, wie Akten oder andere Amts-Artefakte (AA) in der Öffentlichkeit erscheinen, aufgenommen werden, zirkulieren. Paratexte konturieren also deren Profil parergonal auch nach außen hin. Bereits die frühneuzeitliche Kritik einer »Marktschreyerey der Amtsleut« und noch die in der digitalmedialen Gegenwart nach Fall des Amtsgeheimnisses und Öffnung der Amtsdatenbanken (AD) fällige Beanstandung journaillistischen »Clickbaitings« machen klar, dass es sich hierbei um ein spannungsvolles Verhältnis handeln kann. Andere paratextuelle Formen allerdings rechtfertigen es geradezu, von Paraakten der Verwaltung zu sprechen. Diese bedienen sich einerseits der mitunter bis ins Drastische prägnanten Signifikanten der administrativen Kultur und versuchen andererseits – die Dialektik des Amtes nach Adorno und Horkheimer – selbst solche hervorzubringen. Die Praktiken der massenmedialen Blockbuster-Kultur dürften in dieser Hinsicht nach wie vor das maßgebliche Parallelmodell darstellen. Die für Verwaltung schlechthin konstitutiven Erfolgszahlen verdienen aber auch in weiteren Medien Beachtung: Geschäftszahlen spielen bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts in administrativen Peritexten ihre Rolle; inzwischen sind Aufrufe und Zugriffe, Rekursionen, Clicks und Signaturen registrierende Zählwerke in vielen administrativen Jahresstatistiken geradezu Standard, in sowohl internen ans das Personal wie auch externen an Politik und Publikum gerichteten Reportings sind sie bedeutende Bestandteile des dort programmierten paratextuellen Regimes. Es gibt »Verwaltungspreise«; Staatstafeln, Gemeindeamtsaufsichten, Gehaltstabellen werden mit Angaben zu ihrer Besten- und Bestsellerlistenplatzierung ausgezeichnet und so fort. Peri- und Epitexte werden hierbei nicht selten zu Treibern oder Erzeugern von Verwaltung, quasi Paraakten, indem sie variierend vervielfältigt werden und proliferieren. Dass die Produktionen administrativer Kultur zur Serialität inklinieren, anders wäre Verwaltung nicht denkbar, stellt die von Haus aus auf Einzelwerke zentrierte Paratexttheorie vor besondere Herausforderungen. Das gilt auch für die Selbstverständlichkeit, mit der diese Produktionen neue intermediale und materielle Verbindungen eingehen, in denen die Funktion von Paratexten zu untersuchen wäre. Die zum Thema geplante Konferenz sieht vier Sektionen vor:

  1. Digitaler Akt und Elektronische Signatur
  2. Homeoffice, Smartphone und Digitales Amt
  3. Tablet, Laptop und PC
  4. Digitale Plattformen der Skalierung

In allen genannten und weiteren Hinsichten bleibt für die Forschung sowohl eine enorme Bandbreite paraaktueller Formen zu explorieren als auch teilweise erst neu zu konzeptualisieren.